von Gastautorin Nathalie Heil

Valentin machte sich auf den Weg zum See. Es hatte den ganzen Vormittag geregnet und auch wenn die Sonne nun schien, war der Boden matschig. Das senfgelbe Dekor seiner schwarzen Kuhmaulschuhe war nicht mehr zu erkennen, sie waren nahezu völlig braun. Valentin wollte nicht aufsehen, wollte kein Gesicht, keine Menschenseele sehen. Er müsste noch früh genug wieder lächeln. Allein bei dem Gedanken schmerzten seine Wangen. Gelbes und rotes Laub, brauner Matsch. Warum wollte man so einen Nachmittag am See verbringen? Was immer dem Gast gefiel. Wen interessierte schon, was dem Lustknaben gefiel? Am Steg blieb Valentin nichts anderes übrig, als zu warten. Er umklammerte sich selbst. Es war frisch. Warum wollte man so einen Nachmittag am See verbringen? Er sah nicht auf. Rostrote Nebelschwaden über hellglitzerndem Kobalt. Früh genug würde er wieder lächeln müssen. Er ließ seinen Blick in den See fallen in der Hoffnung, er würde darin verschwinden, zu den Kieselsteinen sinken, die sich am Grund befanden. Nicht wieder auftauchen. In Ruhe treiben. Entschlafen. Doch das dunkle Gewässer griff nicht nach ihm, um ihn in die Tiefe zu ziehen. Unnachgiebig hielt es ihm einen Spiegel vor. Einen wabernden, gleißenden Spiegel. Ein blonder, junger Mann, soweit so gut. Glattrasiert, damit er noch jünger wirkte, als er ohnehin schon war. Müde, entsetzlich müde.

Ein so junger Mann sollte nicht so müde sein, nicht zu dieser Stunde. Dafür würde niemand bezahlen.

Kleine Narbe am Auge, verheilte nicht, würde ewig bleiben. Wertlos. Niemand würde dafür bezahlen.

Hängende Mundwinkel. Trauer, bloß nicht weinen, das bringt nichts, hat es noch nie. Müde, kleine Narbe, traurig. Dafür würde niemand bezahlen. Aber sie zahlten, Gott sei Dank. Valentin seufzte. Er wusste, wie er davon ablenken konnte. Er setzte sich sein reizendes Lächeln auf. Verführerisch rot gefärbt vom reflektierenden Laub leuchtete es ihm entgegen. Wellen von der Seite. Es huschte scheußlich verzogen, waberte hin und her.

Grässliches, vernarrtes Funkeln in den Augen. Warum zahlte man dafür? Valentin hätte dafür nicht gezahlt. Reizendes Lächeln. Reizend wie ein Brechreiz.

Ein brauner Leberfleck auf der linken Wange. Wie seine Mutter. Seit Jahren schon konnte er nicht mehr auf ihren Schoß. Ihr Leberfleck war inzwischen bestimmt verwest.

Noch einmal kurz die Muskeln entspannen. Müde, kleine Narbe, traurig, Leberfleck.

Das bin ich.

Der müde, junge Mann sprach Valentin an, mehr als das vernarrt grinsende Zerrbild seiner Selbst, und er wäre gerne zu ihm herabgestiegen, um ihn zu umarmen, in sich aufzunehmen und zu entschlafen. Welch amüsanter Gedanke. Wen interessierte es schon, was er wollte? Das Leben war anstrengend, aber sterben war auch keine Lösung. Was immer dem Gast gefiel. Valentin fuhr sich durchs lange blonde Haar, um es aufzulockern.

Höhnendes Lachen. „Du bist schön genug. Dein Gast ist da.“

Valentin setzte wieder das Lächeln auf und wandte sich um. Manchmal vergaß er, dass der Schläger da war. Leibwache nannte es der Hausherr, Valentin nannte es Schläger. Nur zu seiner Sicherheit. Zur Sicherheit der Investition. Diese war sicher gefährdet. Von außen gefährdet behauptete der Hausherr, aber das war albern. Der Schläger deutete nur ein paar Schritte von Valentin entfernt auf den Steg. Der widerliche Gast reichte ihm die Hand und holte ihn zu sich ins Boot. Valentins unnatürliches Lächeln wurde breiter, als er den Gast anblickte. Er kniff sanft die Augen zusammen, um den Eindruck zu erwecken, sie würden mitlachen.

„Ich liebe dein Lächeln“, sagte der Gast.

Valentin öffnete die Augen. Es war ein Traum gewesen. Seit Jahrhunderten hatte er nicht geträumt. Er war überzeugt gewesen, dass das als Anverwandter gar nicht möglich war. Vielleicht war es aber auch eher eine Wahnvorstellung. So wie die nebelhaften Wachträume seiner Vergangenheit, von denen er genau wusste, dass sie nicht real waren. Gott sei Dank, kam das nur selten vor. Häufig hatte er sich zu Lebzeiten so gefühlt, wie in seinem Traum. Hätte am liebsten sein Leben gegen ewige Ruhe getauscht. Aber der Traum war nie passiert. Es hatte gar keinen See in der Nähe des Etablissements gegeben und der Hausherr hätte ihn niemals unbeaufsichtigt mit einem Gast mitgeschickt. Wer weiß, ob der Gast ihn zurückgebracht hätte. Wer weiß, vielleicht wäre es dem feingliedrigen und doch für damalige Verhältnisse großen Lustknaben ja auch gelungen zu entfliehen? Hätte Valentin überhaupt entfliehen wollen. Er hatte nichts anderes gekonnt. Das Einzige, dass er gelernt hatte, war gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Dem Gast vorzuspielen, was immer dieser sehen wollte. Inzwischen war das anders.

Nie wieder werde ich lächeln, obwohl mir nicht danach ist.

Neben ihm lag das leere Kissen. Er blickte auf sein Smartphone. Keine Nachricht. Benedikt war noch nicht zurückgekommen. Würde er wahrscheinlich auch nicht mehr. Offenkundig war der letzte Ausraster einer zu viel gewesen.

Warum habe ich ihn nur herausgeworfen? Er hat gesagt, dass er mich liebt. Ich wollte es nicht glauben. Ich war so wütend. Warum habe ich nicht mit ihm geredet? Er wollte immer meine Gefühle sehen.

Valentin nahm das Kissen und drückte es fest an sich. Es roch noch nach Benedikts Aftershave. Das wohlduftende Aftershave mit der anziehenden Bergamotte-Note, das Benedikt immer noch auftrug, obwohl er sich inzwischen nicht mehr rasieren musste. Er tat es bestimmt nur, weil er wusste, wie sehr Valentin diesen Duft liebte.

Wir hätten die Ewigkeit gehabt, das zu klären, und ich habe nur ein paar Minuten gebraucht, um es zu zerstören.

Die blutigroten Tränen tropften auf den Bezug. Sie ruinierten das wohlduftende Kissen. Der Verfall hätte es ohnehin bald vernichtet. Wie er es unerbittlich seit Jahrhunderten tat. Das Einzige, das er verschonte, waren die Anverwandten. Wobei sich sicherlich darüber streiten ließ, ob das wirklich eine Gnade war.