Hinrichtung
Tragikfaktor 4/5
Ihr braucht: paramilitärische Organisationsstruktur; Freundschaft, die auf die Probe gestellt wird
Als er zwanzig war, verlor er zum zweiten Mal alles, aber das begriff er erst ein paar Jahre später. Er hatte Lucian nicht belogen. Er verriet ihn nicht und er brachte ihn auch nicht zurück. Das lag vielleicht aber auch daran, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass Lucian desertiert war.
Er kam gerade von einem Einsatz als der General ihn zur Seite nahm. „Es geht um deinen Freund“, eröffnete er. „Ich denke, du weißt, dass er es schwer hatte in letzter Zeit. Manche von uns… manches, was wir tun müssen… für die Sache.“ Er hörte ihm nicht weiter zu, er konnte nicht.
Er erschien nicht zu Lucians Prozess. Er fürchtete, jemand käme auf die Idee, ihn doch noch gegen ihn aussagen zu lassen. Er versuchte, ihn in seiner Zelle zu besuchen, im Kopf einen Fluchtplan. Doch wann immer er sein Quartier verließ, hatte er mindestens drei Kameraden im Schlepptau, die ihm schließlich zu verstehen gaben, dass die Zelle neben Lucian bereits für ihn reserviert war, wenn er auf die Idee kam, Dummheiten zu machen.
Es waren drei Tage bis zur Vollstreckung des Urteils. Drei Tage, in denen er weder schlief noch aß.
Er ging zur Hinrichtung. Sie ließen ihn gehen.
Er hätte ihm helfen können. Er hätte ihn retten können. Er hätte etwas tun können, um ihm dieses Schicksal zu ersparen. Es gab immer irgendetwas, was man tun konnte. Vielleicht hätte es nichts geändert, vielleicht wäre er auch hier gelandet, doch er hätte es wenigstens versuchen müssen.
Er hatte zugelassen, dass sein Freund vor ein Erschießungskommando kam. Bevor sie Lucian die Kapuze aufsetzten, suchte er seinen Blick und fand ihn. Er lächelte.
Das Urteil wurde verlesen, die Frage nach den letzten Worten.
Lucian grinste, holte tief Luft und schrie: „Für die Sache! Es lebe die Revolution!“
Die meisten Umstehenden seufzten und schüttelten die Köpfe. Lucian wurde die Kapuze über den Kopf gezogen.
Seine Ohren rauschten so laut, dass er die Schüsse nicht hörte. Er sah nur, wie sein Freund fiel. Und er sah es wieder und wieder, wann immer er in den nächsten Monaten die Augen schloss.
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