von Jana, Lesezeit < 5 Min.
„Anne liebt Paul“ – so hatte es in verschnörkelten roten Buchstaben an der grau-gestrichenen Trennwand in der Mädchentoilette gestanden, zwischen anderen Sprüchen, manche klug, manche eklig und manche wenig kreativ wie „Mathe ist doof.“.
„Paul liebt Anne“ hatte auch jemand an die schmutzigen Fliesen in der Jungentoilette geschrieben in einer krakeligen Schrift, die aber ebenso wenig zuzuordnen war, wie die verschnörkelten Buchstaben, obwohl die ganze Schule rätselte, wer das Geheimnis ausgeplaudert hatte.
Das Geheimnis – oder war es nur ein Gerücht? Eine Erfindung?
Anne und Paul kannten sich schon ihr ganzes Leben lang. Sie wohnten in der gleichen Straße, nur zwei Häuser voneinander entfernt, ihre Eltern waren befreundet. Das führte zu Begegnungen, an die man sich nicht mal mehr halb so gern erinnerte, wenn man erst in der Pubertät war.
Paul hatte Anne in den geblümten Kleidchen gesehen, in die ihre Mutter sie früher gezwängt hatte. Anne wusste, dass Paul Stützräder an seinem Fahrrad hatte bis er sechs Jahre alt gewesen war – ein Jahr länger als sie selbst. Natürlich hatten beide auch gemeinsam Kirschen im Nachbargarten geklaut. Doch diese Verbundenheit hielt nicht mehr an, wenn man dreizehn wurde und es plötzlich cool war, Mädchen blöd oder Jungs kindisch zu finden.
„Anne liebt Paul“ – Anne fand, dass Paul großartig war, wenn er ihrer Nachbarin, der alten Frau Schneider, die Einkäufe nach Hause trug – doch er würde sie umbringen, wenn sie das jemandem erzählte.
„Paul liebt Anne“ – Paul fand, dass Anne am hübschesten aussah, wenn sie mit verstrubbelten Haaren und ungeschminkt ihrer Mutter bei der Gartenarbeit half – doch sie würde ihn für immer hassen, wenn sie wüsste, dass er sie so gesehen hatte.
„Anne liebt Paul“, „Paul liebt Anne“ – beide hätten sich eher die Zunge abgebissen als zuzugeben, dass in diesen Schmierereien vielleicht ein ganz kleiner Funken Wahrheit steckte.
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