Geschichten. Überall und Jederzeit

Schlagwort: Lockdown

Aussteigen

von Jana, Lesezeit ca. 10 Minuten

Dieser Text entstand im Januar 2021 und ist die Fortsetzung zu Abschiede (kann aber auch allein gelesen werden).

Ein neues Jahr. Trotz Stillstand, trotz Innehalten, trotz Lockdown. Es ist einfach passiert, so wie viele Dinge einfach passieren. Die Welt hält nicht an, doch diesmal ist sie erleichtert, dass es weiter geht, auch bei ihr. Sie fährt schon eine Weile wieder Bus, jeden Morgen, ganz knapp nach der Rushhour, sodass ihr das morgendliche Chaos erspart bleibt. Vielleicht gibt es aktuell aber auch gar kein Chaos, immerhin ist Lockdown 2.0. Nicht einmal Weihnachten blieb verschont und ihr ist schon klar, dass die Lage ernst ist, aber es gab Momente, da hätte sie sich fast einen Aluhut gekauft.
„Weihnachten mit der Familie, ja – aber bedenken Sie, wie viele Weihnachten Sie noch mit ihren Eltern haben wollen.“ Na viele, oder etwa nicht? Herzlichen Dank für nichts! So, als würde man seinem Kind einen Schoko-Weihnachtsmann schenken und ihm beim Essen haarklein erzählen, wie gefährlich Zucker ist. Nur ohne die Schokolade und dafür mit bitterem Ernst. „Sie dürfen Ihre Eltern besuchen, aber bitte nicht reisen.“ Wissen PolitikerInnen wirklich so wenig über das Land, das sie regieren? In ihrem Abitur-Jahrgang jedenfalls ist die Mehrzahl der Leute weit weg von zu Hause gezogen, weil das war so. Anders ging es gar nicht, wenn man eine Arbeit wollte, die einem den Lebensunterhalt finanziert. Eltern besuchen heißt Reisen und Politik ist offensichtlich lebensfremd. Lebensfremder sind nur die Menschen mit den Aluhüten (deswegen hat sie doch keinen), die maskenlos und eng umschlungen ins Verderben tanzen und darauf auch noch stolz sind. Die können ja gerne tun und lassen, was sie wollen, denkt sie, wenn sie nur nicht nach den Demos mit dem Zug nach Hause fahren würden. Dem Zug, in dem auch sie sitzt und viele andere unschuldige Mitmenschen. Verantwortungslos. Nein, nicht rebellisch oder augenöffnend. Einfach nur verantwortungslos.
Über Verantwortung denkt sie gerade viel nach, über ihre und die der anderen, unabhängig von Aluhüten. Es geht um Schuhe. Sie neigt dazu, sich fremde anzuziehen. Viele fremde Schuhe und einer passt schlechter als der andere. Vor allem, weil sie in High Heels überhaupt nicht laufen kann, nicht einen Meter.
Sie neigt auch zu anderen Dingen, die das Leben schwerer machen. Und sie fragt sich warum. Warum, warum und nochmal warum. Sie geht oft spazieren, um diesen ganzen Warums auf den Zahn zu fühlen, aber dann verliert sich ihr Blick doch in den See und die Vögel darauf, die Enten, Schwäne, Blässrallen und sogar Möwen und die Gedanken ziehen irgendwohin. Ins Unterbewusstsein vielleicht, denn dann stolpert sie eines Tages doch über eine Antwort und dann noch eine und noch eine. Das Puzzle setzt sich nach und nach zusammen, langsam, viel zu langsam für ihren Geschmack. „Das Gras wachsen lassen“, ein guter Ratschlag, den sie nur schwer befolgen kann. Sie zerrt viel lieber daran, denn dann muss sie nicht warten, bis etwas getan wird. Am Ende gefällt ihr das Getane vielleicht nicht!
Abwarten und Tee trinken. Warten, bis die Leute ausgestiegen sind, bevor man selbst einsteigt. Und ist es nicht die Ironie ihres Lebens, dass sie darüber drei Texte verfasst hat und es selbst doch nicht beherrscht? Gut, dass sie wenigstens über sich selbst lachen kann.
Aussteigen. Gerade ist sie ausgestiegen für einige Wochen, doch irgendwann wird sie wieder einsteigen müssen. Noch ist es nicht soweit. Noch steht sie an der Haltestelle, studiert aufmerksam den Fahrplan und überlegt, wo sie eigentlich hin will. Sie hat alle Zeit der Welt und das ist auch gut so, denn die Tasche, die sie mitnehmen will, ist viel zu schwer. Sie muss einiges auspacken, verschenken oder wegwerfen oder eintauschen gegen anderes, das sie vergessen hat, aber dringend braucht. Einige ihrer Reisegefährten muss sie noch einladen, anderen muss sie absagen, die haben keinen Platz mehr im Bus.
Oder lieber ein Schiff? Über das Meer, ihren Wohlfühlort, immer Richtung Horizont, Stürmen und Seeungeheuern trotzend auf dem Weg in ferne, exotische Länder?
Oder ein Raumschiff auf dem Weg in unendliche Weiten, fremde Galaxien, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat?
Doch wofür sie sich auch entscheidet, auf dieser Reise wird sie wieder am Steuer sitzen. Hat sie Angst? Fürchterliche. Aber sie ist ja nicht allein. Genau wie Kirk und Picard hat sie ihr eigenes Team, im innen und außen, und sie hat einen Kompass, der sie auf dem Weg hält. Den Reiseführer wird sie zu Hause lassen, denn so genau, will sie gar nicht planen. Lieber die Aussicht genießen, lieber mal schauen, was kommt, lieber das Gras wachsen lassen, nach seinem eigenen Tempo. Der Weg ist das Ziel, auch wenn sie sich gerade nicht tatsächlich vom Fleck bewegen kann. Lockdown long. Alles steht. Gut, dass für ihren neuen Weg erstmal nur ein Schritt nötig ist und noch einer und noch einer. Es dauert, bis sie die fünfzehn Kilometer zusammen hat und wer weiß schon, wie die Welt dann aussehen wird?

