von Carmen, Lesezeit zwischen 5 und 10 Minuten
Das Verkehrsrauschen gehörte zum Zuhause dazu, wie Strom und fließend Wasser. Wie der Geruch nach einer Mischung aus Holzfußboden und dem Mittagessen. Wie die Wäschespinne, die ihren festen Platz in der Mitte des Schlafzimmers gefunden hatte und als Ablage für getragene Kleidung und Ordner jeder Art diente.
Das Verkehrsrauschen war so vertraut geworden, dass sie es gar nicht mehr wahrnahm. Nicht einmal die Feuerwehr, die nachts vorbeiraste und just vor ihrem Fenster an der Kreuzung Blaulicht und Sirene einschaltete, konnte sie aus ihren Träumen reißen.
Im Sommer hatte sie ihre Eltern besucht in der Kleinstadt, schon fast auf dem Dorf, und wurde jede einzelne Nacht um vier Uhr von ohrenzerschmetterndem Vogelgezwitscher geweckt. Es waren Angriffe auf den Gehörgang, die sich anfühlten wie ein tropfender Wasserhahn. Sie wusste, was kommt, doch sie konnte weder den genauen Zeitpunkt, noch den Rhythmus, noch die Dauer voraussagen. So hatte sie wach gelegen und es über sich ergehen lassen. Und erst dieser motivierte Gockel, der pünktlich um in aller Herrgottsfrüh herum anfing, sich die Seele aus dem Leib zu krähen und damit nicht vor neun aufhörte, obwohl weit und breit keine Konkurrenz oder auch nur ein einziges Weibchen zu sehen gewesen wäre. Seine Ausdauer war gleichermaßen zu bewundern wie zu bemitleiden, war er doch trotz strotzender Männlichkeit zu lebenslangem Verzicht verurteilt. Nach zwei Tagen Schlafentzug hatte sie dem Hahn von Herzen einen Deckel auf den Topf gewünscht. Nicht metaphorisch.
Seit dem Besuch bei ihren Eltern überrollten sie Hassgefühle unbekannten Ausmaßes, wenn sie nur an Federvieh dachte.
Zuhause überdeckte das bekannte Verkehrsrauschen all diese Störgeräusche ornithologischer und anderer Art. Es war stets ein vertrautes, beruhigendes Summen im Ohr, unterbrochen von gelegentlichem, kommunikativem Hupen und abgerundet von vereinzelt quietschenden Reifen. Gerade jetzt, wo bei dem fast sommerlichen Frühlingswetter die Fenster Tag und Nacht geöffnet blieben, waren die Verkehrsgeräusche zur immerwährenden Hintergrundmusik geworden.
So stach der laute Knall hervor, als sie den selbst gebackenen Hefezopf aus dem Ofen nahm, der einen warmen, vanilligen Duft verströmte.
Ein Knall, direkt gefolgt von lautem Schreien und einer schrecklichen Stille. Das stete Rauschen war weg. Den nun folgenden Mangel an Geräuschen empfand sie als zutiefst beunruhigend.
Sie lief zum Fenster und sah es sofort. Auf der Straße, weit unter ihr, lag ein Fahrradfahrer, zu erkennen am weißen Helm auf dem Kopf. Er lag auf dem Bauch und versuchte, sich hochzustemmen. Er schaffte es nicht. Eine Traube an Passanten hatte sich um ihn versammelt, aber es sah nicht so aus, als ob jemand Erste Hilfe leisten würde. Der Fahrradfahrer bewegte sich weiter, er setzte sich mit Mühe auf, redete mit den umherstehenden Menschen, ließ sich wieder zurückfallen und bewegte sich nicht mehr. Wo das Fahrrad war, konnte sie nicht erkennen. Ein paar Meter weiter sah sie die Ursache des unterbrochenen Rauschens: ein schwarzer Familienwagen mit geöffneter Fahrertür blockierte die komplette Fahrbahn. Es war kein Durchkommen mehr für Lastwagen, Auto, Bus oder Motorrad. Während sie einige Sekunden brauchte, die Situation einzuschätzen, überlegte sie, ob sie den Notruf wählen sollte. Da waren wirklich viele Menschen unten und sicherlich würde jemand … Aber andererseits, gelernt ist gelernt, und so griff sie zum Telefon und wählte die 112.
„Guten Tag, Sie haben den Notruf gewählt….“
„Ja. Guten Tag. Mein Name ist…“
„…Wir sind gleich für sie da.“
Sie starrte das Telefon an.
„Äh. Was?“
„Bonjour. Vous avez appelé le numéro d’urgence. Attendez svp. – Guten Tag. Sie haben den Notruf gewählt. Wir sind gleich für Sie da.“ Wiederholt in englisch, französisch, deutsch, italienisch, französisch, deutsch, englisch, irgendwas exotisches und wieder deutsch.
Sie starrte das Telefon weiter an. Eine Warteschleife? Für den Notruf? Wo jede Sekunde zählt?
„Guten Tag, Sie haben den Notruf gewählt. Wir sind gleich für Sie da.“
Draußen vor dem Fenster fing jemand an, die Trümmerstücke von der Straße aufzuheben und sie auf den Bürgersteig zu werfen. Jemand anderes fuhr den schwarzen Kombi zur Seite und machte eine halbe Fahrbahn frei. Der Stau, der sich gebildet hatte, löste sich langsam auf.
„Guten Tag. Sie haben den Notruf gewählt. Wir sind…“
Der Fahrradfahrer hatte sich nicht mehr vom Fleck bewegt. Mittlerweile hatte er sich schon seit einer Weile nicht mehr gerührt. Das Schreien hatte gestoppt. Sie wusste nicht, seit wann sie das Schreien nicht mehr gehört hatte. Dafür war das bekannte Rauschen nun wieder da. Aber das beruhigte sie nicht.
