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Schlagwort: Vielfalt

Ohne Worte – Teil 2

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

So beginnt die Freundschaft zwischen Paula und Katja: Teil 1, lies los!

„Und was willst du?“
Katja starrte lange auf ihren Block, doch Paula erhielt keine Antwort.

Plötzlich stand ihre Mutter in Jörgs Café. Sie wirkte hektisch, ihr Mantel war ihr von einer Schulter gerutscht, ihre Augen waren weit und gerötet.
„Verdammt Paula, warum gehst du nicht an dein beschissenes Handy!“, brüllte sie beinahe und zog den Blick der zwei übrigen Gäste auf sich, doch das schien ihr völlig egal. Sie lief zu Paula, packte sie am Arm. „Dein Bruder ist im Krankenhaus, verdammt. Ich musste ihn allein lassen wegen dir, dein Vater ist noch unterwegs. Jetzt komm endlich!“

Paula verstand die Worte nicht gleich, wollte die verhassten Worte vielleicht auch nicht verstehen. Sie verstand auch nicht, wie ihre Mutter sie aus dem Café zerrte und in ihr Auto.
Erst als sie auf dem harten Stuhl saß in einem Raum voller harter Stühle, eingekeilt zwischen einer schwer atmenden alten Dame und einer dahinwelkenden Topfpflanze, da begriff sie, dass etwas passiert sein musste. Etwas Schlimmes. Etwas mit ihrem Bruder. Doch der lauteste Gedanke in ihr war der, dass sie sich nicht von Katja verabschiedet hatte. Was, wenn Katja schon heute umzog? Jetzt gerade? Warum zog sie überhaupt um? Und warum konnte sie nicht an ihren Bruder denken? War sie so ein schlechter Mensch?

„Dein Bruder wird wieder“, sagte ihr Vater. Er war irgendwann in der letzten halben Stunde gekommen und hatte den Platz mit der alten Dame getauscht. „Es war ein Autounfall. Er ist wohl bei Rot über die Straße gerannt. Wie Kinder das eben so tun.“
Als wäre sie kein Kind mehr, dachte Paula. Sie war immerhin erst vierzehn.
„Deine Mutter meinte, sie hätte dich nicht erreicht, Paula. Dafür haben wir dir aber das Smartphone geschenkt. Das war nicht leicht für uns. Es war teuer, verstehst du? Wir wollen dich erreichen können. Es wäre schön, wenn du das respektieren könntest.“
„Es ist kaputt. Tut mir leid.“
„Du hast es kaputt gemacht?“
Paula sagte nichts. Es waren schon zu viele gesprochene Worte gewesen. Worte, die weh taten. Worte, die nicht ausdrückten, wie sie sich fühlte. Sie wollte nicht über ein blödes Smartphone streiten. Sie wollte sich von Katja verabschieden und ihren Bruder sehen. Sie wollte zu Menschen, die sie verstanden.
„Es tut mir leid, Paula“, sagte ihr Vater und plötzlich griff er nach ihrer Hand. Das hatte er lange schon nicht mehr getan. „Das war nicht fair von mir. Erzählst du mir, was passiert ist?“
Sie überlegte. Aber nun waren so viele Worte gesprochen, auf ein paar mehr kam es auch nicht an.
„Ein Junge in der Schule ist drauf getreten. Ich wollte nicht… ich wusste, ihr könnt kein neues kaufen.“
„Wann war das?“
„Vor ein paar Wochen.“
„Aber… deine Musik, du hörst doch ständig Musik!“
Paula wunderte sich, dass das ihrem Vater tatsächlich aufgefallen war. Sie zuckte mit den Schultern.
„Warum dann die Kopfhörer?“
„Ihr streitet. Ich will nicht… wenn ich sie aufhabe, bin ich nicht da.“
Ihr Vater sagte nichts mehr, doch er hielt weiter ihre Hand. Irgendwann stieß ihre Mutter zu ihnen und dann durfte Paula endlich zu ihrem Bruder.

Katja zog zwei Wochen später nach Berlin. Sie hatten sich nur noch selten außerhalb der Schule gesehen. Ein Umzug schien viel Vorbereitung zu brauchen und Paula war oft im Krankenhaus gewesen. Ihr Bruder hatte einen komplizierten Beinbruch, doch er würde wieder gesund werden. Ihre Eltern stritten auf eine neue stille Art und beinahe wünschte Paula sich die Worte wieder zurück. All das Ungesagte, das im Raum stand und zwischen sie kroch, war kaum zu ertragen. Doch sie hatte ein neues Smartphone bekommen und die Musik würde nun eben die Stille füllen.

