Geschichten. Überall und Jederzeit

Schlagwort: Familie

von Jana, Lesezeit < 5 Minuten

„Wir schließen in dreißig Minuten.“ Wie oft sie diesen Satz schon gehört hat. Sie gibt immer die gleiche Antwort („Das macht nichts.“), reicht die Jahreskarte über den Tresen und bekommt sie mit dem Papierticket zurück. Dann an den restlichen Kassen vorbei, geradeaus und nach rechts. Die Sonderausstellung. Letzter Tag.
Sie hat geglaubt, sich lange genug darauf vorbereitet zu haben, auf das Loslassen und doch gibt ihr das rot leuchtende Hinweisschild einen Stich. Sie nickt der Aufsicht kurz zu, geht in die Räume. Im letzten Saal ist die Wand mit den Fotografien. Er ist leer, wie immer um diese Zeit und sie setzt sich auf die mittlere Bank. Von hier aus hat sie den besten Blick.
„Der Künstler begann mit Fotografien.“ Einmal war sie zu einer Führung hier gewesen. „Sie sehen eine Auswahl von Motiven seiner Heimatstadt. Man kann schon an diesen Fotos seinen außergewöhnlichen Blick für Perspektive erkennen. Wenn Sie genau hinsehen…“
Sie hat es sofort erkannt. Das windschiefe Dach, die schmale Regenrinne, die die Vorderfront in der Mitte teilt und auf der Rückseite der Walnussbaum, majestätisch und ausladend überragt er das Hexenhäuschen. So hatten sie es getauft, Hexenhäuschen. Wenn sie die Augen schließt, dringt der Geruch der Küche zu ihr, nach Äpfeln und Moder, tanzen Staubflocken vor ihren Augen im Sonnenlicht, das durch die blankgeputzten Scheiben fällt. Sie fühlt die Stille auf ihren Schultern, die in der guten Stube einzuhalten war, wo ihr Großvater mit der Pfeife im Sessel saß und vor sich hin dachte. Sie spürt das Gras unter ihren Fußsohlen, schmeckt die frisch geknackten Walnüsse auf der Zunge.
Wenn Sie genau hinsehen. Steht dort hinter dem Fenster im ersten Stock nicht jemand? Das Schlafzimmer ihrer Großeltern. Winkt die Person ihr nicht gerade zu? Vielleicht ihre Großmutter als junges Mädchen?
Vielleicht nur ein Schatten, eine optische Täuschung. Das Hexenhäuschen gibt es schon lange nicht mehr.
„Verzeihung, aber wir schließen jetzt.“ Sie hätte das Bild kaufen sollen, vielleicht war das sogar möglich. Oder wenigstens den Ausstellungskatalog, aber sie weiß, sie wird es nicht tun. Sie will die Erinnerungen nicht mitnehmen, zwölf Wochen Ausstellung waren genug.
„Ist gut, danke.“ Sie steht auf und fragt den Aufseher, welches Bild ihm am besten gefällt. Es ist ein Gemälde vom Meer.
„Ein Klassiker, ich weiß, aber es erinnert mich an zu Hause, verstehen Sie?“
Nur zu gut.

 

Diesen Text habe ich auch zu Hause fertig geschrieben. Ich hatte tatsächlich nur dreißig Minuten bis Schließung und habe in dieser Zeit lieber die Atmosphäre mehr auf mich wirken lassen.

von Carmen, Lesezeit ca. 5 Minuten

Der Großonkel wird 80. Ein stolzes Alter und doch ist er das Nesthäkchen. Der kleine Bruder, der nur „unser Günter“ heißt, wenn seine großen Schwestern, darunter meine Oma, 92, ihn meinen.
Heute vormittag habe ich meine Großmutter abgeholt, sie und ihren Rollstuhl eingepackt, und bin eine Stunde lang in die Gegend ihrer Kindheit gefahren.

Die Weinberge, die Bauernhöfe, der Fluss – zu allem hatte sie eine Geschichte zu erzählen.
Diese Kellerei hat einige der Weinberge unserer Familie, meiner Urgroßeltern, aufgekauft.
Dieser Bauernhof, ein windschiefes Gebäude, das aussieht, als hätte es seit Jahren niemand mehr betreten, gehörte einer Familie, deren Söhne im Krieg alle gefallen sind.
Überhaupt der Krieg. Für meine Oma ist er allgegenwärtig. Seine Folgen sind allgegenwärtig – Bauernhöfe, die nicht mehr betrieben worden sind, Familien, die entzweit wurden, Männer und Söhne, deren Verbleib unbekannt ist. Menschen, die sich neu orientieren mussten, denen nichts anderes übrigblieb, als zu improvisieren.
Zwischen den alten Gebäuden, an denen wir vorbeifahren, stehen die neuen Häuser, architektonische, anachronistische Meisterwerke, wunderschön an sich, Landschaftsverschandelungen im Gesamtkonzept.

