von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

„Müller, Ernst Müller.“ Er streckte die schmale Hand aus, sein Händedruck war unangenehm weich. Er wirkte weder alt noch jung, noch irgendetwas, das sie mit einer Charaktereigenschaft verbunden hätte. Er schien nicht mal wirklich da zu sein. Mit der grauen Hose, dem grauen Hemd. Wie ein verwaschenes Foto aus einer längst vergangenen Zeit.

„Jo“, wiederholte sie. Sie hatte sich nur mit Vornamen vorgestellt, ein offensichtlicher Fauxpas, den sie nun nicht mehr zurücknehmen würde. Sie strich sich nervös über den kratzigen schwarzen Wollrock und unterdrückte die Versuchung, mit der Hand wieder an ihrem viel zu festen Pferdeschwanz zu zupfen. Ihre Füße in den hohen Schuhen schmerzten schon jetzt. Sie hätte auf Anja hören und dass mit der Verkleidung lassen sollen. Kein Job war es wert, dass sie sich folterte.

„Gut, Frau… Jo.“ Müller, Ernst Müller machte eine kaum wahrnehmbare Handbewegung, die Jo großzügig als Aufforderung interpretierte, ihm zu folgen.

Die langen, zwillingsgleichen Gänge waren nur spärlich beleuchtet. Nach mehreren Abzweigungen begann Jo sich zu fragen, wie sie sich jemals zurechtfinden sollte in diesem Reich aus grauem Linoleum und beige-braun-gestrichenen Türen, die ausnahmslos alle verschlossen waren. Ihr Begleiter ging in all dem Grau beinahe unter. Vielleicht war das der Trick. Ihr schauderte bei dem Gedanken.

„Wann lerne ich die anderen Kollegen kennen?“ Müller, Ernst Müller schaute sie irritiert über seine Schulter hinweg an.

„Der Abteilungsleiter wird Sie zu gegebener Zeit vorstellen. Sie wissen ja, Zitronenfalter!“

Zi… was? Nun, bestimmt war es nicht wichtig.

Sie gingen weiter, noch eine Abzweigung, eine Treppe nach oben und einen weiteren Gang entlang, bis sie schließlich vor einer Tür stehen blieben, die sich in nichts von den anderen unterschied. Dann entdeckte Jo das Schild. Die Nummer 345 und ihr Name standen darauf. Sie hatten den Nachnamen falsch geschrieben, wie üblich. Sie fragte sich, ob sie Müller, Ernst Müller darauf aufmerksam machen sollte. Vermutlich würde es ihn völlig aus der Fassung bringen.

„Ihr Büro“, erklärte er unnötigerweise und schloss die Tür auf.

Der Raum war so groß wie ein Handtuch und dunkel wie der Gang, aus dem sie kamen. Das einzige Fenster war vor Vernachlässigung blind. Sie fand den Lichtschalter und eine Neonröhre erwachte unter angestrengtem Flackern zum Leben. Sie erleuchtete einen Schreibtisch, der den Raum fast vollständig ausfüllte. Darauf stand ein Röhrenbildschirm; Tastatur und Aktenstapel schliefen unter einer Staubschicht von zwei Zentimetern. Doch Jo fiel vor allem ein seltsames Gerät neben dem antiken Bildschirm auf, das in diesem Moment anfing rot zu blinken.

„Was…?“, begann sie.

„Entschuldigen Sie die alte Ausrüstung“, sagte Müller, Ernst Müller. „Der Kollege von der IT kommt heute noch vorbei und Ende nächster Woche sollte auch das neue Telefon kommen. Materialausgabe ist immer mittwochs 8 Uhr im ersten Stock. Ich schlage vor, Sie lesen sich ein“, er deutete auf einen der verstaubten Stapel, „und wenn Sie Fragen haben, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.“

Nein, weiß ich nicht, dachte Jo, doch die Akten würde sie ohnehin nicht anfassen, bevor sie sich von irgendwoher eine Schutzausrüstung besorgt hatte.

„Was ist das?“, fragte sie und deutete auf die seltsame Maschine auf dem Schreibtisch.

„Ein Fernkopierer.“

„Ein…?“

„Fern.Ko.Pie.Rer. Ihre Generation nennt es möglicherweise Faxgerät.“

Ihre Generation nannte es E-Mail und verschickte damit Anhänge, ein Fax besaß vielleicht noch ihre Großmutter.

„Es blinkt“, stellte sie fest. Müller, Ernst Müller zuckte mit den Schultern.

„Es ist defekt. Seit der Kollege vor Ihnen uns verlassen hat, sendet es ständig Zahlenfolgen, niemand weiß, was sie bedeuten oder wer sie sendet.“ Als hätte das Fax auf diese Worte gewartet, begann plötzlich ein ohrenbetäubendes Fiepen und Rattern und wie in Zeitlupe schob sich ein bedrucktes Blatt Papier aus dem Gerät. Niemand rührte sich. Als es wieder still wurde, räusperte Müller, Ernst Müller sich. „Ignorieren Sie es einfach. Die IT kümmert sich darum.“

„Seit wann denn?“ Sie hatte die Frage, die die Staubschicht ihr in den Mund gelegt hatte, eigentlich nicht laut stellen wollen.

„Drei Jahre… vielleicht auch fünf.“

„Oh…“

„Nun denn, einen guten Start!“

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