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Zerknülltes Papier
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Die kleine Kolumne über die Tücken des (Roman-) Schreibens

von Jana, Lesezeit < 10 Minuten

Kapitel 5 – Was komisch klingt, kann weg.

Es diskutieren die Autorin (A) und zwei ihrer Romanfiguren: Eleonore (E) und Damian (D), Eltern der Hauptfigur Jule. Die beiden haben sich scheiden lassen, als Jule fünf war (mittlerweile ist sie Mitte zwanzig). Eleonore war zwischenzeitlich noch drei weitere Male verheiratet.

„Draußen blendet mich die Sonne, doch die Wärme tut mir gut. Ich atme tief ein, um den Schwindel zu vertreiben. Mein Magen knurrt und ich muss mich der Tatsache stellen, dass ich etwas essen sollte. Dann müsste ich Dr. Jacobi auch nicht allzu sehr bezüglich meiner Essgewohnheiten anlügen.
In einem Café auf dem Weg hole ich mir ein belegtes Brötchen, einen Kakao und noch eine Flasche Wasser. Ich esse und trinke im Gehen, denn ich möchte vermeiden, mich zu setzen und nachzudenken. In den letzten zwei Tagen hatte ich einen Nervenzusammenbruch, habe meine tote Geliebte gesehen und geträumt, ich könne an einem Ort im Zeitstrom die Vergangenheit ändern. Ich bin kein Experte, aber ich habe nicht das Gefühl, dass es mir gut geht.“

A: Also ich hasse diesen Absatz. Beide Absätze, um genau zu sein.
E: Das finde ich beruhigend. Sie sind auch furchtbar.
A: Herzlichen Dank auch.
E: Ich bin nur ehrlich!
D: Ja, El, das bist du, aber ich glaube, die Autorin meint, sie hätte gerne einen konstruktiven Beitrag.
E: Bitte, tue dir keinen Zwang an!
D: Ich finde, beide Absätze wirken völlig verkrampft. Aber ich finde auch, dass das an dieser Stelle gar nicht unglaubwürdig ist. Jule steht gerade völlig unter Spannung, kann sich aber nicht damit auseinandersetzen, weil sie zu Jacobi muss. Dem soll sie eigentlich alles anvertrauen, kann es aber selbst noch gar nicht in Worte fassen. Sie würde gerne innehalten, muss aber weiterlaufen und unter diesem Aspekt passen die beiden Absätze vermutlich sogar ziemlich gut zu ihrem Innenleben.
E: Wow, ich bin beeindruckt. Das klingt sogar logisch. Trotzdem sind sie furchtbar!
A: Ja, finde ich auch.
D: Vielleicht kann man ihr chaotisches Innenleben einfach anders darstellen? Man könnte es auf die Spitze treiben, dann wird dem Lesenden klarer, dass es gerade nicht um Information, sondern um Zustand geht.
A: Das ist ein guter Aspekt! Denn dass sie Hunger hat, ist ja wirklich nicht die Info des Jahrhunderts.
E: Auch den Termin könnte man weglassen.
D: Du könntest tatsächlich beide Absätze auch ganz streichen. Dann bedankt sie sich bei der Empfangsdame und sitzt im nächsten Moment bei Jacobi. Das hast du ja schon angekündigt, den Übergang braucht es also gar nicht.
A: Das ist vermutlich die beste Idee. Alles, was komisch klingt, kann auch weg. Immer noch der beste Ratschlag, den ich je bekommen habe.
D: Von wem eigentlich? Waren wir das?
A: Nein, hat mal meine Chefin zu mir gesagt. Passt aber für Büro-Schreiben so gut wie für alles andere.
E: Schade, ich hätte einen modernen Gedankenstrom-Ansatz auch interessant gefunden. Draußen… die Sonne, Wärme im Gesicht, im Bauch, vom Kakao, schnell noch etwas essen, um die Lüge zu vermeiden. Etc. pp.
A: Klingt irgendwie… nach einem Gedicht.
D: Was du ja gar nicht schreibst.
E: Natürlich nicht! Es war auch kein ernsthafter Vorschlag.
A: Also streichen?
E/D: Streichen!

 

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Die kleine Kolumne über die Tücken des (Roman)-Schreibens

von Jana, Lesezeit < 10 Minuten

Kapitel 4 – Alle gegen die Hauptfigur

Es diskutieren die Autorin (A) und zwei ihrer Romanfiguren: Eleonore (E) und Damian (D), Eltern der Hauptfigur Jule. Die beiden haben sich scheiden lassen, als Jule fünf war (mittlerweile ist sie Mitte zwanzig). Eleonore war zwischenzeitlich noch drei weitere Male verheiratet.

A pfeift fröhlich vor sich hin.
E: Ich finde eigentlich nicht, dass du Anlass zu guter Laune hast. Die Szene ist grässlich!
A: Warum du das sagst, weiß ich. Immerhin schmeißt dich Jules Therapeut raus. Aber erstens kommt die Szene sowieso nicht in den Roman, weil sie Backstory ist und zweitens: Ich liebe sie! Jule hat endlich einen Mentor. Einen ECHTEN Mentor.
E: Ich bin ihre Mutter! Wenn jemand ein Mentor sein könnte, dann ja wohl ich.
A: Nee, ich glaube nicht. Du hast nicht Jule im Blick.
E: Bitte?!
A: In eurer Konstellation gibt es nur die Rollen Mutter und Tochter, aber Jule ist mehr als das. Und gerade für den Roman muss sie sich aus der Rolle Tochter lösen und sie selbst werden. Und sie dabei zu unterstützen, darin bist du ehrlich gesagt… ähm… na ja.
E: Sag mal, spinnst du?! Ich bin eine erfolgreiche selbstständige Unternehmerin. Ich war die letzten Monate pausenlos für Jule da! Und ich…
D: Entschuldigung, wenn ich auch mal was dazu sagen darf. Ich finde, Eleonore hat Recht. Also, ja, vielleicht ist ihr Blick etwas beschränkt, aber sollten Eltern nicht die perfekten Mentoren sein?
A: Ernsthaft? Ausgerechnet du?
D: Wieso? Was ist falsch mit mir?!
E: Willst du es chronologisch oder nach Sachthemen sortiert? Ich gebe ihr völlig recht, du bist ein beschissener Mentor!
D: Hey, ich bin der EINZIGE, der sie mir ihren Kräften vertraut machen kann.
E: Das ist auch der EINZIGE Grund, warum du überhaupt mitspielst.
A (flüstert E zu): Außerdem ist er an allem schuld.
E: Oh richtig, ich vergaß: Du bist an allem schuld.
D: Das ist unfair! Ich wollte dir gerade beistehen.
A: Es war doch deine Idee, mir Dr. Jacobi genauer anzuschauen.
D: Ja schon, aber ihn gleich zum Mentor zu befördern!
A: Eigentlich ist es mir völlig egal, was ihr dazu sagt. Ich habe endlich eine Figur, die Jule um ihrer selbst willen unterstützt. Keine Kräfte, keine falsch platzierten Gefühle, keine Machtspielchen, keine Weltzerstörungspläne! Es soll ihr einfach nur gut gehen!
E: Dir ist klar, dass er sterben muss?
A: WAS??
E: Oder wenigstens aus der Gleichung genommen werden muss. Schätzchen, du schreibst einen Roman, da geht es um Konflikte! Niemand will lesen, dass es der Hauptfigur gut geht.
D: Und wieder frage ich mich, wie du als ihre Mutter…
E: Hey, ich spiele eben die Rolle, die man mir zugedacht hat, und ich spiele sie gut. Glaub nur nicht, dass du besser wegkommst. Du belügst sie die ganze Zeit und außerdem bist du…
D: …an allem schuld. Ich habe es kapiert.
A: Ich will nicht, dass Jacobi stirbt. Ich will, dass irgendetwas in Jules Leben funktioniert!
E/D: …
A: Kapitel 6 ist wohl eindeutig zu früh dafür.
E/D: …
A: Deswegen lügt sie ihn auch an und kann ihm nicht vertrauen. Jetzt macht das Sinn.
E/D: …
A: Ich hasse diese Kolumne. Warum genau mache ich das?
E/D: …

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Die kleine Kolumne über die Tücken des (Roman)-Schreibens

von Jana, Lesezeit < 10 Minuten

Kapitel 3: Schreibblockade

Es diskutieren die Autorin (A) und zwei ihrer Romanfiguren: Eleonore (E) und Damian (D), Eltern der Hauptfigur Jule. Die beiden haben sich scheiden lassen, als Jule fünf war (mittlerweile ist sie Mitte zwanzig). Eleonore war zwischenzeitlich noch drei weitere Male verheiratet.

