Die fürsorgliche Mitbewohnerin

Tragikfaktor 5/5

Ihr braucht: einen leckeren Frühstückssaft, Medikamente mit Nebenwirkungen

„Herzlich willkommen zuhause!“ steht in bunten Lettern auf dem Banner über der Küchentür, als ich – atemlos vom Treppensteigen – in die WG-Küche eintrete. Der Frühstückstisch ist reichlich gedeckt mit allerlei gesunden Sachen. Dafür liebe und hasse ich meine Mitbewohnerin.
Vollkornflocken, Magerquark, frische Trauben, Äpfel und winterliche Sharon-Früchte. Ich entdecke Käsescheiben, Hummus, Gurkenscheiben und Tomaten, bereits fertig in Scheiben geschnitten und in kleinen Schalen angerichtet. Aus dem Ofen strömt der Geruch von frisch aufgebackenen Semmeln und auf dem Tisch steht eine Glaskaraffe mit Karottensaft und eine dampfende Teekanne. Sie hat sogar daran gedacht, dass ich keinen Kaffee mehr trinken darf.

Auf einmal höre ich hinter mir ihre Zimmertür.
„Ah, wow, du bist schon da!? Mensch, ich dachte, du scheibst mir noch die Uhrzeit, ich hätte dir doch geholfen, das ganze Zeug hochzuschleppen.“
Während ich mich ganz zu ihr umdrehe, fällt sie mir schon um den Hals und ich gehe fast in die Knie. Meine Sporttasche mit meinen Siebensachen rutscht mir aus der schwitzigen Hand auf den Boden.
„Oh, Mist, entschuldige. War das zu fest? Es tut mir so leid.“
„Nein, nein, alles gut“, versucht ich zu beruhigen, „du musst mich nicht wie ein rohes Ei behandeln. Und so viele Sachen hatte ich nun auch nicht mit zur Reha.“
„Ich bin so froh, dass du so schnell schon nach Hause darfst. Das heißt, es geht dir wieder gut, oder?“
„Ähm…“
„Ach, leg erstmal ab. Dann frühstücken wir zusammen und du erzählst mir alles in Ruhe.“

Während sie sich und mir jeweils eine frische Semmel auf den Teller packt und uns ein Glas Karottensaft einschenkt, fragt sie mich aus:
„So, nun erzähl. Wie geht’s dir?“
„Soweit ganz okay. Tatsächlich hätte ich noch zwei bis drei Wochen bleiben sollen, aber wegen der ganzen Pandemie-Lage haben sie alle nach Hause geschickt, die nicht unbedingt bleiben mussten.“
Ich trinke einen durstigen Schluck.
Meine Mitbewohnerin macht ein ernstes Gesicht.
„Ist das dann richtig, dass du schon hier bist? Weißt du, als du damals im Bad zusammengeklappt bist und fast keinen Puls mehr hattest, das war… „Sie ringt nach Worten. „Ich dachte, du wärst…“
„Nein, keine Sorge. Mein Herz hat sich für meine Verhältnisse einigermaßen erholt. Die Medikamente tun ihr übriges. Und wenn die doofe Pandemie vorbei ist, kann ich vielleicht auch die Reha fortsetzen.
Das einzige, worauf ich unbedingt achten muss, ist regelmäßiges, vorsichtiges Training und Grapefruits.“
Das war ein langer Satz, ich schnappe nach Atem. Ich habe mich anscheinend immer noch nicht vom Treppensteigen erholt. Mit einem Taschentuch wische ich mir den Schweiß von der Stirn.
Sie wird blass.
„Was ist denn mit Grapefruits?“
„Wechselwirkungen mit den Medikamenten. Dadurch bekomme ich Herzrhythmusstörungen…“
Erst als ich ihre geweiteten Augen sehe, merke ich, dass etwas nicht stimmt. Mein Herz rast, ich schnappe nach Luft. Das können doch nicht immer noch die Treppen sein?
Das letzte, was ich sehe, ist unser übervoller Mülleiner, halb von der offenen Küchentür verdeckt. Obendrauf liegt eine Packung Saft: Karotte-Grapefruit.

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