von Jana, Lesezeit ca. 5 Min.

Sie ist müde, so müde. Sie hat Mühe, den Kopf gerade zu halten und ihre Tasche hängt wie ein Sack Zement an ihrem Arm, dabei hat sie diesmal gar nicht die „komplette Ausrüstung für die drohende Apokalypse“ dabei, wie Ben sie immer aufzieht. Eigentlich ist die Tasche fast leer, bis auf ihre Geldbörse, aber da ist nicht annähernd genug drin, dass es dieses Gewicht erklären würde. Der Banküberfall ist erst für nächste Woche geplant. Wenn nicht noch etwas dazwischen kommt. Es kommt immer etwas dazwischen.

Sie überlegt, sich zu setzen. Ein Platz am Fenster ist frei und er wirkt so einladend, obwohl sie ihren potentiellen Sitznachbarn bis zu Tür riecht und die Sitzfläche ein Farbmuster aufweist, als hätte sich schon mal jemand darauf übergeben. Noch bevor sie die Möglichkeit einer Pause für ihre schmerzenden Füße gegen die Befürchtung abwägt, bis zur Endhaltestelle durchzufahren, weil sie im Sitzen definitiv einschlafen wird – Gestank hin oder her – drängt eine Gruppe junger Männer an ihr vorbei und postiert sich so ungünstig in dem wenigen Raum, dass sie den Sitz nicht einmal mehr sehen kann. Sie zieht sich an die Seite zurück, zum Faltenbalg im Gelenk der Tram und lehnt sich dagegen, während sie interessiert das Schild liest, dass man das nicht tun sollte.

Warum eigentlich nicht?, fragt sie sich. Was soll schon passieren? Tramreisende von Faltenbalg verschluckt! Junge Frau wurde auf der Fahrt nach Norden in einer Kurve in die Falten des Gummischlauchs gezogen. Mitreisende versuchten noch, sie zu fassen, konnten jedoch nur ihre Handtasche retten. Der Schultergurt der Tasche hat den Rettungsversuch nicht überlebt, was bedauerlich ist, da es sich um eine abgewetzte, aber doch echte rote Burberry-Tasche handelt. Erzählt sie von besseren Zeiten im Leben der Frau? Ihr Inhalt kann diese Frage nicht beantworten. Auch nicht, ob die Frau mit Absicht die Hinweise übersehen und sich in die Gefahr gebracht hat, in den unbekannten Ebenen hinter dem Faltenbalg zu verschwinden. Wollte sie ihrem Leben entfliehen? Was könnte sie dazu bewogen haben?

Von der jungen Frau fehlt weiterhin jede Spur. Nur ihr Freund erhielt kürzlich eine Postkarte, die besagte, es ginge ihr gut. Ab und an wirke ihr neues Zuhause sehr gedrängt, während die Tage sich ungewohnt in die Länge ziehen können.

„Ich muss hier raus!“, brüllt jemand in ihr Ohr.

Ich schon an der Haltestelle davor, stellt sie zerknirrscht fest, doch wenigstens bahnt ihr der unhöfliche Mann einen Weg durch die Menge nach draußen.

Sie hat fast eine halbe Stunde Weg vor sich und gerade jetzt melden sich ihre schmerzenden Füße zurück. Im Faltenbalg-Land hätte sie es leichter. Da müsste sie einfach nur warten, bis sich alles wieder zusammenschiebt und schon wäre sie da. Kein Wunder, dass man davor warnt. Einmal in Faltenbalg-Land würde sie wohl nie wieder zurückwollen.