E: *Hust*, ist das staubig hier!
D (zieht sich eine Spinnwebe aus den Haaren): Scheint lange keiner mehr hier gewesen zu sein.
A (jault laut auf): Jaaaa, das weiß ich selbst! Okay! Ich versuche es. Ich versuche es wirklich! ABER MIR FÄLLT GERADE NICHTS EIN! ES IST FURCHTBAR, OKAY????
E: Alles gut, Schätzchen. Kein Grund, uns ertauben zu lassen.
D: Und ich dachte, es gäbe einen Plot?
A: Der nützt mir nichts. Ich… ich hasse ihn, okay! Die Linie ist klar, aber trotzdem gibt es so viele Möglichkeiten. Jule könnte den Albtraum jetzt haben oder später. Die nächste Figur könnte jetzt auftauchen oder später. Dann das Archiv: Mache ich das jetzt oder geht sie als Nächstes einfach nach Hause und heult, weil sie feststellt, dass sie unfähig ist, einen längeren Text als eine beschissene zweiseitige Kurzgeschichte zu schr…
E: Entschuldige, aber ich glaube, wir sind nicht mehr so ganz beim Thema.
D: Du musst dich ein bisschen entspannen. Hast du nicht, also ich weiß nicht, so eine Art Bauchgefühl?
A: Ja. Habe ich. Normalerweise. Aber es ist weg. Weg. Finito. Ich sitze da. Ich starre den Bildschirm an. Und ich hasse. Mein. Roman. Projekt.
E: Nein, das tust du nicht. Du hast nur eine kleine Durststrecke. Sowas passiert!
A: Aber es ist nicht nur der Roman. Es ist alles. Schreiben macht mir keinen Spaß mehr. Egal, was ich schreiben will. Nichts geht mehr. Ich habe meine Passion verloren. Mein Leben ist vorbei.
D: Bestimmt nicht. Ich sehe das wie Eleonore, du brauchst einfach mal eine Pause und dann kommt die Lust von ganz allein wieder. Schreiben ist doch, was dich ausmacht. Das merke ich dir an. Und El geht es genau so, nicht wahr?
E: Absolut! Schätzchen, wo wären wir denn ohne dich?
A: Meint ihr wirklich?
E: Klar doch! Wie wäre es, wenn du erstmal deinen Anfang überarbeitest, wenn weiterschreiben gerade hakt?
A: Du meinst, das berühmte Kapitel 2?
E (seufzt): Wenn es dir hilft, sogar das.
A: Aber was, wenn ich den Anfang lese und ihn furchtbar finde?
D: Was, wenn du ihn großartig findest?
E: Wir könnten uns bei passabel treffen. Das wäre wenigstens realistisch.
D (murmelt leise): Die Optimistin in Person.
E: Das war nicht leise genug. (Tritt ihm auf den Fuß.)
D: Autsch!
E: Du könntest auch eine Szene schreiben, die gar nicht im Roman vorkommt, aber dich irgendwie beflügelt.
A: Und die wäre?
E: Ähm…
D: Also ich hätte da eine Idee! Soweit ich weiß, hängst du doch gerade an der Therapiesitzung?
A: Ja, genau.
D: Weißt du eigentlich, wie Jules erste Sitzung ablief?
A: Nicht wirklich. Ich habe vage Andeutungen im Kopf.
D: Schreib die! Denn zufällig weiß ich, dass El…
E: Untersteh dich! Woher weißt du überhaupt davon? Du warst nicht dabei! Wenn ich mich recht erinnere, warst du nicht mal in der Stadt! Überhaupt spielst du im Roman noch gar nicht mit – (blickt zu A): Wieso ist er überhaupt schon entwickelt?!
A: Ähm, weil… weil…
D: …sie mich für Hintergrundinfos brauchte…
A: …die am Ende alle gelogen waren.
D: Wir haben schon wieder den Faden verloren. Es ging um Schreibblockaden.
E: Also ich finde, wir sind genau richtig!

Fortsetzung folgt. Vielleicht 😉

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Die kleine Kolumne über die Tücken des (Roman)-Schreibens

von Jana, Lesezeit < 10 Minuten

Kapitel 2: Spannungsbogen

Es diskutieren die Autorin (A) und zwei ihrer Romanfiguren: Eleonore (E) und Damian (D), Eltern der Hauptfigur Jule. Die beiden haben sich scheiden lassen, als Jule fünf war (mittlerweile ist sie Mitte zwanzig).

A: Kapitel 2, Überarbeitung Nr. 57, zumindest gefühlt.
E: Oh, bitte, lass es!
A: Wie bitte, wieso?
E: Weil es nicht besser werden wird. Es sei denn, du hast endlich gemerkt, woran es liegt.
D: Woran was liegt?
E: Unsere Klappertastenfrau überarbeitet zum wiederholten Mal Kapitel 2, was gut ist, denn es funktioniert nicht – was sie auch merkt, aber sie merkt nicht, WARUM es nicht funktioniert.
A: Und du weißt das natürlich?!
E: Ja, ich spiele nämlich das ganze Kapitel lang mit und es ist LANGWEILIG.
D: Ich dachte, in Kapitel 2 tötest du mit Sandy fünf Flaschen Champagner? Klingt für mich nicht sehr langweilig… oder hast du verlernt, zu feiern?
E: Sehr witzig! Nein, das bekommen wir sehr gut hin. Allerdings passiert das 1. Im Hintergrund und ist 2. Eine Party eine statische Sache, wenn es 3. Um die Figur geht, die gar nicht mit feiert, nämlich Jule!
D: Das erscheint mir tatsächlich logisch.
A: Ja, du hast Recht, verdammt…
E: Also, was hast du nun vor in Kapitel 2? Noch weitere wenig zielführende innere Monologe über das Verhältnis meiner Tochter zu mir?
A: Ähm… also… ich verweigere die Aussage.
E: Dachte ich mir doch: Lass es!
A: Ja, soweit war ich jetzt auch schon. Aber wie wäre es mit was Konstruktivem?
D: Genau, El, wenn du schon weißt, was nicht funktioniert, was würde denn funktionieren?
E: Für mich? Oh, ein attraktiver Pizzabote!
A/D: Nein!
D: Ging es nicht außerdem um Jule?
E: Für die wäre der auch nicht schlecht!
D: Meine Tochter datet keinen Pizzaboten!
E: Warum nicht? Hast du ein Problem mit Pizzab…?
A: Entschuldigung, können wir bitte zurück zum Thema?! Das Kapitel funktioniert nicht!
E: Das Kapitel ist eigentlich prima, der Spannungsbogen funktioniert nicht!
A: Okay…? Nein, ich kapier es nicht.
E: In Kapitel 1 steht Jule vor Herausforderungen, im zweiten kommt sie nach Hause und bricht zusammen. Entweder du machst das sehr kurz oder sie muss noch irgendetwas überwinden oder erreichen bevor sie zusammenbricht. Da muss noch irgendeine Stufe rein, etwas… keine Ahnung! Du bist doch die Autorin, denk dir was aus! Etwas beschäftigt sie im Kopf und als sie endlich die Lösung hat, fällt ihr auf, dass das jetzt der Triggerpunkt war und bumm!
D: Ich finde es irgendwie befremdlich, wie sachlich du über die Inszenierung des Nervenzusammenbruchs unserer Tochter reden kannst.
E: Oh, komm du mir nicht mit Vorwürfen! Du bist schließlich an allem schuld!
D: Moment mal, ich?!
E: Ja, du…
A: Verzeihung?! Stopp! Anderes Thema. Figurenentwicklung kommt noch.
E/D: …
A: Also, ich denke, ich weiß jetzt, was ich ändern muss. Danke!
E: Na, hoffentlich! Auf noch so eine zähe Überarbeitung habe ich nämlich keine Lust.
D: Vielleicht lässt sie dich ja doch in Kapitel 3 sterben, dann hast du bald deine Ruhe…
E: WTF!!!

