Geschichten. Überall und Jederzeit

Schlagwort: Versprechen

Der Besuch der launischen Dame

von Carmen, Lesezeit ungf. 2 Minuten

Dieser Text entstand am Freitag, 27.03.2020, in dieser Zeit, in der wir alle das Wort Quarantäne rückwärts buchstabieren konnten und bereits jeden rauen Fleck an der gegenüberliegenden Zimmerwand durchanalysiert hatten. (Notiz an mich selbst: Sollte nach Enätnarauq gestrichen werden. Dringend).
Dieser Text entstand als 10-Minuten-Aufwärmübung. Regeln: Alles aufschreiben, sehen, wohin der Stift mich führt, auf Assoziationen eingehen und sich treiben lassen. Nicht aufhören, Grammatik-, Orthographie- und Stilregeln existieren nicht. So oder so ähnlich rät uns Doris Dörrie in den Schreibprozess zu starten. Es kommen immer wieder verblüffende Ergebnisse dabei heraus.
Viel Spaß beim Lesen.

Mich besucht derzeit immer öfter eine Bekannte aus der guten alten Zeit. Eine Herumtreiberin, die immer mal hier und dort und überall ist und eigentlich nirgendwo ganz. Wir haben uns nie so besonders gut verstanden, meist war sie mir egal. Denn ich war meist nur hier. Hier in meiner Wohnung, oder hier auf der Arbeit. Orte, die sie nicht interessieren.
Habe ich mich mal auf einen Besuch von ihr vorbereitet, kam sie nicht. Dann wiederum klingelte sie Sturm, als es mir so gar nicht passte. Wegschicken konnte man sie nie, wenn sie da war, war sie da und blieb, bis sie keine Lust mehr hatte. Und das konnte dauern. Tage, Wochen, manchmal sogar Monate.
Meine Bekannte ist eine launische Person, das wisst ihr besser als ich. Sie kommt und geht, wie es ihr passt, heute temperamentvoll, morgen apathisch, dann wieder mit viel Geduld und an anderen Tagen war sie so gestresst, dass ich regelrecht gegen sie ankämpfen musste, um mich durchzusetzen. Wehmütig erinnere ich mich an diese Zeit.
Wen interessieren heute noch ihre Launen? Ich bin in meinen vier Wänden, geschützt und zugedeckt. Ich kann auf sie verzichten als launische Begleiterin, ich verzichte auf ihre singende Herbststimme, ich verzichte auf ihr freundliches Lächeln im Frühling.
Ich komme mir vor, als befänden wir uns im Krankenhaus auf der Intensivstation und betrachteten uns durch eine schützende – trennende – Glaswand. Durch das Glas sehe ich, wie sie sich gerade fühlt. Ich interpretiere es aus den flatternden Flaggen. Ich erkenne sie an den Knospen des Baumes und am Reif, der frühmorgens das Gras umhüllt.
Die Erfahrung im Umgang mit ihr sagt mir, dass ich mir heute besser einen Mantel anziehen sollte, wenn ich das Haus verlasse. Dass ich besser nicht die Handschuhe vergesse, wenn ich mich aufs Rad schwinge. Dass ich vorsorglich schon einmal die Mütze zu den Laufsachen packen sollte, will ich nicht mit hochroten Ohren von der Joggingrunde zurückkehren.
Ich ignoriere die Erfahrung, sie ist obsolet. Die Handschuhe nehme ich trotzdem. Ich betrachte meine Bekannte durch die Intensivscheibe und freue mich, dass sie mich besucht hat.
Und ich verspreche ihr, dass wir uns in Zukunft öfter sehen werden.

Nun, wie steht ihr zu der launischen Dame? Habt ihr sie erkannt?
Schreibt mir Eure Meinung als Kommentar unter diesen Text oder an mich persönlich unter carmen[at]mittendrin.blog.
Alles Liebe und bleibt gesund!

Versprechen

von Jana, Lesezeit < 5 Min.

Als sie klein war, hielt Tom jedes seiner Versprechen: Dass keine Monster in der Dunkelheit unter ihrem Bett waren. Dass nichts passieren würde, wenn sie sich traute mit dem Fahrrad den Berg hinunterzufahren. Dass er seine Schokolade mit ihr teilte, wenn sie die Schuld für die kaputte Blumenvase auf sich nahm.

(Ihre Mutter hätte Tom sonst Hausarrest gegeben und er hätte nicht mit ins Fußballcamp fahren können. Bei ihr bedeutete Hausarrest, dass sie sich in Ruhe unter ihrer Bettdecke verstecken und ein Buch lesen konnte. Ihre Mutter hatte den Trick erst später verstanden.)

Als sie älter wurde, begann Tom jedes seiner Versprechen zu brechen: Dass er nach der Schule mit ihr spielen würde. Dass sie mit ihm und seinen Freunden mit zum See fahren konnte. Dass er in der nächsten Woche den Müll für sie raustrüge, wenn sie heute seinen Abwasch übernahm.

Als sie erwachsen war, machte Tom Versprechen, die er nicht halten konnte: Dass er ihre Eltern beruhigen würde, als das mit dem Studium nicht klappte. Dass er sie beschützte, falls ihr jemand würde wehtun wollen. Dass er den Kerl umbringen würde, als er die blauen Flecken an ihren Armen bemerkte.

Doch als sie 35 war, brach Tom das wichtigste Versprechen von allen: Dass er immer für sie da sein würde.

Sie wusste, er hatte das nicht gewollt. Es war der Lastwagenfahrer gewesen, der ungebremst bei Rot in die Kreuzung gerast war.

Und sie dachte an all die Versprechen, gehalten oder nicht, und fragte sich, warum es dieses eine war, dessen Bruch sie ihm nicht verzeihen konnte.

 

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