Paula war dabei, als Katja abfuhr. Sie beobachtete, wie die Mütter ihrer Freundn die letzten Kisten aus dem weißgetünchten Einfamilienhaus ins Auto brachten, ein Kombi, der in der Garageneinfahrt parkte. Einer Garage, die größer war als Paulas Wohnung.
„Wow“, sagte sie. „Habt ihr einen Pool im Garten?“
Katja verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.
„Warum haben wir uns nie bei dir getroffen? Ehrlich, wenn wir deinen Müttern nicht hätten begegnen wollen, hätten wir uns einfach in der Garage versteckt. Vermutlich ist da ein eigenes Land drin.“
Katja lachte. Dann zog sie ihre beiden Händen vor die Brust und machte eine Geste wie ein Schraubstock.
„Ja, zu viel Fürsorge ist auch anstrengend.“
Sie setzten sich auf den Bordstein und Katja verband ihr Smartphone mit Paulas Kopfhörern aus reiner Gewohnheit. Sie entschieden sich für Coldplay, die für sie beide auf Platz drei der besten Bands standen, ein guter Kompromiss. Sie mussten die Kopfhörer etwas schräg halten und ihre Gesichter ganz nah zueinander drehen, um beide etwas zu hören. Es lief „Fix you“ und Paula dachte an Katjas bevorstehende Operation.
„Ich weiß nicht, ob ich dich noch mag, wenn du sprechen kannst. Ich habs nicht so mit Worten“, sagte sie schließlich.
Katjas Hände blieben stumm. Doch dann spürte Paula den Kuss auf ihrer Wange.

3

Ohne Worte – Teil 1

von Jana, Lesezeit ca. 10 Min.

Jemand stupste an ihre linke Schulter und Paula sah auf. Vor ihr stand die Neue aus der Parallelklasse, deren Namen sie nicht kannte. Aber sie war ihr schon aufgefallen, in den Gängen der Schule genau wie auf dem Schulhof. Es waren die schwarzen buschigen Haare, die herausstachen, obwohl das Mädchen kleiner war als die meisten, auch kleiner als Paula. Zudem trug sie immer die gleiche schwarze abgewetzte Lederjacke, die sie heute mit einem knallroten Schal kombiniert hatte, der fast noch ihre Nase bedeckte. Darüber blitzten schwarze, freche Augen Paula an und ein Lächeln schob sich jetzt knapp über den Rand des Schals.
Das Mädchen fuchtelte vor Paulas Gesicht und Paula nahm ihre Kopfhörer ab. Es lief keine Musik darauf, sie mochte es nur, wenn andere Leute dachten, sie würde von der Welt um sie herum nichts mitbekommen. Es machte sie selbst auf angenehme Art unsichtbar.
„Du kannst mit mir reden“, sagte Paula jetzt, „ich kann dich hören.“
Das Mädchen hielt inne und starrte sie einen Augenblick überrascht an, sagte jedoch nichts.
„Reden. Du kannst mit mir reden“, wiederholte sie.
Das Mädchen sagte noch immer nichts. Aber sie fing an zu lachen. Sie öffnete den Mund und schüttelte sich, was ihren ganzen Körper zum Vibrieren zu bringen schien. Es erinnerte Paula an einen alten Film, denn es gab keinen Ton. Nur einen komischen abgehackten Laut, wie bei einer Störung im Radio. Sender und Empfänger verpassten sich immer ganz knapp.
Als das Mädchen sich beruhigt hatte, holte es aus den Taschen seiner Lederjacke einen kleinen Block und einen Kugelschreiber und schrieb etwas auf. Mit großer theatralischer Geste riss sie den Zettel ab und reichte ihn Paula.
„Hallo, ich heiße Katja, mag die Farbe rot und Spaziergänge bei Nacht. Und ich bin stumm. Wie heißt du?“
„Ähm…“, machte Paula. Sie war viel zu perplex, um etwas zu sagen. Katja riss Augen und Mund auf und schien Paulas Gesichtsausdruck zu imitieren. Dann schüttelte sie sich wieder in stummen Lachen. Irgendwann lachte Paula mit. So wurden sie Freundinnen.

Paula mochte keine gesprochenen Worte. Reden war ihr zuwider. Reden führte zu schreien, zu schimpfen, Worte waren dazu da, andere zu verletzen. Das kannte sie von ihrem Zuhause, wo ihre Eltern sich pausenlos stritten. Und von der Schule, wo sie Namen bekam, die nicht zu ihr passten. „Lesbe“, riefen sie. „Freak“.
Deswegen hatte sie sich irgendwann die Kopfhörer besorgt, gebrauchte von einem anderen Mädchen. Am Anfang hatten die noch ihre Lieblingsmusik gespielt, auf voller Lautstärke natürlich, und tatsächlich all die Worte ausgeblendet. Doch dann war ein Junge aus ihrer Klasse auf ihr Smartphone getreten. Ein lautes Knacken, irreparabel. Seitdem war es schwieriger, die Worte nicht zu hören. Doch zumindest sprach nie jemand sie direkt an. Die Kopfhörer und der Blick auf den Boden machten sie unsichtbar.