Die kleine Kolumne über die Tücken des (Roman-) Schreibens

von Jana, Lesezeit < 10 Minuten

„There are three rules for writing a novel. Unfortunately, no one knows what they are.“ Dieses Zitat von W. Somerset Maugham ist zur Zeit irgendwie mein Leitstern, ich stecke nämlich mittendrin im Roman schreiben (ja, okay, am Anfang). Dabei musste ich feststellen, dass die ganze Theorie aus den unzähligen Schreibkursen und Workshops den Roman nicht alleine schreibt. Tatsächlich weiß ich meistens nicht genau, was ich da eigentlich tue. Zum Glück bekomme ich tatkräftige Unterstützung durch zwei meiner Romanfiguren – ohne die würde das ganze Projekt vermutlich völlig in die Hose gehen.

Kapitel 1: Der erste Satz

Es diskutieren die Autorin (A) und zwei ihrer Romanfiguren: Eleonore (E) und Damian (D), Eltern der Hauptfigur Jule. Die beiden haben sich scheiden lassen, als Jule fünf war (mittlerweile ist sie Mitte zwanzig). Eleonore war zwischenzeitlich noch drei weitere Male verheiratet.

Der erste Satz: „Der Raum ist dunkel und kalt.“

A: Also das ist jetzt natürlich nur der erste Entwurf. Mit irgendetwas muss man ja anfangen.
E: Wer ist „man“? Hoffentlich nicht du, denn ehrlich, Schätzchen, also wenn DAS der Anfang ist…
D: El, jetzt lass sie doch mal. Sie hat ja nicht Unrecht, mit irgendeinem Satz muss der Roman schließlich anfangen.
E: Ja, aber doch nicht mit diesem! „Der Raum ist dunkel und kalt.“ Der erste Satz soll idealerweise den ganzen Roman vorwegnehmen. Wer steht denn bitte auf 500 Seiten dunkel und kalt? Ich jedenfalls nicht!
A: Also den ganzen Roman vorwegnehmen…
D: Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass das…
E: Natürlich geht das! Jorge Amado in „Tote See“: „Die Nacht kam zu früh.“ – Da weiß der Leser ganz genau, was ihn erwartet. Oder Sven Regener in „Wiener Straße“: „Die Tür fiel zu und es war zappenduster.“ – Brilliant, wenn ihr mich fragt.
A: Du liest gerne?
D: Du kennst Sven Regener?
E: Michel mochte ihn.
D: Welcher war das, der mit ohne Haare oder der Langweilige?
E: Als hättest du nicht auch Frauen nach mir gehabt!
A: Verzeihung, aber könnten wir zum Thema zurück?
E: Natürlich, aber was erwartest du, wenn du ausgerechnet UNS beide zur Diskussion bittest?
D: Eleonore, bitte, wir sind doch erwachsen.
A: Eben. Also wäre es wirklich gut, wenn ihr etwas dazu sagen könntet. Zum ersten Satz.
D: Richtig. Ich finde… also immerhin hast du angefangen, das ist ja schon mal… ein Anfang.
E: Wow, also DIESEN literarischen Erguss würde ich mir aufschreiben. Spätestens, wenn du mal deine Autobiografie schreibst, kommt der gut. Er beschreibt super, … ja, auch egal.
A: Was soll das heißen? Was beschreibt er super?
E: Na, der ERSTE Versuch einen Roman zu schreiben, ist das ja auch nicht.
D: Wenn du so weiter machst, wird der hier auch nichts. Wer möchte schon 500 Seiten mit DIR verbringen?
E: Ich bin eine Nebenfigur.
A: Ich könnte sie auch in Kapitel drei sterben lassen.
E: Untersteh dich!
A: Wir waren übrigens beim ersten Satz…
E: …
D: Ich glaube, den ersten Satz solltest du dir ganz am Ende überlegen. Wenn der letzte Satz geschrieben ist, ergibt er sich von selbst. Sollen die beiden nicht zusammenhängen, einen Bogen bilden, oder so*? Und im Moment weißt du doch noch nicht mal, wie es ausgehen soll.
E: Wie jetzt, im Ernst? Gibt es etwa keinen Plot?!
A: Doch, doch, natürlich. Also so weitgehend jedenfalls. Das ist nächste Woche Thema… glaube ich.
E: „Sie betrat den Raum und wusste nicht, wo sie war.“
D: Den finde ich gut… überraschender Weise.
A: Ja, der ist wirklich nicht schlecht. Er nimmt Jules Unsicherheit den Roman über ziemlich gut vorweg.
E: Nicht nur ihre! Eigentlich war der auch ironisch gemeint.
A: Achso. Na ja. Trotzdem danke. Denke ich.

*Anmerkung zu Damians Halbwissen: „Der erste Satz kann nicht geschrieben werden, bevor der letzte Satz geschrieben ist.“ – Joyce Carol Oates, amerikanische Schriftstellerin

 

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von Jana, Lesezeit ca. 10 Min.

!Triggerwarnung für depressive Gedanken

Es gibt diese Tage, da ist die Welt um sie herum in bleiernes Grau getaucht. Farben, Geräusche, Wärme erreichen sie nur durch einen Filter, der ihnen jegliche Bedeutung nimmt. Jegliche Wirkung. Sie könnte mitten unter ihren Freunden sein, mit ihnen lachen, trinken, reden – und würde doch nichts spüren. Sie kann arbeiten, funktionieren, ein wertvoller Teil der Gesellschaft sein, aber sie ist es nicht wirklich. Sie spielt es. Die leere Hülle, die sie gerade durch den Tag bringt, gibt eine oscarreife Performance ihrer Selbst ab. Sie hasst es.

Lass dich nicht so gehen.

Reiß dich zusammen.

Manchmal versucht sie darüber zu sprechen, aber irgendwie kommen die Worte nicht an.

‚Du musst mehr unter Leute gehen`, sagen die Leute dann. ‚Ich habe gehört, laufen hilft total`, sagen die Läufer. ‚Du darfst dich nicht verkriechen`, sagen die Extrovertierten. ‚Du bist ja nicht wirklich krank`, sagen die Gesunden.

Manchmal wünscht sie sich, ihr würde an diesen Tagen ein Bein fehlen oder ein Arm. Damit es offensichtlich ist. Aber das ist es nicht. Und nein, sie will nicht laufen oder unter Leute. Sie will sich ihre Decke über den Kopf ziehen und die Welt draußen lassen.

