Geschichten. Überall und Jederzeit

Schlagwort: Verlust

Stille

von Jana, Lesezeit ca. 3 Minuten

Der Text ist nicht wirklich eine Fortsetzung zu dem Text letzter Woche, ich hatte aber diesen Martin beim Schreiben im Kopf. (Tut mir leid, Martin!)

Stille, hatte Martin einmal gesagt, sei einfach nur das Gegenteil von Lärm. Er sagte das, um seine Verwirrung zum Ausdruck zu bringen, darüber, dass Menschen der Stille eine schon fast mystische Bedeutung andichten. Heilende Kräfte, eine Quelle der Energie, sich selbst finden und den eigenen Weg – all das soll die Stille bewirken können, dabei, fand Martin, war die Stille eben doch nur das: Das Gegenteil von Lärm.
„Wenn ich mich unbedingt selbst finden will“, ergänzte er, „dann kann ich das auch umgeben von Presslufthämmern. Es geht um Konzentration, weiter nichts.“ Aber für Martin war Stille auch kein besonders häufiger Zustand. Wenn er nicht redete, den stetigem Gedankenstrom in seinem Kopf nicht nach außen trug, dann hörte er Musik und wenn er keine Musik hörte, dann lauschte er auf seien Umgebung. Für Martin waren Geräusche das Leben, Lärm war nur ein Ausdruck intensiven Lebens. Vielleicht verachtete er die Stille nur, weil er sie nicht kannte.
Ohne ihn ist es seltsam still in der Wohnung und Birgit weiß nicht, wohin mit sich. Sie braucht Geräusche, braucht Lärm um sich, doch was immer sie tut, die Musik aufdrehen, mit den Tellern klappern, Staub saugen – nichts verdrängt die Stille. Als wäre sie ein schwarzes Loch, das alle Geräusche verschluckt. Als wäre sie viel mehr als nur das Gegenteil von Lärm. Als wäre Stille nicht nur die Abwesenheit von Geräuschen, sondern auch von Leben.
Und genau das ist sie ja auch, jetzt und hier, in der Zeit ohne Martin. Die Stille ist nicht einfach nur still, sie schreit und brüllt und tobt.
„Du hast dich geirrt“, flüstert sie in den leeren Raum. „Stille ist nicht das Gegenteil von Lärm. Sie ist die Steigerung. Sie ist so laut, dass wir davon taub geworden sind. Ich bin davon taub geworden. Oder ich wünschte es.“
Sie wünschte es, doch noch kann sie die Worte, die die Stille schreit überdeutlich hören. Zwei sind es und sie erzählen eine ganze Geschichte. ´Du fehlst`, sagen sie. Du fehlst.

Aufwärm-Schreibübung zum titelgebenden Wort

Mit diesem Text verabschiede ich mich in die Sommerpause. Voraussichtlich ab September geht es weiter mit der Donnerstagsgeschichte! Auf diesem Blog wird es aber nicht still, wir melden uns über den Sommer. Folgt uns gerne auf Instagram um nichts zu verpassen!

Heimkehr

von Jana, Lesezeit ca. 2 Minuten

Er war zu lange nicht mehr hier gewesen. Die niedrigen grauen Häuser, gedrängt und zerknittert wie ein zusammengeknülltes Taschentuch. Weggeworfen. Vergessen mit all ihren Erinnerungen. War da etwas gewesen? Etwas, das „gut“ sagte? Etwas, das nach Kindheit schmeckte? Nach Geborgenheit roch? Sich wie Ankommen anfühlte? Vertraut im Inneren nachhallte? Nein, nichts.
Keine Szene, die ein Lächeln in sein Gesicht zauberte. Auch keine, die Schmerz, Verzweiflung oder Wut mit sich brachte.
Könnte er nur hier oben stehen, auf die verlassene, weggeworfene Heimat eines Mannes schauen, der er selbst gewesen war und seine Wut hinausschreien: Laut, roh, verzweifelt.
Könnte er mit heraufbeschworenen Bildern glücklicher Tage den sterbenden Heimstätten Leben einhauchen, nur für einen sinnlosen, vergänglichen Moment.
Alles wäre besser als dieses Nichts, das sie einander spiegelten und das sich fortsetzte, bis ein Abgrund in einen anderen schaute. Selbst Schmerz wäre besser. Nein, nicht besser. Anders. Echter. Klarer. Fassbarer. Ein fassbarer Schmerz, ein Stachel, den er benennen und herausziehen könnte.
Er starrte in den Abgrund, der Abgrund starrte zurück. Ein zusammengeknülltes Taschentuch ohne strategische Bedeutung. Er wandte sich um.
„Brennt es nieder!“, befahl er.

P.S. Dieser Text ist entstanden, während ich „White Noise White Heat“ von Elbow in Dauerschleife gehört habe.

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Versprechen

von Jana, Lesezeit < 5 Min.

Als sie klein war, hielt Tom jedes seiner Versprechen: Dass keine Monster in der Dunkelheit unter ihrem Bett waren. Dass nichts passieren würde, wenn sie sich traute mit dem Fahrrad den Berg hinunterzufahren. Dass er seine Schokolade mit ihr teilte, wenn sie die Schuld für die kaputte Blumenvase auf sich nahm.

(Ihre Mutter hätte Tom sonst Hausarrest gegeben und er hätte nicht mit ins Fußballcamp fahren können. Bei ihr bedeutete Hausarrest, dass sie sich in Ruhe unter ihrer Bettdecke verstecken und ein Buch lesen konnte. Ihre Mutter hatte den Trick erst später verstanden.)

Als sie älter wurde, begann Tom jedes seiner Versprechen zu brechen: Dass er nach der Schule mit ihr spielen würde. Dass sie mit ihm und seinen Freunden mit zum See fahren konnte. Dass er in der nächsten Woche den Müll für sie raustrüge, wenn sie heute seinen Abwasch übernahm.

Als sie erwachsen war, machte Tom Versprechen, die er nicht halten konnte: Dass er ihre Eltern beruhigen würde, als das mit dem Studium nicht klappte. Dass er sie beschützte, falls ihr jemand würde wehtun wollen. Dass er den Kerl umbringen würde, als er die blauen Flecken an ihren Armen bemerkte.

Doch als sie 35 war, brach Tom das wichtigste Versprechen von allen: Dass er immer für sie da sein würde.

Sie wusste, er hatte das nicht gewollt. Es war der Lastwagenfahrer gewesen, der ungebremst bei Rot in die Kreuzung gerast war.

Und sie dachte an all die Versprechen, gehalten oder nicht, und fragte sich, warum es dieses eine war, dessen Bruch sie ihm nicht verzeihen konnte.

 

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