Seelenwanderer (von Axt erschlagen)

Tragikfaktor 2/5

Ihr braucht: Übernatürliches Setting, Elemente nordischer Mythologie, alte Familiengeheimnisse

Mit einem tiefen Atemzug öffnete er die Augen. Endlich frei!

Eine Weile ließ er den Blick durch das geschmackvoll eingerichtete Zimmer streifen. Die Möbel waren ausschließlich aus hellem Holz, Landschaftsbilder in Pastellfarben zierten die Wände. Jemand hatte sich Mühe gegeben, alles so freundlich wie möglich zu gestalten. Ja, hier ließ es sich aushalten. Schade, dass er nur so kurz hier sein konnte. Er bedankte sich kurz bei Clive, der ihm unfreiwillig diesen Ausflug gestattete. Er sollte sich vermutlich entschuldigen für das, was er ihn tun lassen würde, aber er war noch nie gut im um Verzeihung bitten gewesen.

Er stand auf und schob den Rollstuhl beiseite. Dann durchquerte er das Zimmer und ging durch eine Terrassentür nach draußen. Es war eisig kalt. Seit gestern hatte sich die angekündigte Wärmeperiode in einen erneuten Wintereinbruch verwandelt. Er sah an sich herab auf seine nackten Füße und zuckte mit den Schultern. Sie würden es beide nicht spüren.

Ohne nach Schuhen zu suchen, ging er über die Terrasse in den Garten. Er griff nach der Axt, die jemand im Baumstumpf vergessen hatte und verließ das Grundstück.

Es war nicht weit. An dem Haus angekommen blieb er einen Moment stehen. Zehn Jahre, er hatte zehn Jahre gewartet und nun konnte er endlich Rache nehmen. Das Gefühl des Triumphs raubte ihm einen Augenblick den Atem, doch er durfte jetzt nicht zögern. Er hatte nicht endlos Zeit, er spürte, wie der alte Clive sich seines Besitzers gewahr wurde. Er würde ihn bald vertreiben.

Er stieg die Verandastufen empor. Die Tür war kein Problem für seine Axt. Er hörte Schreie im Haus und dann kam David auch schon auf ihn zugestürmt.

„Clive? Clive, was ist los? Du… du kannst GEHEN?? Aber… was…?“

Er konnte die blanke Verwirrung in Davids Blick sehen und fast war er enttäuscht. Er hatte Angst erwartet, er hatte Betteln erwartet, aber natürlich erkannte David ihn nicht. David war schon immer ein Idiot gewesen.

„Es ist Zeit, David, es ist Zeit die Rechnung zu bezahlen!“

„Was? Clive, was redest du da? Und was soll die Axt?“

Er war dieses Spiels jetzt schon müde.

„Andy sendet seine Grüße!“, sagte er, „Du wirst heute sterben!“

„Andy?“ David schien noch immer nicht zu verstehen, doch der Name reichte, um ihn erblassen zu lassen. „Nein, Clive, das ist doch… nicht, leg die Axt weg!“

„David?“

Jetzt tauchte sie auf. Carolin erschien mit schockgeweiteten Augen hinter David. Carolin. Seine, Andys, Carolin. Er sah ihr direkt in die Augen.

„Für dich!“, flüsterte er.

„Clive… BITTE!“, schrie David.

Es sollten seine letzten Worte sein.

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