Sie tut es, als sie endlich zu Hause ist. Die Decke hängt zwar nur über ihren Schultern, aber hier auf ihrem Sofa geht es ihr besser. Und gleichzeitig schlechter. Sie hat Hunger und Durst, doch sie kann sich nicht aufraffen, bis in die Küche zu gehen. Alle Energie, die vielleicht heute morgen noch da war, ist für die Performance draufgegangen. Also sitzt sie nur da, die Hände um Legolas geschlungen, eine selbstgenähte Stoffpuppe. Brauner und grüner Samt, abgenutzt und verblichen und eine körnige Füllung, die gegen schwache Nähte drückt, doch noch ist er heil und sie hält ihn in den Händen wie ein Rettungsseil.

Ihre Schwester hat ihn ihr geschenkt vor vielen Jahren, als es noch in Ordnung war, ein Fangirl zu sein. Als sie beide unsterblich in den unsterblichen Elbenprinzen verliebt waren und ihm trotzdem eine Zukunft mit dem Zwerg wünschten. Das selbstgemalte Comic-Heft muss noch in irgendeiner Kiste liegen. All ihre Fantasie hatten sie hineingesteckt in die Irrungen und Wirrungen zwischen Legolas und Gimli bis beide sich endlich ihre Liebe gestanden, heirateten und kleine Zwelblinge bekamen. Und jetzt? Jetzt hält sich ihre Schwester für erwachsen und behauptet, Fandom sei ein Ableger indischer Mythologie und nicht erstrebenswert. Vielleicht hat sie recht.

Ein lauter Knall dringt aus dem Hausflur. Sie erschrickt, presst Legolas zusammen und spürt, wie die Puppe nachgibt. Ein Strom kleiner Perlen dringt aus dem Stoff, fällt auf Sofa, Boden, Tisch.

Wieder ein Knall.

„DU ELENDES ARSCHLOCH!“, keift eine schrille Frauenstimme. „DU HURENSOHN!“

„Ach, sei staad!“, brüllt ein Mann zurück, „Mid dir red i gar ned, du voglwuide Britschn!“

„Scheißkerl!“

Wieder ein Knall und endlich wird es still. Sie spürt die Taubheit in ihrem rechten Arm, das Zittern ihrer Hand, ihr Atem geht schneller. Sie mag es nicht, wenn geschrien wird, aber das sie etwas spürt, ist ein gutes Zeichen.

Sie besieht sich Legolas` Reste. Die gerissene Naht ist ausgefranzt, der Stoff so dünn und abgenutzt, dass eine Reparatur wohl zum Scheitern verurteilt ist. Die Globuli aus seinem Innern haben sich auf Erkundungsreise gemacht, in die Schale mit dem Dominosteinen, die hart wie Kieselsteine sind. Um den Kerzenstumpf, der Docht im getrockneten Wachs ertrunken, die Dekozweige ebenfalls trocken und braun. Über den restlichen Tisch, die Packung Taschentücher umfließend, auf den Boden, wo sie vom Teppich daran gehindert wurden in jede Ecke des Zimmers zu rollen. Sie stellt sich vor, wie sie aufsteht, in die Küche geht und den Staubsauger holt. Weiß schon, welches Bein sie als erstes auf den Boden setzt. Doch dann bleibt sie doch liegen. Sie hat Hunger, doch um sich an die Dominosteine zu wagen, müsste sie Tee kochen, um sie einzuweichen. Sie umfasst die Reste von Legolas noch fester. Sie fühlt sich so schwer, keine Sackkarre könnte sie jetzt bewegen.

Das Telefon klingelt. Sie rührt sich nicht vom Fleck. Vielleicht ist es ihre Schwester, die von ihrem neuen Job erzählen will. Vielleicht ihre Mutter, die doch angeblich immer spürt, wenn es ihren Töchtern nicht gut geht. Vielleicht ihr Vater, der ihr ein Buch empfehlen will, das er gelesen hat. Vielleicht Luisa, die immer noch ihren Toaster hat. Oder Max, der ihr einen Film ausleihen wollte. Sie wird nicht rangehen können, aber vielleicht bringt die Stimme auf dem Anrufbeantworter sie dazu, aufzustehen. Sie überlegt sich, was sie gerne hören würde, was sie dazu bringen könnte, sich zu bewegen.

„Ihr Anruf kann zurzeit nicht angenommen werden, bitte hinterlassen sie eine Nachricht nach dem Signalton.“

Piep.

 

 

Der Text ist im Rahmen einer Schreibübung entstanden, die folgende Vorgaben hatte: Geschichte mit Wörtern: Globuli, Kerzenstumpf, Dominostein, Sackkarre, Comic-Heft, vogelwild

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von Jana, Lesezeit ca. 7 Min

Für den ersten Teil, die Vorgeschichte von Carmen, klickt Ihr hier.

„Es geht um die Zukunft unserer Welten!“

Die Worte unseres Anführers hallten immer noch laut und schneidend in meinem Kopf. Zusammen mit den wenig hilfreichen Ratschlägen wie „Du musst es schaffen!“ und „Wenn du scheiterst, werden wir alle vergehen.“ Als wüsste ich nicht, wie ernst die Lage war. Als hätte ich nicht erlebt, wie unsere Welten zuerst gerettet wurden und dann doch nach und nach vergangen sind. Weil wir feststellen mussten, dass wir ohne die Riesen nicht leben können. Dass ohne die Riesen das Universum kalt und leer geworden ist und wir im Nichts hängen, ohne Ziel, ohne Perspektive und wir langsam selbst zu Nichts werden.

Ich zupfte nervös an meinem Tarnanzug. Ich hatte meine Welt verlassen müssen, um diesen Auftrag auszuführen. Es war nicht schlimm, sie würde bestehen bleiben, wie alle unsere Welten seit Max Oberon und Clarice Stapleton das neue unzerstörbare Polymer entwickelt hatten. Doch wenn ich erfolgreich wäre, dann hätte ich keine Welt mehr, zu der ich zurückkommen konnte. Diesen Gedanken versuchte ich zu verdrängen, während ich die mit Platanen gesäumte Straße entlang in Richtung des Parks schwebte. Die Sonne schien, Vögel zwitscherten und von irgendwoher drang Lachen an mein Ohr. Ich verstand, warum die alten Riesen manchmal vom Frühling sprachen, den es längst nicht mehr gab. Die Sonne in unserer Zeit ließ zu jeder Jahreszeit die Haut der Riesen verkohlen. Sie lebten jetzt unterirdisch und sie starben. Bald würde es keinen von ihnen mehr geben.

Als ich den Park erreichte, hatte ich keine Mühe, die Zielpersonen zu finden. Unser Anführer hatte mich alte Fotos studieren lassen, doch es wäre nicht nötig gewesen. Die Feier zum ersten Prototyp des neuartigen Polymers fand zentral auf einer großen Wiese statt. Vermeintlich wichtige Riesen standen am Rand und ihre kleineren Exemplare spielten in der Mitte.

Ich erkannte die neuartigen Welten, die wie meine unzerstörbar waren zwischen den herkömmlichen meiner Vorfahren. So zerbrechlich, so leicht zu zerstören. Sie alle waren noch dem Schlund unterworfen gewesen, der ihnen die Luft aussagte und sie nach und nach verschrumpeln ließ. Ein grausames Schicksal, zu dem ich sie nun wieder verurteilen würde. Doch die Gemeinschaft aller Welten hatte entschieden: Lieber ein kurzes Leben als eine ewige Existenz im Nichts eines leeren Universums. Denn es war die Herstellung dieses Polymers gewesen, die den Untergang der Riesen einläutete. Soweit wir es nachforschen konnten, wurde ein Gas bei der Herstellung ausgestoßen, das sich in der Luft mit Kohlendioxid zum schlimmsten Treibhausgas aller Zeiten vermischte und die Erderwärmung um ein Vielfaches beschleunigte.

