von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten
Teil 1 der Geschichte findet Ihr hier: Über Zitronenfalter (1)
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In den kommenden Wochen stellte Jo zu ihrer Erleichterung drei Dinge fest:
1. Sie konnte selbstständig den Weg nach draußen finden. Tatsächlich hatte ein vorausschauender Mensch Hinweisschilder in den Gängen angebracht, die ihr auf ihrem ersten Weg durch das Labyrinth nur nicht aufgefallen waren.
2. Hinter den vielen verschlossenen Türen saßen tatsächlich echte Menschen, einige sogar äußerst freundliche Kollegen.
3. Es gab einen Raum mit Putzmitteln, die zur freien Verfügung standen. So konnte sie – mit Hilfe einiger der neu entdeckten Kollegen – ihre Staubhölle in ein halbwegs benutzbares Büro verwandeln.
Müller, Ernst Müller hatte sie nicht wieder gesehen, ebenso wenig einen Kollegen der IT oder den Abteilungsleiter. Auf dem Computer, der zu ihrem Röhrenbildschirm gehörte, lief nur eine fast vergessene Version von Solitär, die sie aber für eine Woche zur beliebtesten Kollegin auf dem Flur gemacht hatte.
Das sogenannte Faxgerät spuckte mindestens einmal am Tag eine Seite mit einer seltsamen Zahlenfolge aus. Es war immer die gleiche Folge, trotzdem hängte Jo alle Seiten an der Wand hinter ihrem Schreibtisch auf. Sie betrachtete es als eine Art Rätsel, genau wie die Kiste, die sie neben dem Schreibtisch gefunden hatte und die einige persönliche Dinge ihres Vorgängers enthielt. Eine weiße Kaffeetasse, ein Bild von einem Bergsee und einen vier Jahre alten Taschenkalender, in dem nur drei Termine standen: 05. Februar, 18.00 Uhr Stadtsparkasse, 12. Februar 18.00 Uhr Friseur, 03. März 12.00 Uhr Karen.
Besonders der Mittagstermin mit Karen schien ihr interessant. Ein weiteres Rätsel, das es zu lösen galt. Die Kollegen auf dem Flur lästerten gerne über Gregor Berger, ihren Vorgänger. Pedantisch sei er gewesen, engstirnig, karriereorientiert und gleichzeitig arbeitsscheu. Eines Tages war er plötzlich nicht mehr erschienen und keinen hatte das sonderlich gestört.
Karen war ebenfalls eine ehemalige Kollegin, aber alles was Jo über sie erfuhr, war, dass sie wie ein Wind durch die Abteilung gefegt war und seit etwa vier Jahren durch die Welt trampte.
Vier Jahre Weltreise. Ein vier Jahre alter Taschenkalender. Leider kam die Vier in keiner der Zahlenfolgen vor. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass alles irgendwie miteinander zusammenhing.
Das Rätsel begleitete sie mittlerweile bis in ihre Träume. Erst letzte Nacht hatte sie in ihrem Büro gestanden. Am Schreibtisch hatte ein junger blasser Mann gesessen. Er trug blondes, glänzendes Haar, eine Brille und eine braune Tweedjacke, die ihn um 20 Jahre altern ließ. Er tippte wild auf die Tastatur ein, als die Tür aufging.
„Gregor, hast du kurz Zeit?“
„Nein, ich schreibe die Ist-/Soll-Statistik für Herrn Müller.“
„Oh, verstehe, es dauert auch nicht lang. Ich habe hier einen Fall, bei dem du mir helfen könntest.“ Gregor hatte aufgehört zu tippen und schaute auf die Unterlage, die die Kollegin ihm zeigte. „Es geht um…“
„Das habe ich schon abgelehnt“, unterbrach er sie, „nicht unsere Zuständigkeit.“
„Ja, ich weiß, nicht so direkt. Aber ich dachte…“
„Nicht zuständig.“
„Schon, aber, wenn man ein bisschen weiterdenkt…“
„Weiterdenken hat noch niemandem genützt. Wir sind nicht zuständig und wir sind genug mit dem beschäftigt, für das wir zuständig sind.“
Und dann hatte Gregor weiter getippt und Jo war schweißgebadet und mit klopfendem Herzen aufgewacht. Die Uhr hatte vier Uhr früh gezeigt. An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken gewesen.
Mittwochmorgens in ihrer zweiten Arbeitswoche wartete Müller, Ernst Müller bereits vor ihrem Büro. Der Anblick ließ sie innerlich seufzen. Ein weiterer Albtraum, immer das gleiche Gespräch, hing noch in ihren Gedanken. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt, obwohl sie den Wecker extra eine Stunde weiter gestellt hatte. Müller, Ernst Müller bedachte sie mit missbilligendem Blick.
„Guten Morgen, Frau… Jo.“ Er sah auf die Uhr, während sie die Tür aufschloss. „Die Kernzeit beginnt um 9.30 Uhr.“
„Es ist 9.30 Uhr.“
„Nein, es ist 9.33 Uhr.“
Jo hätte erwidern können, dass es genau halb zehn gewesen war, als sie das Bürogebäude betreten hatte. Was konnte sie dafür, dass dieses Büro so weit vom Eingang entfernt war? Aber sie war zu müde zum diskutieren, sie hätte wohl doch noch einen vierten Kaffee trinken sollen.
Sie sagte nichts und Müller, Ernst Müller kommentierte ihren Fauxpas mit keinem weiteren Wort.
„Der Abteilungsleiter möchte Sie sprechen“, erklärte er stattdessen und Jo war so überrascht, dass sie beinahe gefragt hätte, wer das war.
Doch dann fiel ihr wieder ihr erster Tag ein und sie erinnerte sich an den Mann, der sie den Kollegen hätte vorstellen sollen, gleich nachdem die IT sich um ihren antik anmutenden Computer gekümmert hätte. Jo formulierte es etwas diplomatischer, doch ihr Gegenüber musterte sie nur irritiert.
„Sie haben sich keinen Termin geben lassen?“
„Wie bitte?“
„Beim Abteilungsleiter. Sie hätten sich für die Vorstellung einen Termin geben lassen müssen. Das ist doch selbstverständlich.“
War es das? Jo wurde flau im Magen. Zu viel Kaffee, nur zu viel Kaffee.
„Nun, das lässt sich nicht mehr ändern, kommen Sie mit.“
Sie folgte Müller, Ernst Müller wieder durch endlose graue Gänge und konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie am Ende des Weges etwas Schlimmes erwartete. Nach der dritten Abzweigung hielt sie es nicht mehr aus.
„Worüber möchte der Abteilungsleiter mit mir sprechen?“
Müller, Ernst Müller zuckte mit den Schultern. „Wer weiß das schon. Ich sagte ja: Zitronenfalter.“
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