Wütender Geist

Tragikfaktor 5/5

Ihr braucht: Übernatürliches Setting, Déjà-Vu-Effekt, familiäre Bindung zwischen zwei Figuren

Als das morsche Tor hinter ihm zufiel und er den Raum vor sich sah, wusste er plötzlich wieder, was hier passiert war. Nein, es gab keinen Zweifel. Die Trümmer eines halb zerfallenen Heubodens türmten sich vor ihnen auf. Ansonsten war die Scheune leer bis auf ein paar völlig verrostete Werkzeuge, die an der gegenüberliegenden Wand wohl vergessen wurden. Es war diese Scheune gewesen.

„Wir müssen hier raus“, sagte Daniel.

Sein Onkel wandte sich um. „Warum, was ist los?“

„Das hier… wir müssen… es läuft schief…“ Doch es war schon zu spät.

„Thorben, PASS AUF!“ Toms Warnung kam keine Sekunde zu früh.

Eine blasse, fast durchsichtige Gestalt war hinter seinem Onkel aufgetaucht. Ein Junge, dachte Daniel, höchstens zehn war er gewesen, eine Harke in der Hand, mit der er gerade weit ausholte. Doch Thorben war schneller. Er drehte sich blitzschnell um und schoss. Die Ladung Salz ließ den Geist verschwinden.

„Was zur?“

„Tom!“ Thorben hatte erneut geschossen und ein weiterer Geist, diesmal ein Mann mittleren Alters, mit einer Hacke bewaffnet, löste sich ebenfalls auf.

„Das ist kein Grab, das ist ein Friedhof“, rief er zornig, „Raus hier!“

Daniel blickte zum Tor, das sich in diesem Moment öffnete. Noch bevor jemand zu sehen war, wusste er, dass es Laura war und er wusste auch, was als nächstes passieren würde. Ein Geist würde direkt neben ihr aus dem Nichts auftauchen und ihr mit einer Axt den Schädel spalten. Doch diesmal nicht, diesmal konnte er es verhindern.

„Laura, pass auf!“, rief er, noch bevor sie die Scheune überhaupt betreten hatte. Der Geist wurde von ihr mit einer Ladung Salz begrüßt.

Trotzdem schien irgendetwas schief gelaufen zu sein, denn Daniel hörte einen lauten Schrei. Er fühlte plötzlich ein seltsames Ziehen im Magen und sah an sich herab. Die rostige Metallspitze, die er aus seinem Bauch ragen sah, erinnerte ihn, warum er beim letzten Mal abgelenkt gewesen war. Er hatte es mit dem sichelschwingenden Geist einer jungen Frau zu tun bekommen.

Die rostige Spitze verschwand wieder. Es war ein unangenehmes Gefühl, so, als ob man einen zu großen Bissen herunterschluckt und dann spürt, wie er langsam in den Magen rutscht.

Sein T-Shirt wurde rot und auf einmal sah er den Boden näherkommen, doch er erreichte ihn nicht. Jemand schlang plötzlich seine Arme um ihn.

Er hörte Stimmen, doch er verstand sie nicht, sie waren gedämpft, als sprächen sie unter Wasser. Aber er wollte, er wollte doch verstehen. Er musste sich konzentrieren.

„… raus… Deckung… Laura…“

Laura? Was war mit ihr? Er musste nach ihr sehen. Er wollte den Kopf drehen, doch er gehorchte ihm nicht.

Er spürte etwas festes im Rücken und dann schob sich das Gesicht seines Onkels in sein Blickfeld. Er sah panisch aus, die Augen waren weit aufgerissen. Daniel hatte ihn noch nie so gesehen.

„… weh tun“, sagte er und Daniel verstand nicht, was er meinte. Doch dann schien eine Walze über seinen Bauch zu fahren. Er meinte zu fühlen, wie seine Organe zusammengepresst wurden und er bekam keine Luft mehr. Er wollte schreien, doch er schaffte es nicht, den Mund zu öffnen.

„… gut, alles wieder gut.“

Sein Onkel musterte ihn immer noch mit panischem Blick. Er hatte Angst!

Und erst jetzt begriff er, was hier passierte. Er starb. Die Sichel, das Blut. Er konnte das unmöglich überleben.

Ihm wurde kalt, schrecklich kalt. Er versuchte noch einmal, den Mund zu öffnen, doch es gelang ihm nicht.

„Der Krankenwagen braucht zehn Minuten“, hörte er Laura leise sagen.

Zehn Minuten. Das war zu lange. Zehn Minuten hatte er nicht mehr, das wusste er. Und sein Onkel auch. Er konnte es in dessen Augen sehen. 

Vielleicht half es, wenn er sich ausruhte. Er war müde, schrecklich müde. Er wollte die Augen schließen, nur für einen Moment.

„Nein! NEIN!“ Jemand griff nach seinem Gesicht. „Mach die Augen auf, Daniel! Mach sie auf!“

Mit aller Kraft hob er die Lider.

„Sehr schön, lass sie auf, ja? Ich verbiete dir, die Augen zu schließen. Ich verbiete es!“

Und dann stand er plötzlich neben seinem Onkel und blickte auf sein anderes Ich herab, dessen Augen leblos gen Himmel gerichtet waren. Er hatte sie nicht geschlossen, doch es hatte nicht geholfen, er war gestorben.

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