Noch lachten die kleinen Exemplare und selbst Max und Clarice beobachteten, wie eine Riesin mit blauen Haaren und roter Nase auf einer Welt herumdrückte, um sie zu einem tierähnlichen Objekt umzuformen. Ich zuckte zusammen, solche Schmerzen, die eine zarte Welt empfinden musste, nur zur Freude einer quietschenden Bande Riesen. Ich konnte nicht hinsehen.

Max und Clarice applaudierten, dann mischten sie sich unter die Menge. Ich beobachtete Max, er griff nach einer der alten Welten und betrachtete sie, als würde er verstehen, was er in der Hand hielt. Doch er tat es nicht, würde es nie, denn ich war nicht hier, um ihn etwas zu lehren. Ich schwebte in seine Nähe, dann atmete ich tief durch. Ich musste nur seine Schläfe berühren, so konnte ich seine innere Zentrale stoppen. Von dieser Fähigkeit hatten wir lange nichts gewusst, doch seit wir ewig existierten, hatten wir vieles über die Riesen neu gelernt. Max sank zu Boden, doch ich hatte nicht sorgfältig geplant. Die Welt in seiner Hand wurde unter ihm zerquetscht und zerplatzte. Ich hatte sie zerstört.

xyz
von Carmen 

Dieser Text entstand während des Schreibkurses „Schreib es auf“ im Rahmen der digitalen „Theater Pur“-Veranstaltung der Jugendbildungsstätte Waldmünchen. 
Die Vorgaben:
20 Minuten schreiben
Ein (grüner) Luftballon
überlegen, aus welcher Perspektive wir den Text angehen

Jana und Carmen haben sich im Anschluss an die Übung überlegt, was passiert, wenn sie die beiden, nicht miteinander abgesprochenen Texte, zusammen in ein Erzähl-Universum packen. Herausgekommen ist die folgende Fortsetzungsgeschichte.  Carmens Text macht den Anfang.
Janas Text folgt Donnerstag, 02.12.2021.


Ich bewache den Schlund.
Das Universum ist unruhig heute, durch den Schlund dringen viele Geräusche. Ich höre die große Glocke. Unbekannte Riesen betreten das Universum, sie diskutieren untereinander.
„Beeil dich, Max, der Testlauf beginnt in zwanzig Minuten!“, höre ich eine relativ helle Stimme.
„Wie kann ich helfen?“ Diese Stimme kenne ich, das ist unser Riese. Ihn kann man viel öfter hören, als alle anderen zusammen.

Ich blende das Gespräch aus. Das ist es nicht, das mir Sorgen bereitet, sondern es ist der Schlund selbst. Obwohl wir ihn so fest verschlossen halten, wie nur möglich, schluckt er in letzter Zeit mehr und mehr Luft, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen können.
Seien wir ehrlich, unsere Welt stirbt.

Die Wachposten an den Spiegelflächen berichten Ähnliches. Die Spiegel sind Orte, an der die Wand zum Universum am dünnsten ist. Einst waren sie so glatt und klar, dass wir von dort das ganze weite Universum beobachten konnten: wie es an uns vorbeischwebte, wie sich die anderen Welten um uns drehten. Was für wundersame, unerklärliche Wunder wir beobachten durften.

Einmal habe ich sogar gesehen, wie eine neue Welt entstand: unser Riese – größer und mächtiger, als alle anderen Riesen – nahm von seinem Atem und schenkte ihn dieser neuen Welt. Sie wuchs und wuchs. Fasziniert hingen wir an unseren Spiegeln und beobachteten dieses unfassbare Ereignis. Als unser Riese fertig war, schloss er den Schlund, damit der geschenkte Atem nicht entweichen konnte.
Es war magisch.

Aber meist sehen wir nur, wie die Welten zu Ende gehen. Manche plötzlich mit einem großen Knall, manche siechen einfach vor sich hin, bis sie vergessen sind. So wie wir.

Nach und nach haben sich die Spiegel zusammengezogen, sind schrumpelig geworden und stumpf. Wir sind erblindet, als hätten wir das Recht verloren, die Wunder des Universums zu sehen. Ich weiß, dass es neben uns noch unendlich viele weitere Welten gibt, doch sehen können wir sie schon lange nicht mehr. Schuld ist der Schlund und sein Hunger nach Luft. Er saugt sie aus unser Welt, als würde sie ihm gehören und wir können rein gar nichts dagegen unternehmen.

Die Alten sagen, dass wir nichts tun können – so ist der Lauf der Welt. Der Riese hat es so gemacht, dass die Spiegel uns zeigen, dass unser Weg vorgezeichnet ist. Es ist wichtig, sagen die Alten, dass wir verstehen, was mit uns passiert. Das lehrt uns Demut.

Demut! Ernsthaft?
Was hab ich davon? Ich habe gesehen, wie eine Welt entsteht: ich will keine Demut, ich will neuen Atem.
So etwas gab es noch nie, sagen die Alten, ich würde mich verrennen.
Ich bin nicht bereit, das zu akzeptieren. Wir brauchen neuen Atem.

Die Riesen diskutieren immer noch. Sie sprechen über Ballons – das ist ihr Wort für Welten. Unser Riese scheint aufgebracht:

„Verarschen können Sie sich selbst! Wie meinen Sie das, unzerstörbare Ballons?“
„Wir arbeiten an einem Polymer, durch das Ballons wie diese für immer die Form behalten. Wir brauchen … sagen wir mal zwei Dutzend Ballons für unsere Experimente. In zwanzig Minuten beginnt unsere Kick-Off Party im Park. Drücken Sie uns die Daumen.“
Unser Riese scheint nachzugeben: „Na, wenn Sie meinen…“

Ich horche auf. „Für immer die Form behalten“? Das klingt doch, wie „für immer existieren“, oder etwa nicht?
Ist die Luft schon so dünn geworden, dass ich anfange zu halluzinieren?
Wir mussten da hin, unbedingt. Unsere einzige Chance.

Ohne nachzudenken oder die Alten um Erlaubnis zu bitten, öffne ich den Schlund wieder. Mit einem Quietschen entweicht die wertvolle Luft und schiebt unsere Welt an den anderen vorbei, direkt in die Hände unseres Riesen, der uns an den Unbekannten weiterreicht.

 


Wollt ihr wissen, wie die Geschichte weitergeht?
Wollt ihr wissen, wie Jana die Vorgaben interpretierte?
Fortsetzung findet ihr hier.

