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Schlagwort: Rushhour

Morgens während Corona (2)

von Jana, Lesezeit ca. 10 Minuten

Nach dem Ende des „Lockdowns“. Der Text entstand im Juni 2020.

Du kennst die Vorgeschichten noch nicht? „Morgens vor Corona“ und „Morgens während Corona (1)“. Lies los!

„Wir müssen uns darauf einstellen, dass unser Leben nach Corona ein anderes sein wird. Ein „wie vorher“ wird es nicht geben.“ Irgendjemand hatte das gestern in den Nachrichten gesagt. In den letzten Wochen, ja Monaten hatte immer wieder jemand so etwas gesagt. So oft, dass sie beinahe daran geglaubt hätte.

Sie starrt auf die Leute, die in den Bus drängen, die sie daran hindern, selbst auszusteigen, und weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Empört oder entsetzt oder gleichgültig sein. Erst aussteigen, dann einsteigen. Das hat vor Corona keiner kapiert, und das kapiert auch nach Corona keiner. Das war vor Corona scheiße und jetzt ist es noch beschissener. Nein, die Maske in deinem Gesicht allein hilft nicht, du Volltrottel. Abstand ist das Zauberwort. Anstand würde auch schon helfen. Beides bekommt sie heute morgen nicht und manchmal, ganz manchmal wünscht sie sich den Lockdown zurück. Die Zeit, als alle die Luft angehalten haben. Die Zeit, als die meisten noch dachten: „Scheiße, das ist schlimm.“ Denn bei ´Scheiße, das ist schlimm`, denkt man, dass sich etwas ändern muss. Bei ´Scheiße, das ist schlimm`, ist mancher sogar bereit, etwas zu tun. Zuhören. Rücksicht nehmen. Helfen. Die Augen aufmachen. Irgendetwas. Nicht blind in einen Bus rennen, so blind, wie durch das eigene Leben.

„Ein „wie vorher“ wird es nicht geben.“ Als sie den Satz zum ersten Mal hört, zieht sich ihr Magen zusammen. Ein bisschen Angst, ein bisschen Vorfreude, ein bisschen Abenteuer. Ein Aufbruch in unendliche Weiten, fremde Galaxien, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.

Vielleicht ist es doch ein Weckruf, diese Krise, diese Seuche, die so schnell zeigt, was schief läuft. Ein paar verheißungsvolle Phrasen ziehen durch die unzählbaren Sondersendungen, sie saugt sie begierig auf: Neubewertung, welche Berufe wirklich wichtig, weil systemrelevant sind. Diesen Berufen in Zukunft mehr Anerkennung schenken, auch finanziell, selbstverständlich, kollektives Klatschen reicht nicht. Flexiblerer Umgang mit Homeoffice, die Arbeit an sich soll neu gedacht werden. Sogar das bedingungslose Grundeinkommen wird ins Spiel gebracht. Ein Neustart mit Fokus auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Die Praktiken der Fleischindustrie hinterfragen, (wer hätte das gedacht) – so viele Hoffnungen, so viele schöne Phrasen. Und immer wieder Gemeinschaft. Solidarität. Im Moment würde ihr reichen, wenn wenigstens die Distanz geblieben wäre. Aber selbst die haben die meisten wohl nicht oft genug geübt.

Die letzte viertel Stunde fährt sie U-Bahn. 1,5 m sind viel weniger als man denkt, zumindest, wenn man sich selbst ein wenig Mut machen möchte. Und so eine Maske hilft bestimmt auch, wenn der Nebenmann sie nur in der Nähe der Nase trägt. Hauptsache, die Viren wissen, was gemeint ist. Und morgen fährt sie sowieso wieder mit dem Fahrrad, heute zählt quasi gar nicht.

„Ein „wie vorher“ wird es nicht geben.“ Nein, wohl nicht. In nächster Zukunft kann sie ihren Mitmenschen an der Nasenspitze ablesen, ob sie sich Gucci leisten können und welche Fußballmannschaft sie mögen. Sie wird an geschlossenen Lokalen, Läden und Kulturstätten vorbeigehen und sich nur mit Mühe erinnern, was dort eigentlich einmal war. Die Welt wird weniger bunt geworden sein, aber sie bezweifelt, dass es ihr auffällt. Sie könnte sowieso nicht alle Theater besuchen, selbst wenn sie wollte. Keine Zeit. Viel zu wenig Zeit. So viel von dem Verlorenen wird sie nicht vermissen.

Irgendwann wird sich alles wieder eingespielt haben, was wirklich wichtig ist. Die erste Wiesn nach. Das erste Fußballspiel mit Publikum nach. Der erste DAX-Stand von 13.000 Punkten nach. Das erste Dschungelcamp nach. Der erste …

Moment mal, da war doch… gab es nicht mal…?

„Ein „wie vorher“ wird es nicht geben.“ Doch niemand hat gesagt, wie das Nachher aussehen wird. Doch nur eine etwas blassere Kopie des Originals?

Aussteigen. Einsteigen. Den Zug verlassen, damit etwas neues passieren kann. Jetzt wird ihr klar, warum sich alles nur im Kreis dreht.

Und dann wird ihr klar, dass sie nicht vorhat, dabei mitzumachen.

Doch was wird sie tun? Erstmal eine Pause einlegen, denn rien ne va plus in Abschiede.

4

Morgens vor Corona…

von Jana, Lesezeit ca. 3 Minuten

Der Bus erreichte mit leichtem Schlingern die Haltestelle und bremste ab. Mühsam hatte sie sich bis zur Tür gedrängt, sah sich jetzt dem Pulk Pendler auf dem Gehsteig gegenüber.

Ja, natürlich, alle rein mit euch. Und bloß nicht auf Höflichkeit achten… oder Physik. Wo ein Körper ist, können auch mal fünf sein. Erklärt sich überhaupt nicht von selbst. Scheiß` Sci-Fi-Serien auf Netflix – Leute, das ist nicht das echte Leben! Ehrlich, aua! Ja, ich würde mich auch gerne sonstwohin beamen, könnt ihr mir glauben. War eigentliche eine bescheuerte Idee, alle alten Star Trek-Serien gleichzeitig anzufangen, einfach zu viele… genau. Wie dieser Haufen Idioten hier. Sch…! Erst aus-, dann einsteigen! Aus. Ein. Wie beim Atmen, aber das würdet ihr wahrscheinlich auch nicht hinbekommen, wenns nicht angeboren wäre. Da hat der komische Typ da ja nochmal Glück gehabt. Wie der Tod auf Latschen! Hat der überhaupt im letzten Monat geschlafen? Oder geduscht? Ekelhaft. Bloß nicht atmen… Schlafen! Bett! Das wär toll! Jetzt. Sofort. Ich muss endlich das Schlafzimmer streichen. Ist schon monatelang auf der To-Do-Liste. Nein, wenn du mir mit dem Kinderwagen über den Fuß fährst, geht es auch nicht schneller! Und bitte den Kaffee direkt über meine Jacke, heiß und fleckig, mein Lieblingsdesign. Design. Ja, Farben fürs Schlafzimmer – ist gar nicht so einfach. Malve? Rose? Irgendwas helles. Nicht zu viel. Mein Gott, hat der im Parfüm gebadet? Aber in dem seiner Oma.

Sie musste würgen. Sie fuhr die Ellenbogen aus und drückte sich durch die blind in den Bus drängende Menge. Endlich konnte sie wieder atmen.

Schreibübung zum Thema Gedankenstrom

Bus fahren in der Rushhour zu Corona-Zeiten? Fühlt sich so an: Morgens während Corona (1).

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