Dieser Brief ist am 6. Juli 2018 entstanden.
Ich poste ihn heute, um an einen besonderen Menschen zu erinnern, seinetwillen.
Und um mich an ihn zu erinnern, meinetwillen.
von Carmen
Das erste, was ich tun wollte, war zum Telefon greifen und dich anrufen. Deine Stimme hören, hören, dass es dir gut geht. Dass du irgendetwas sagst, vielleicht verwirrt, dass ich überhaupt anrufe. Denn telefoniert haben wir bis heute nie. Ein paar Sprachnachrichten, ein paar Whatsapps, Facebook, stundenlang gechattet im Spiel „Die Siedler“. Anonym, unerkannt, Nightmare und die Zarin.
Wir haben davon geschrieben, einander zu besuchen. Ich war unverbindlich, doch du wolltest unbedingt herkommen. Ich hab dir geschrieben, ich wohne im 5. Stock, du sitzt im Rollstuhl, hier gibt es keinen Lift, wie sollte das gehen. Heimlich war ich erleichtert, die Bekanntschaft war dazu verurteilt, künstlich zu bleiben, nur im Netz weiterzuexistieren. Damit kann ich umgehen. Reale Menschen, die Nähe zu mir suchen, verbindlich sind, überfordern mich. Stoße ich weg. So habe ich auch dich weggestoßen: einen großartigen Chatpartner, lustig, immer hilfsbereit im Onlinespiel.
Wenn du schriebst, dass es dir schlecht ginge, dass du Kopfschmerzen hast, dass du wieder einmal krank bist, dass du nicht schlafen kannst, übermüdet bist, habe ich es abgetan. Es war eine ewige Jammerei, der ich auch online nur begrenzt zuhören wollte. Du kannst dich nicht länger konzentrieren, du lagst monatelang im Koma. Und ich habe vergessen, warum. Ich habe tatsächlich vergessen, warum du im Koma lagst. Ich habe es vergessen. Wie konnte ich nur? Wie konnte mir das so egal sein? Dabei wusste ich, du warst einer der seltenen Fälle, wo ich mir – ohne es zuzugeben – tatsächlich sicher war, dass du ein guter Mensch bist. Was auch immer das ist, aber du warst ein guter Mensch. Herzensgüte klang aus allen deinen Chats heraus. Ja, manchmal lästertest du auch ganz gern, aber du nahmst dich selbst nie aus, nahmst dich selten zu ernst.
Du hast mir von einer Frau erzählt, die du getroffen hast. Du bist extra stundenlang zum Weihnachtsmarkt gegangen, um an ihrem Stand Glühwein zu bestellen, sie zu sehen, mit ihr zu reden und zu lachen. Rastalocken hatte sie, darauf stehst du, sagtest du. Kurios, dachte ich. Du warst jemand, der gegenüber seinen Freunden und Menschen, die er mochte, selbstlos auftrat. Opfer einging, Unangenehmes auf sich nahm. Du wärst auch hier die fünf Stockwerke Altbau hochgestiegen, irgendwie. Wenn das der Freundschaft zuträglich gewesen wäre, hättest du versucht, das hinzubekommen, es irgendwie zu organisieren.
Ich daneben tat viel zu groß, viel zu wichtig, überheblich. Dazu tendiere ich, wenn die Person neben mir sich so klein macht, wie du es tatest. Beide waren wir unsichere Menschen, die diese Unsicherheit unterschiedlich kanalisierten.
Du auf offene Weise.
Als ich mit dem Spiel aufhörte, brach der Kontakt ab. Du hast dich nochmals gemeldet und geschrieben, dass es dir egal sei, ob ich spielte oder nicht, Hauptsache wir blieben in Kontakt. Taten wir nicht. Ich meldete mich nicht mehr. Warum auch, was hätte ich denn auch sagen können. Was hat jemand wie ich denn zu sagen? Nur – das weiß ich – ist das die falsche Frage. Freunde hören zu.
Am 22. Juni 2018 bist du gestorben. Im Urlaub in Tunesien, morgens nicht mehr aufgewacht. Hast du gelitten? Hattest du Schmerzen? Ist das jetzt noch relevant? Hast du dich einsam gefühlt?
Einen Tag später stand es auf Facebook. Ich habe die Nachricht deiner Schwester gelesen und sofort war klar, dass etwas fehlt. Das Gefühl war sofort, unmittelbar und überwältigend. Etwas Selbstverständliches fehlt. Was für ein riesengroßer, irreparabler Irrtum dieses Gefühl der Selbstverständlichkeit doch ist.
Ich habe die Nachricht gelesen und wollte zum Telefon greifen, dich anrufen. Dich fragen, ob es stimmt. Hören, dass sich da jemand einen wirklich makaberen, schmerzhaften Scherz erlaubt. Ich las die Nachricht wieder und wieder. Denn das kann doch nicht sein. Am 31. Juli hättest du deinen 31. Geburtstag gefeiert. So jung stirbt man nicht. Das tut man einfach nicht.
Erst die Beileidsbekundungen unter dem Post brachten mich dazu, es zu glauben.
ES…
Deinen Tod als gegeben hinzunehmen. Dem Drang, zum Telefon zu greifen, nicht nachzugeben.
Lieber Daniel, heute, zwei Wochen später, schaffe ich es endlich, zu weinen. Genau zwei Wochen, nachdem du eingeschlafen bist, ohne jemals wieder aufzuwachen.
Leb wohl, mein Freund.
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