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von Jana, Lesezeit ca. 3 Minuten

Es ist nicht völlig dunkel im Innenbad. Licht scheint durch den Lüftungsschlitz in der Tür, genau wie durch den Rahmen. Die Tür schließt nicht komplett ab. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und ich kann das Innenleben meines Bads erkennen. Den Heizkörper, die Toilette, Waschbecken, Wäscheständer. Endlich auch den Block auf meinen Knien. Die Schrift vermutlich nie, auch später nicht im Hellen [Anmerkung: Doch, war überraschend gut zu lesen!]. Was wollte ich hiermit beweisen? Schreiben im Dunkeln?!
Dunkelheit ist gleich Unendlichkeit. Zumindest in meinem Kopf liegen diese zwei Begriffe so nah beieinander. (Liegt vermutlich an Star Trek.) Da ist so viel, was wir nicht sehen. Es macht Angst und doch auch nicht. In der Dunkelheit verschwinde ich selbst auch, zusammen mit den Sorgen und Schrecken. Zumindest in dieser Dunkelheit. Liegt es am Licht, das nur wenige Meter entfernt ist? Das Wissen, dass dort Leben und Alltag ist, während ich nur kurz Pause mache hinter dieser Tür. Eine Auszeit, eine Art innere Einkehr, denn wirklich sehen tue ich gerade ja nur mein Selbst (und ein Stück roten Teppich direkt unter dem Lüftungsschlitz).
Es gibt noch die andere, umfassendere Dunkelheit. Nachts habe ich mich noch nie sicher und neugierig für die Geheimnisse in den Schatten gefühlt, im Gegenteil. Nachts finden mich immer die Monster. Die Dämonen, die sich tagsüber in verborgenen Winkeln meines Kopfes verstecken. Aber auch da hilft das Schreiben. Sind die Ängste erstmal auf dem Papier, werden aus den Dämonen bellende Hunde und im Licht des Tages lästige Mücken. Zumindest meistens.
Es kommt eben doch darauf an, wie hell das Licht ist, das mich am Ende der Dunkelheit erwartet.

 

Hiermit endet die Reihe „Schreiben überall“ erstmal. Auf mittendrin.blog geht es natürlich weiter. Alles Neue erfahrt ihr auf Instagram! Stay tuned, stay safe.

von Jana, Lesezeit < 5 Minuten

„Wir schließen in dreißig Minuten.“ Wie oft sie diesen Satz schon gehört hat. Sie gibt immer die gleiche Antwort („Das macht nichts.“), reicht die Jahreskarte über den Tresen und bekommt sie mit dem Papierticket zurück. Dann an den restlichen Kassen vorbei, geradeaus und nach rechts. Die Sonderausstellung. Letzter Tag.
Sie hat geglaubt, sich lange genug darauf vorbereitet zu haben, auf das Loslassen und doch gibt ihr das rot leuchtende Hinweisschild einen Stich. Sie nickt der Aufsicht kurz zu, geht in die Räume. Im letzten Saal ist die Wand mit den Fotografien. Er ist leer, wie immer um diese Zeit und sie setzt sich auf die mittlere Bank. Von hier aus hat sie den besten Blick.
„Der Künstler begann mit Fotografien.“ Einmal war sie zu einer Führung hier gewesen. „Sie sehen eine Auswahl von Motiven seiner Heimatstadt. Man kann schon an diesen Fotos seinen außergewöhnlichen Blick für Perspektive erkennen. Wenn Sie genau hinsehen…“
Sie hat es sofort erkannt. Das windschiefe Dach, die schmale Regenrinne, die die Vorderfront in der Mitte teilt und auf der Rückseite der Walnussbaum, majestätisch und ausladend überragt er das Hexenhäuschen. So hatten sie es getauft, Hexenhäuschen. Wenn sie die Augen schließt, dringt der Geruch der Küche zu ihr, nach Äpfeln und Moder, tanzen Staubflocken vor ihren Augen im Sonnenlicht, das durch die blankgeputzten Scheiben fällt. Sie fühlt die Stille auf ihren Schultern, die in der guten Stube einzuhalten war, wo ihr Großvater mit der Pfeife im Sessel saß und vor sich hin dachte. Sie spürt das Gras unter ihren Fußsohlen, schmeckt die frisch geknackten Walnüsse auf der Zunge.
Wenn Sie genau hinsehen. Steht dort hinter dem Fenster im ersten Stock nicht jemand? Das Schlafzimmer ihrer Großeltern. Winkt die Person ihr nicht gerade zu? Vielleicht ihre Großmutter als junges Mädchen?
Vielleicht nur ein Schatten, eine optische Täuschung. Das Hexenhäuschen gibt es schon lange nicht mehr.
„Verzeihung, aber wir schließen jetzt.“ Sie hätte das Bild kaufen sollen, vielleicht war das sogar möglich. Oder wenigstens den Ausstellungskatalog, aber sie weiß, sie wird es nicht tun. Sie will die Erinnerungen nicht mitnehmen, zwölf Wochen Ausstellung waren genug.
„Ist gut, danke.“ Sie steht auf und fragt den Aufseher, welches Bild ihm am besten gefällt. Es ist ein Gemälde vom Meer.
„Ein Klassiker, ich weiß, aber es erinnert mich an zu Hause, verstehen Sie?“
Nur zu gut.

 

Diesen Text habe ich auch zu Hause fertig geschrieben. Ich hatte tatsächlich nur dreißig Minuten bis Schließung und habe in dieser Zeit lieber die Atmosphäre mehr auf mich wirken lassen.

von Carmen, Lesezeit ca. 5 Minuten

Der Großonkel wird 80. Ein stolzes Alter und doch ist er das Nesthäkchen. Der kleine Bruder, der nur „unser Günter“ heißt, wenn seine großen Schwestern, darunter meine Oma, 92, ihn meinen.
Heute vormittag habe ich meine Großmutter abgeholt, sie und ihren Rollstuhl eingepackt, und bin eine Stunde lang in die Gegend ihrer Kindheit gefahren.

Die Weinberge, die Bauernhöfe, der Fluss – zu allem hatte sie eine Geschichte zu erzählen.
Diese Kellerei hat einige der Weinberge unserer Familie, meiner Urgroßeltern, aufgekauft.
Dieser Bauernhof, ein windschiefes Gebäude, das aussieht, als hätte es seit Jahren niemand mehr betreten, gehörte einer Familie, deren Söhne im Krieg alle gefallen sind.
Überhaupt der Krieg. Für meine Oma ist er allgegenwärtig. Seine Folgen sind allgegenwärtig – Bauernhöfe, die nicht mehr betrieben worden sind, Familien, die entzweit wurden, Männer und Söhne, deren Verbleib unbekannt ist. Menschen, die sich neu orientieren mussten, denen nichts anderes übrigblieb, als zu improvisieren.
Zwischen den alten Gebäuden, an denen wir vorbeifahren, stehen die neuen Häuser, architektonische, anachronistische Meisterwerke, wunderschön an sich, Landschaftsverschandelungen im Gesamtkonzept.

Wir erreichen eine Gaststätte, wohl ebenso alt wie das Geburtstagskind, gute bürgerliche Küche. Viel Fleisch, viel regionales Gemüse, deftig, herzhaft, lecker. 30 Leute sind eingeladen, namentlich kenne ich eine Handvoll. Von den Geschwistern gibt es noch drei. Vor zwei Jahren waren es noch sechs, fünf Schwestern und unser Günter. Mit Ausnahme des Nesthäkchens sind und waren alle über 85.
Langlebige Gene.

Nun feiert der Jüngste und wünscht sich, in 10 Jahren seinen 90. auch mit seinen verbliebenen Schwestern feiern zu dürfen. Doch die winken ab. Durchhalten, die 100 knacken, nur um dem kleinen Bruder einen Gefallen zu tun. Darauf haben beide nun wirklich keine Lust. Müdigkeit schleicht sich ein.

Die Luft hier drin ist verbraucht, 4 Gänge gut bürgerliches Essen sind dabei, verdaut zu werden. Kaffee ist nirgendwo in Sicht. Meine Konzentration fängt an zu schwinden und ich setze mich etwas abseits, um in Ruhe schreiben zu können.
Die Tanten, Nichten, Großneffen, Schwiegerkinder, Adoptivkinder und Verwandte, für die es schon keine Bezeichnung mehr gibt, unterhalten sich angeregt. Langsam bleiben die Namen haften, langsam kann ich mir merken, wer wer ist. Wir sehen uns so selten – Geburtstage und Beerdigungen. Mit Mitte 20 ist meine Oma ausgewandert. Nicht weit weg, aber weit genug. Der Besuch bei den Geschwistern wurde zum Tagesausflug, zum Wochenendausflug, zur Rarität. Einen Führerschein besaß meine Oma nie, mein Opa ist früh krank geworden – wieder einmal die Altlasten des Krieges – und hat sie früh zur Witwe gemacht. Mein Vater arbeitete. Wer hätte sie fahren können?