„Bonjour. Vous avez appelé le numéro d’urgence. Attendez svp.“
Es war nicht das erste Mal, dass sie den Notruf hatte wählen müssen. Wenn man an einer vielbefahrenen Kreuzung wohnte, hatte man den einen oder anderen Unfall miterlebt. Seit wann gab es eine WARTE-Schleife beim Notruf?
Sie blickte einmal über die Kreuzung. Sie konzentrierte sich auf das Rauschen. Waren da Sirenen? Sie konnte keinen Rettungswagen oder Blaulicht sehen. Da waren keine Sirenen.
„Guten Tag. Sie haben…“
„Hallo???? HALLO? Hört mich jemand?“ Da musste einfach jemand sein, der helfen konnte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie nur laut schreien musste, damit jemand aus seiner Mittagspause käme, und den Anruf annähme. Das ergab keinerlei Sinn. Es war 17 Uhr am frühen Abend und schon alleine deswegen eine Mittagspause höchst unwahrscheinlich. Ihr Vertrauen, dass immer, zu jeder Zeit, unter dieser Nummer Hilfe erreichbar wäre, war unerschütterlich. Das musste ein technischer Fehler sein. Es gab keine Warteschleifen für den Notruf! Seit wann gab es Warteschleifen für den Notruf? Vermutlich lief ein Band mit und es wurde alles aufgenommen. So musste es sein. Wenn sie nur laut genug schrie, würde es jemand mitbekommen, auch wenn sie nicht direkt mit dieser Person reden konnte.
„Hallooo?“
Der Fahrradfahrer lag unbeweglich auf der Straße, vor dem dicht vorbeifahrenden Verkehr geschützt durch die Passanten um ihn herum. Die Person am Boden musste verletzt sein, sonst würde sie doch zumindest von der Straße runter und sich auf den Bürgersteig setzen, oder?
Sie sah niemanden telefonieren. War der Notruf informiert? Konnte jemand dort unten die 112 erreichen? Hat jemand bereits die 112 erreicht? Oder waren alle in der Warteschleife, so wie sie und blockierten sich gegenseitig? Niemand war in der Warteschleife, denn niemand war am Handy. Aber andererseits waren ihre Augen nicht die besten, vielleicht erkannte sie es nur nicht. Vermutlich standen um die Kreuzung herum noch viele andere Menschen am Fenster. Die könnten doch alle bereits den Notruf informiert haben. Es sei denn, die fühlten sich nicht betroffen. Das war doch ein gängiges Problem, sagte man das nicht immer? Dass Menschen, die ein Unglück sahen, nicht helfen würden, weil sie dächten, jemand anderes würde helfen.
Sie lief zu ihrem Handy und überlegte, ob es Sinn ergab, parallel die Polizei zu rufen.
Aus ihrem Festnetztelefon erklang erneut: „Guten Tag. Sie haben…“
Ihr Herz hämmerte. Wenn sie nun die Polizei anrief und dann ging jemand beim Notruf ans Telefon, entstand nur Verwirrung, weil sie dann zwei Personen am Telefon hatte und sie erst wertvolle Sekunden brauchen würde, das zu klären und das ganze verzögerte sich weiter und sie wäre Schuld an einer Verwirrung, die am Ende vielleicht dem Menschen dort unten das Leben kosten könnte. Wenn sie nun nicht die Polizei rief, dort aber vielleicht jemanden erreicht hätte, beim Notruf aber weiterhin in der Warteschleife festhing, könnte diese Entscheidung ebenfalls das Leben des Verletzten kosten.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Die Situation unten hatte sich nicht verändert, der war doch nicht schon tot, oder? Mittlerweile war sie sich sicher, dass er es gewesen war, der am Anfang geschrien hatte und es nun nicht mehr tat.
„Guten Tag. Sie haben den Notruf gewählt….“
„Hallo? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Gehen Sie ran! Hallo!!!“, sie schrie ihr Telefon an und bemerkte nicht, wie ihr die Tränen über die Wangen flossen. Auch wenn ihr Kopf ihr sagte, dass es Unsinn war, glaubte sie fest daran, dass sie jemand hören musste. Dass es jemanden geben musste, der diesem unglücklichen Fremden da draußen helfen konnte. Dass da niemand vor ihren Augen sterben musste, weil hier, in ihrer Stadt, der Notruf nicht besetzt war.
Nach einer Ewigkeit hörte sie auf einmal ein Klacken in der Leitung.
„Guten Tag. Sie sprechen mit dem Notruf. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Als das Telefonat vorbei war, war sie selbst verwundert, dass sie die Informationen so ruhig und sachlich hatte durchgeben können. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass sie den Notruf gewählt hatte, vielleicht hatte ihr die Erfahrung geholfen. Als sie aufgelegt hatte, hatte sie gezittert. Ihre Hände waren eiskalt gewesen und sie hatte es nicht geschafft, das Telefon wieder in seine Halterung zu stellen. Nach mehreren Versuchen hatte sie es einfach daneben liegen lassen.
Am Ende des Gesprächs hatte sie auf die Uhr gesehen. Seitdem sie den Hefezopf aus dem Ofen genommen hatte, waren sieben Minuten vergangen. Zweieinhalb Minuten später war der erste Wagen der Polizei vor Ort, wenige Sekunden später folgte ein Krankenwagen der Feuerwehr.
Sie blieb noch eine Weile am Fenster stehen, vielleicht, um sich zu versichern, dass man dem Fahrradfahrer nun helfen würde. Dass alles gut werden würde. Vielleicht würde es das wirklich. Vielleicht war es zu spät.
In ihrer Stadt, einer Millionenstadt, am helllichten Tag, hatte sie sieben Minuten lang niemanden erreicht.
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