von Jana, Lesezeit < 5 Minuten
Ich erkannte ihn schon von Weitem. Es war drei Monate her, aber es hätten auch dreißig Jahre sein können, er hatte sich kaum verändert. Diesselbe gebeugte Haltung („Mortimer, verdammt, sitz gerade!“), das zur Seite gestellte Bein, weil ihn das beim Warten angeblich eleganter wirken ließ. Der schlabbrige Pulli, das chaotische zur Seite stehende Haar, denn es sollte nicht zu elegant wirken. Er trug jetzt eine Brille, runde Gläser, silbernes Metallgestell. Als ich näher kam, sah ich die Schlieren darauf. Wie konnte er überhaupt etwas da durch sehen?
„Hey Mort“, begrüßte ich ihn und er lächelte schwach.
„Hey Sis.“
Er tat nicht dergleichen, also ging ich auf ihn zu, schlang die Arme um ihn und drückte ihn an mich. Er schnaufte.
„Hey, ganz ruhig, heftiges Umarmen im Eingangsbereich verboten!“
„Sagt wer?“
„Sage ich, du machst meine ganze Inszenierung kaputt!“
„Die da wäre?“
„Na, der unnahbare, exzentrische, aber unglaublich erfolgreiche Schriftsteller aus New York!“
„Du hast etwas veröffentlicht?“
„Nein, aber das spielt doch keine Rolle! Bitte, lass mich nicht auffliegen!“
Ich lachte, aber würde ihm den Gefallen tun. Ich war genau so ungern hier wie er. Aber es war unmöglich nicht hier zu sein, beim sechzigsten Geburtstag unseres Vaters, ein wohl inszeniertes Spektakel für Verwandschaft, Freunde, Geschäftspartner und den halben Ort. Die einflussreiche Hälfte natürlich.
Ich rechnete nicht damit, dass Mortimer zu seiner Karriere befragt werden würde, zumindest nicht von unserem Vater, dem einzigen hier, für den er diese Inszenierung aufgebaut hatte. Unser Vater hatte eines Nachmittags erklärt, die Fähigkeiten seines Sohnes, irgendetwas aus seinem Leben zu machen, würden in eine Streichholzschachtel passen. Danach hatten die beiden nicht mehr miteinander gesprochen.
Dabei konnte mein Vater gut sprechen. Er tat es gerade wieder, das Glas Champagner in der Hand, vielen Menschen zuprostend, nur nicht seinen eigenen Kindern. Ich fragte mich, ob er uns überhaupt eingeladen hatte oder ob wir das allein unserer Mutter zu verdanken hatten. Mortimer zermalmte Erdnüsse, die als Deko auf dem Tisch lagen.
„Das oder ich erschlage ihn“, murmelte er auf meinen fragenden Blick hin.
„Vergiss ihn doch mal“, erwiderte ich. Er war nicht wichtig. Nicht für mich, nicht für Mortimer, doch mein kleiner Bruder schüttelte den Kopf.
„Es geht nicht mit ihm und nicht ohne ihn“, erklärte er bitter.
Es war die Geschichte seines Lebens und sie würde sich erst Jahre später umschreiben.
Schreibübung – Text inspiriert von Buchtiteln
Erdnüsse. Totschlagen (Ruth Schweikert); Was in die Streichholzschachtel passte (Walle Sayer); Heftiges Umarmen im Eingangsbereich der Pension verboten (Mamen Sanchez)
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