Für Katja war sie nicht unsichtbar. Katja redete ununterbrochen mit ihr, auf die gute Art. Ihre Hände flatterten und immer lächelte sie dabei. Immer. Sie hatte schnell aufgegeben, ihre Worte aufzuschreiben. Sie hatte einfach erzählt und erzählt und Paula hatte gelernt zu folgen. Katja sprach keine klassische Gebärdensprache, zumindest nicht mit Paula, sondern benutzte alles, was ihr in die Finger kam. Stifte und Blöcke wurden zu Städten, Blumentöpfe zu Personen, Kleidungsstücke führten heimliche Liebesbeziehungen miteinander. Wenn etwas zu verworren war, dann deutete sie einfach auf ihre Haare, was Paula besonders komisch fand.
Katja fand immer einen Weg um sich auszudrücken. Und selbst als sie sich dann doch über etwas stritten, nämlich welche Band die bessere war, Placebo oder Linkin Park, schrien sie sich nicht an. Katja warf theatralisch ihre unfrisierbare Mähne in den Wind und erklärte gestenreich, dass sie sich darauf einigen würden uneinig zu sein. Und Paula zuckte mit den Schultern. Das hieß ja.

Wenn sie sich nach der Schule trafen, gingen sie in den Park, die Bibliothek oder das kleine Café am Planetarium. Jörg, der Betreiber ließ sie dort stundenlang sitzen, ohne dass sie etwas bestellen mussten und schmuggelte sie sogar ab und zu in eine der Vorführungen. Katja mochte tatsächlich nächtliche Spaziergänge, doch die waren mit drohendem Hausarrest verbunden. Da sie die Nacht liebte, weil sie die Sterne liebte, war das Planetarium die perfekte Lösung. Sie versuchte Paula ihre Liebe zu erklären. Die Unendlichkeit, sagte sie, und dass etwas so profanes und unromantisches wie große Gaskugeln Milliarden von Kilometern entfernt, den Menschen Hoffnung bringen konnten.
„Alles eine Frage der Perspektive“, schrieb sie auf einen Zettel. Bei manchen Sätzen wollte Katja ganz sicher gehen, dass sie verstanden wurde.

Sie trafen sich nie bei sich zu Hause. Paula hatte schnell klar gestellt, dass ihre Wohnung ein Kriegsschauplatz war, den sie versuchte zu meiden und zu dem sie ohnehin nur noch zurückkehrte, weil da ihr kleiner Bruder war, den sie nicht im Stich lassen konnte. Katja sprach nie von ihrer Familie und auch nicht von ihrer Vergangenheit. Es war das einzige Thema, zu dem Paula ihr nicht eine Geste entlocken konnte. Sie drängte ihre Freundin nicht, auch wenn sie gerne mehr gewusst hätte. Es war nicht Neugier. Sie machte sich Sorgen.

Als die Wochen vergingen, vergrößerten sich Paulas Sorgen. Immer öfter erwischte sie Katja dabei, wie sie traurig vor sich hinstarrte. Sie war nur noch schwer zum gestenreichen Geschichtenerzählen zu animieren, begnügte sich meist mit Nicken, Kopfschütteln und Schulterzucken. Und dann eines Tages holte sie wieder den Block und den Kugelschreiber hervor. Sie schien lange nach Worten zu suchen und als sie Paula endlich den Zettel reichte, standen nur drei darauf.
„Ich werde wegziehen.“
„Aber… wann? Und warum?“
Katja zuckte mit den Schultern, doch Paula konnte das nicht so einfach stehen lassen.
„Warum?“, wiederholte sie.
Katja nahm den Block und den Stift. Diesmal dauerte es noch länger ehe Paula endlich einen Zettel in den Händen hielt.
„Operation in Berlin. Spezialist.“
„Aber wegen einer Operation… da kommst du doch wieder, nicht wahr?“
Katja schüttelte den Kopf und schrieb wieder. „Meine Mütter wollen umziehen. Kein Ballast sagen sie.“
„Und was willst du?“
Katja starrte lange auf ihren Block, doch Paula erhielt keine Antwort.

Warum erhält Paula keine Antwort? Und können die beiden ihre neu gewonnene Freundschaft bewahren? Das erfahrt Ihr hier, lies weiter!

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