Tragikfaktor 2/5
Ihr braucht: nachvollziehbare Vorurteile, zu wenig Skrupel
Hendriks Tag war beschissen gelaufen. Erst hatte seine Alte ihn vor die Tür gesetzt, er solle nicht wiederkommen, bis er einen Job habe, hatte sie gesagt. Dann hatte sie hinzugefügt, besser, er komme gar nicht mehr wieder. Dann hatte sie die Tür zugeknallt.
Kurz danach hatte Hendrik festgestellt, dass er nur noch 5 Euro in der Hosentasche hatte. Sein Handy hatte der Wirt seiner Stammkneipe – bis er die Rechnungen bezahlte…
Am Kiosk holte Hendrik sich erst mal ein Bier und überlegte, wie es jetzt weitergehen sollte. Er beschloss, dass die Couch von seinem Kumpel Thies die nächsten Tage eine angemessenen Ersatz für sein Bett darstellte, bis sich was Besseres ergeben würde oder seine Alte wieder zur Besinnung kam.
Fünf Minuten, nachdem er im Bus zu seinem Kumpel Thies saß, gab’s eine Fahrscheinkontrolle. Als Hendrik drohte, den Kontrolleur zu verprügeln wenn der sich nicht verpisste, kamen der Busfahrer und noch so ein Zwei-Meter-Fahrgast dazu und Hendrik wurde kurzerhand an der nächsten Bushaltestelle auf die Straße gesetzt. Das zweite Mal an diesem Tag. Die Bierflasche, die sie ihm hinterherwarfen, zerbrach auf dem Asphalt und das Bier spritzte in alle Richtungen.
Als der Bus davonfuhr, schrie ihnen Hendrik alle Schimpfwörter hinterher, die ihm einfielen. Dann trat er so lange gegen die drei Glaswände des Bushäusschens, bis sie in tausend Stücke zersprangen. Als er versuchte, auch die Bänke mit ein paar gezielten Tritten umzuschmeißen, stieß er sich den Zeh und heulte frustriert auf. Kurz überlegte er, zu Fuß zu Thies zu laufen, aber schon nach ein paar Schritten schmerzte sein verletzter Fuß so sehr, dass er sich auf die Bänke fallen ließ, denen es egal war, dass er kurz vorher noch versucht hatte, ihnen den Garaus zu machen.
Am Ende präsentierte ihm das Universum die Lösung, nur vielleicht auf ein anderes Problem als das, über das er sich gerade den Kopf zermarterte.
Ein Mann gesellte sich zu ihm ins Bushäuschen, fragte freundlich, ob neben ihm noch ein Platz frei sei. Ungläubig starrte ihn Hendrik an – nicht viel älter als er selbst, vielleicht etwas zu dick, schwer zu sagen im Herbst unter den ganzen Kleidungsschichten.
Sah der denn nicht die ganzen Scherben, konnte der nicht eins und eins zusammenzählen?
Dann erkannte Hendrik den Blindenstock und die Sonnenbrille und rechnete nun seinerseits eins und eins zusammen. Der Fremde sah gar nichts, er würde also auch ihn nicht sehen.
Hendrik konnte es nicht fassen. Es wurde aber auch Zeit, dass nun endlich er mal wieder etwas Glück hatte an diesem bisher bescheidenen Tag.
Ohne weiter nachzudenken packte er den Fremden am Schlafittchen:
„Klar könnense Platz nehmen und vorher dürfense mir noch ihre Brieftasche geben.“
„Das würde ich nicht tun an Ihrer Stelle.“
„Sie sind aber nicht an meiner Stelle und jetzt her mit dem Geld!“
Hendrik packte den Fremden fester am Kragen und wollte zur Unterstützung seiner Worte einen ersten Haken in dessen Gesicht platzieren, als seine Welt plötzlich zusammenbrach.
Da waren Hände, Füße und Stöcke überall, wo vorher keine gewesen waren, trafen Stellen, von denen Hendrik noch nicht einmal wusste, dass er diese spüren konnte. Orientierungslos mit vor Schmerzen erstickten Sinnen taumelte Hendrik, stürzte in die Scherben, raffte sich noch ein letztes Mal auf und lief geradewegs vor den Bus.
Tags darauf stand in den Tageszeitungen unter der Rubrik „Kurioses“:
„Tödlicher Irrtum. Räuber überfällt Blinden – und gerät an Karate-Meister“
Neueste Kommentare