Zuerst wollte meine Oma nicht auf diese Party. Zu alt sei sie, zu anstrengend die Feier. Und dann die Sache mit dem Rollstuhl und den WCs – bis zuletzt war nicht sicher, ob es behindertengerechte Toiletten gibt. Die Angst, mit heruntergelassener Hose nicht mehr aufstehen zu können. Doch gleichzeitig gibt es nicht mehr so viele Möglichkeiten, die Familie zu sehen. Geburtstage und Beerdigungen. Die Gelegenheit bei Schopfe packen. Und so hat sie mir, ihrer Fahrerin, ihre Zweifel nicht mitgeteilt, nur meinem Vater hat sie sie erzählt.

Seitdem wir hier sind, lacht sie unentwegt. Unterhält sich mit jedem, der sich zu ihr hinunterbeugt. Erzählt mit Lachtränen in den Augen, wie ich mich auf dem Hinweg verfahren habe, von unserer „Reise nach Jerusalem“, wie wir auf einmal hinter dem Friedhof des Nachbarorts festhingen. Nunja, ich kenne die Gegend nicht und das Navi wohl auch nicht.

Am Ende schreibe ich in Ruhe meinen Text. So viele fremde Freunde überfordern. Unser Günter setzt sich zu mir. Ich sehe die Lachfältchen um seine Augen. Er raunt mir zu, dass er sich vom Dessert-Buffet, das noch nicht eröffnet ist, eine Kanne Kaffee stibitzt hat. Wir verstehen uns.

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von Jana, Lesezeit < 5 Min.

Freiheit ist Musik, laut und frei unter einem sich langsam verdunkelnden Himmel.
Menschen sind anders auf Festivals. Zugänglicher. Vielleicht liegt das aber auch an mir. Ich fühle mich dort immer daheim.
Ich bin dann in einem Garten hinter einer Villa und die ganze Welt der Musik öffnet sich für mich. Ich bin wieder 13, 14, 15, das Herz voller Schmerz und Verwirrung. Die Welt grausam und kalt, nur nicht hier. In diesem Garten ist die Welt für drei Tage in Ordnung. Trotz Dauerregen, brennender Sonne, müffelnden Toitois, halbgarem Döner und ab und an musikalischen Fernwelten.
Es ist ein wunderbarer Ort, für eine Weile bin ich sicher und aufgehoben. Zuhause warten Mitschüler, unter denen ich auffalle wie ein Panda in buntem Karomuster. Und wir wissen, was passiert, wenn man 13, 14, 15 ist und partout nicht dazupassen will.
Im Garten kennt man sich. Im Garten ist man einer von vielen.
Dieses Gefühl überkommt mich immer, wenn ich an ähnlichen Orten bin. Eine kleine Bühne, Himmel, ein bisschen Grün. Auch wenn es hier nur Sträucher sind, die sich tapfer gegen die städtische Versiegelung wehren. Bunte Lichter, buntes Graffiti und dieser Schlag Menschen, den man immer dort findet, wo gute Musik gespielt wird.
Man kennt sich, selbst wenn man sich noch nie gesehen hat.
Vielleicht bilde ich mir das alles aber auch nur ein. Auf jeden Fall bin ich jetzt hier und irgendwie auch dort. Und ganz bestimmt Daheim.

von Jana, Lesezeit ca. 5 Min.

Tom hasste die Höhe. Er liebte Geisterbahnen, doch in ein Riesenrad hätte er nie einen Fuß gesetzt. Sie dagegen schaute sehnsüchtig auf die Gondeln, die hoch in die Lüfte stiegen und egal wie klein oder albern das jeweilige Fahrgeschäft tatsächlich war, jedes Mal sprang ihr die Liedzeile in den Kopf. „Über den Wolken…“ Wenn sie wenigstens das hätte tun können. Die Ängste und Sorgen in die nächste Kabine packen und mitfahren lassen, wieder und wieder im Kreis. Noch vor der letzten Runde hätte sie sich davon gestohlen und sie dort gelassen. Doch Tom zog sie weiter.
Sie hasste Geisterbahnen. Sie konnte nicht verstehen, warum man sich freiwillig fürchten wollte. Er sagte, das wäre nur Spaß und sie müsste lockerer werden. Sie kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu. Er lachte und schoss ihr später einen Teddybären mit Herzstickerei. Er war niedlich und flauschig und nicht das, was sie wollte.
Sie steht allein vor dem Riesenrad, zögert. Es ist klein, voller bunter Leuchtdioden und alberner Bemalung. Soll sie wirklich? Die blondgelockte Frau im Kassenhäuschen winkt ihr auffordernd zu.
Das Rad setzt sich in Bewegung, sie mit ihm, hoch hinaus. Die Sonne blendet und im ersten Moment sieht sie nichts. Doch nach und nach gewöhnen sich die Augen an das Licht, werden die Häuser unter ihr kleiner, die Autos zu Spielzeugen, die Menschen zu Schachfiguren. Der Boden der Tatsachen schwindet. Sie will die Augen schließen, um den Moment zu genießen und schüttelt selbst den Kopf über sich. Nicht eine Sekunde wird sie verpassen. Nicht eine Sekunde Höhenflug. Als sie sich dem Boden nähert, schallt laute Musik zu ihr. „Somewhere over the rainbow“. Fast so schön wie über den Wolken.
Sie darf lange in der Kabine sitzen bleiben. Oben fällt das ihr das Atmen leichter. Oben fühlt sie sich beinahe frei.
Als sie aussteigt und die Türen sich hinter ihr schließen, sitzt der Teddybär mit Herzstickerei noch immer auf der Holzbank. Er wird einige Runden allein bleiben, bis er einen neuen Besitzer gefunden hat.
Bevor sie den Ausgang erreicht, dringt Frank Sinatra aus den Boxen. „I did it my way.“ Ganz genau.

 

Bei diesem Text habe ich minimal geschummelt: Idee und erste Sätze sind während der Riesenrad-Fahrt entstanden. Fertig geschrieben habe ich ihn dann an meinem Schreibtisch…

von Jana, Lesezeit < 5 Min.

Montags kauft niemand Möbel. Die sorgsam platzierten Dekogegenstände stauben ein, in den eingerichteten Muster-Wohnungen lebt heute kein Mensch. Verlassen liegt die Fundgrube da, ein Sammelsurium vergessener, leicht angeschlagener Möbelstücke, die niemand will. Heute nicht. Morgen nicht. Nie mehr.
Das rote Sofa in der Ecke sieht aus, als stünde es nicht erst seit gestern hier. Genau genommen sieht es nicht mal aus, als wäre es neu, eher so, als hätte es schon viele Leben begleitet, viele Besitzer getragen. Als hätte es Jeansstoff und Seidenkleider und müffelnde Socken ertragen, Hundehaare und verkippten Kakao. Setzte ich die Maske ab und röche daran, würde es nach gefärbten Stoff und Holzverkleidung riechen oder nach Wohnen, nach Leben?
Wie riecht Leben? Ein bisschen muffig vielleicht und nach den Blumen auf dem Tisch, nach angebratenen Zwiebeln, nach Seife, Waschmittel, nach Staub und Schweiß, nach dir und mir.
Ich habe Mitleid mit diesem Sofa, es ist für Menschen gemacht und nicht für diese dunkle Ecke am Ende des Möbelhauses, in die sich heute niemand außer mir verirrt. Wo es gespenstisch still ist, abgesehen von den halb verschluckten Tönen der ewig-nervigen Werbejingles, nur unterbrochen durch ein paar völlig überhörte Dauerhits.
Das ist kein Ort zum Bleiben. Doch ich kann es nicht mitnehmen.
Ich wünsche ihm eine Familie. Ich wünsche ihm das Leben oder die vielen Leben, nach denen es jetzt bereits aussieht. Ich wünsche ihm, dass jemand es betrachtet und nicht die ramponierten Stellen sieht, sondern die Schönheit darunter. Die Schönheit, die sagt: Ich bin kein Möbelstück, ich bin ein Stück Leben.

von Jana, Lesezeit < 5 min.