Die „drei Texte“, die sie verfasst hat, sind die Vorgänger zu „Abschiede“ und ihr findet sie hier: Morgens vor Corona, Morgens während Corona, Teil 1 und Teil 2.

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Abschiede

von Jana, Lesezeit < 10 Minuten. 

Der Text ist ziemlich genau am 01. November 2020 entstanden und hängt lose mit der „Morgens vor/während Corona“-Reihe zusammen.

Und wieder ein Abschied, denkt sie, als die neuen Maßnahmen verkündet werden. Ein Abschied von wiedergewonnenen Freiheiten, wiedergewonnener Normalität. Aber was ist schon normal, normal ist längst überholt, normal ist das vorher und zum vorher geht es nicht zurück. Die Welt hat sich verändert, die Menschen haben sich verändert, sie selbst hat sich verändert. Erst schleichend, dann mit Wumms. Der Tag, an dem sie einfach nicht mehr aufstehen konnte, war nicht der Anfang des Problems, sondern das Ende. Ein Zwangsabschied vom Bisher und dann eine lange Pause. Not available at the moment, please call again later. Out of order. Rien ne va plus.
Und jetzt? Jetzt weiß sie langsam wieder, wie sich Sonne auf der Haut anfühlt, ein Lächeln an den Mundwinkeln. Wie sich die Muskeln bewegen beim Spazieren gehen. Wie es sich anfühlt, wenn Atem in den Körper strömt, wenn sich die Augen schließen und man einer inneren Ruhe lauscht und nicht vom lauten und hektischen Brüllen der eigenen Antreiber begrüßt wird. Sie hat ihr Leben wieder, ein kleines Stück davon. Und sie weiß, dass sie den Rest davon, der jetzt frei und offen ist, mit neuen Dingen füllen will. Dinge, die sich gut anfühlen. Dinge, die Sinn ergeben. Alles will, kein Muss. Das ist Luxus, das ist ihr klar, und die Zweifel, ob sie diesen Luxus verdient hat, laufen immer mit. Nur sie hat keine Wahl, sie kann nicht zurück, zurück hat nicht funktioniert.
„Ein „wie vorher“ wird es nicht geben.“ Der Satz hatte für Wochen die Medien bestimmt. Aktuell ist es ein „Lieber jetzt schlimm, als später schlimmer.“. Sie weiß nicht, was sie davon halten soll und im Moment fällt es ihr ohnehin schwer, dem Alltag zu folgen. Sie ist gerade kein Teil davon. Es ist ein Ausstieg auf Zeit, ein Ausstieg, den sie jeden Tag versucht zu genießen, soweit das eben möglich ist.
„Abschied heißt doch auch weitergehen“ sagt ein Lied, das sich irgendwann mal in ihre Festplatte geprägt hat. Abschied heißt Veränderung. Wenn etwas geht, kann etwas Neues kommen, also warum fühlt sie sich gerade so, als würde die Welt untergehen? Vielleicht sind es gerade zu viele Abschiede. Da ist der funktionierende Alltag, dem genau das Funktionieren zum Verhängnis wurde ist.
Da ist der Freund, der ihr die Freundschaft gekündigt hat. Sie würde still stehen, würde sich nicht genügend verändern. Sie wäre kein Mensch, den er um sich haben will. Nun, still stehen ist gerade alles, was sie kann. Die Veränderung würde kommen, sie will sie, kann sie schon vage riechen. Aber sie wird bestimmt nicht so, wie er es gerne hätte. Also ist es ein Abschied auf immer inklusive des Lochs in ihrem Herzen.
Dann noch der Abschied von der zurückgewonnenen Freiheit: die Freunde, die sie wieder umarmen konnte, der Cappuccino im Lieblingscafé, die Sonnenterrasse beim Italiener, das alles muss sie wieder hergeben, ein Abschied auf Zeit, aber ein Abschied.
Und zuletzt dieses Jahr, das so gute und so furchtbare Momente hatte und das sich in Kälte, Nebel und fallenden Blättern langsam auflöst. Keine Weihnachtsmärkte in diesem Jahr. Keine Lichterinseln, kein gemeinschaftliches Zelebrieren, um dieses Jahr zu einem guten Ende zu bringen. Ein Abschied, der neu inszeniert werden muss. Aber diese Inszenierung hat noch Zeit.
Erstmal ist November mit Allerheiligen und dem Gedenken an jene, die wir längst verabschiedet haben. Grabgestecke und ewige Lichter zwischen Halloween-Kostümen und Kürbissen. Eine seltsame Mischung, findet sie, während sie die Leute in der S-Bahn beobachtet. Ein kleines Mädchen ist da, vielleicht fünf Jahre alt, das laut zu ihrem Begleiter sagt: „Papa, ich bin immer noch traurig wegen der Mama.“ Der Satz könnte alles bedeuten. Doch das Grabgesteck auf ihrem Schoß, die plötzliche Stille im Zug, der Blick ihres Vaters sagen etwas anderes. Ihr Herz krampft sich kurz zusammen.
Abschied, überall, wo sie gerade steht und geht. Aber ihr eigener ist ein Abschied, um weiterzugehen. Welch unverschämtes Glück sie hat.

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