It`s quite perfect here. Er wirkt perfekt, mit sich im Reinen. Entspannt zurückgelehnt, träumend, die Augen geschlossen, sunday-morning-mood. Nichts muss, keine Termine, keine Verpflichtungen, nur sein. Ein Ruhepol, umgeben von hellen, schmucklosen Mauern, kühl gegen die Hitze des schwülen Sommers.
Die Stimmen der Besucher hallen durch die Gänge, zurückgeworfen von den nackten Mauern, vielfach verstärkt. Wie in einer Bahnhofshalle am Sonntagabend kurz vor Abfahrt des letzten Zuges, im Aufbruch befindlich zurück nach wer weiß wohin. Hektisch, eilig, alle müssen, niemand will. Streit und Zorn und Abschiedsschmerz.
Ihn kümmert das alles nicht. Nicht die Welt, nicht ihr Schmerz. Ein Monument aus Stein. Blind, taub und schön. Makellos.
Er ist nicht allein. Sie tanzt um ihn herum, unablässig, Runde für Runde, eine eifersüchtige Beschützerin. Nur wovor? Die Welt kann ihm nichts anhaben. Und ich, ich sitze nur hier, beobachtend, neidisch auf seine gelassene Ignoranz, von der ich so gerne etwas abhaben möchte. Von der Haut aus Stein, von dem nach innen gerichteten Blick, auf ewig der Welt entrückt.
Der nächste Schwall von Stimmen, eine unaufhaltsame Welle Lärm und Hektik und Aufbruch. So fehl an diesem Ort.
Und wieder eine Runde der Beschützerin, die fragenden, ungeduldigen Blicke, die mich treffen. Was tut sie da?
Immer noch innehalten. Immer noch beobachten.
Und dann ehrfürchtig unter der strahlenden Kuppel die Erkenntnis: Du bleibst hier, für immer. Fern von dieser Welt in deinem kleinen Kosmos, blind und taub für uns. Der immer gleiche Raum, nur du, sonst nichts. Ich kann gehen, kommen und gehen wie die hallenden Stimmen, nur Besucher in deinem Stückchen Ewigkeit.
It´s quite perfect here. Doch bist du glücklich?
Ich jedenfalls gehe. Zurück in die schwüle Hitze des Sommers.

Der Text entstand im Rahmen eines Schreibexperiments „Schreiben überall“, das der Frage nachgeht, ob und wie sich der Ort, an dem man schreibt, auf den Text auswirkt.

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

Entstanden Ende März 2021, 6. und letzter Teil der „Morgens vor / während Corona“-Reihe. Alle Vorgänger findet Ihr ab hier.

„Überleben allein ist nicht ausreichend.“
Dieser Satz ist aus Star Trek. Zumindest laut dem Buch, durch das er sich als roter Faden windet und das sie mal gelesen hat und sehr mochte. Darin ging es um das Leben eben jener Überlebender, etwa zwanzig Jahre nach dem ein Virus etwa 90 Prozent der Menschheit ausgerottet hatte.
„Überleben allein ist nicht ausreichend.“
Sie muss in letzter Zeit oft an diesen Satz denken. Eigentlich das ganze letzte Jahr. Ein Jahr hält er schon an, der Ausnahmezustand. Das Warten auf „wenn es erstmal vorbei ist“. „Es“ ist das Virus, das Abstand halten, das „Nichts geht“. Bei ihr selbst ging auch eine ganze Weile nichts mehr. Seit etwa vier Wochen hat sie wieder einen Alltag, zumindest im Versuchsstadium. Im Büro hat sich vieles verändert (nein, der Bus ist immer noch oder schon wieder zu voll, aber ehrlich, das hatten wir doch schon ausführlich), Kollegen sieht man nur noch über Bildschirme und auf den Gängen begegnet man sich mit Maske. Vieles geht jetzt elektronisch, das, was früher nie und nimmer elektronisch gegangen wäre, denn bitte, wir sind eine Behörde und das haben wir schon immer… – „Schon immer“ wurde aussortiert und sie gewöhnt sich überraschend schnell daran. Ist mega stolz auf die erste geglückte Webkonferenz. (Davor hat sie sich kurz zu alt für diese neue Zeit gefühlt und sich geschworen, nie wieder die Augen zu verdrehen, wenn ihre Mutter sie um Tipps für die Bedienung ihres Smartphones bittet.)
Also Alltag. Und das Drumherum. Denn das Drumherum, das hat sie gelernt, das hilft gegen den Überlebensmodus. Der Modus, in dem es nur noch ums Funktionieren geht. So lange bis nichts mehr funktioniert, nichts mehr geht, genau wie im Draußen. Im Draußen ist das scheiße, denn wenn nichts geht, geht mehr und mehr verloren. Gaststätten, Theater, Kunst, Kultur – nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was vor unseren Augen stirbt. Im Inneren läuft das ganz ähnlich ab, alles verschwindet, die Begeisterung, die Freude, der Genuss, alles wird grau und still und sinnlos und dann… „Überleben allein ist nicht ausreichend.“
Wie wenig spürt sie erst, seit sie wieder lebt. Seit alles wieder Farbe gewonnen hat. Seit ihre Kreativität wieder Funken sprüht. Seit sie wieder lachen und schreiben und malen und Geschichten träumen kann. Diese Fantasiewelt in ihrem Kopf neu entdecken kann, wie die Enterprise die unendlichen Weiten des Weltraums. (Ja, Star Trek kann sie auch wieder schauen. Das konnte sie nicht mehr. Die Konzentrationsspanne hatte einfach nicht…)
Überleben. Leben. Und nun der nächste Lockdown. Wieder alles runterfahren. Das Überleben sichern, denn die Wahrheit ist auch: Leben ohne Überleben ist nicht möglich. Der Virus ist mittlerweile auch in ihrer Familie angekommen und leider mit dem schlechtmöglichsten Ausgang.
Leben und Überleben. Das eine geht nicht ohne das andere. Das andere wird unerträglich ohne das eine. „Life`s that way“ lautet der Titel eines anderen Buches, das sie sehr gemocht hat. In diesem ging es um das Weiterleben nach einem Verlust. Wir alle verlieren im Leben. Etwas oder jemanden. Wir verlieren, lassen fallen, werfen weg, stürzen – und dann stehen wir wieder auf. „Life`s that way.“ Vergessen wir vor lauter Überleben nicht das Leben. Denn – und nun muss noch ein Filmtitel herhalten, damit es ausgeglichen ist – „Das Leben ist schön“. Und das kann sie wirklich nur unterstreichen.


Erwähnte Bücher: „Das Licht der letzten Tage“ von Emily St. John Mandel; „Life`s that way“ von Jim Beaver

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