Wir erreichen eine Gaststätte, wohl ebenso alt wie das Geburtstagskind, gute bürgerliche Küche. Viel Fleisch, viel regionales Gemüse, deftig, herzhaft, lecker. 30 Leute sind eingeladen, namentlich kenne ich eine Handvoll. Von den Geschwistern gibt es noch drei. Vor zwei Jahren waren es noch sechs, fünf Schwestern und unser Günter. Mit Ausnahme des Nesthäkchens sind und waren alle über 85.
Langlebige Gene.

Nun feiert der Jüngste und wünscht sich, in 10 Jahren seinen 90. auch mit seinen verbliebenen Schwestern feiern zu dürfen. Doch die winken ab. Durchhalten, die 100 knacken, nur um dem kleinen Bruder einen Gefallen zu tun. Darauf haben beide nun wirklich keine Lust. Müdigkeit schleicht sich ein.

Die Luft hier drin ist verbraucht, 4 Gänge gut bürgerliches Essen sind dabei, verdaut zu werden. Kaffee ist nirgendwo in Sicht. Meine Konzentration fängt an zu schwinden und ich setze mich etwas abseits, um in Ruhe schreiben zu können.
Die Tanten, Nichten, Großneffen, Schwiegerkinder, Adoptivkinder und Verwandte, für die es schon keine Bezeichnung mehr gibt, unterhalten sich angeregt. Langsam bleiben die Namen haften, langsam kann ich mir merken, wer wer ist. Wir sehen uns so selten – Geburtstage und Beerdigungen. Mit Mitte 20 ist meine Oma ausgewandert. Nicht weit weg, aber weit genug. Der Besuch bei den Geschwistern wurde zum Tagesausflug, zum Wochenendausflug, zur Rarität. Einen Führerschein besaß meine Oma nie, mein Opa ist früh krank geworden – wieder einmal die Altlasten des Krieges – und hat sie früh zur Witwe gemacht. Mein Vater arbeitete. Wer hätte sie fahren können?

Zuerst wollte meine Oma nicht auf diese Party. Zu alt sei sie, zu anstrengend die Feier. Und dann die Sache mit dem Rollstuhl und den WCs – bis zuletzt war nicht sicher, ob es behindertengerechte Toiletten gibt. Die Angst, mit heruntergelassener Hose nicht mehr aufstehen zu können. Doch gleichzeitig gibt es nicht mehr so viele Möglichkeiten, die Familie zu sehen. Geburtstage und Beerdigungen. Die Gelegenheit bei Schopfe packen. Und so hat sie mir, ihrer Fahrerin, ihre Zweifel nicht mitgeteilt, nur meinem Vater hat sie sie erzählt.

Seitdem wir hier sind, lacht sie unentwegt. Unterhält sich mit jedem, der sich zu ihr hinunterbeugt. Erzählt mit Lachtränen in den Augen, wie ich mich auf dem Hinweg verfahren habe, von unserer „Reise nach Jerusalem“, wie wir auf einmal hinter dem Friedhof des Nachbarorts festhingen. Nunja, ich kenne die Gegend nicht und das Navi wohl auch nicht.

Am Ende schreibe ich in Ruhe meinen Text. So viele fremde Freunde überfordern. Unser Günter setzt sich zu mir. Ich sehe die Lachfältchen um seine Augen. Er raunt mir zu, dass er sich vom Dessert-Buffet, das noch nicht eröffnet ist, eine Kanne Kaffee stibitzt hat. Wir verstehen uns.

2

Familienabend

Erinnert ihr euch noch an unser Adventsspiel? Damals haben wir 
5  Wörter vorgeschlagen, um daraus eine Geschichte zu basteln.
Marienkäfer, Petersilienhochzeit, Luftpolsterfolie, Massenmörder, Platzhalter
Eine mögliche Geschichte geht so:

von Carmen, Lesezeit <5min

„Sie ist nichts weiter als ein kleiner Terrorist!“ Es glänzte verräterisch in den Augen der jungen Frau, als sie den Kopf von der Grußkarte hob und in Richtung Kinderzimmer blickte. Von dort war nach einer sehr kurzen, sehr trügerischen Stille neues, ohrenbetäubendes Geschrei zu hören.
„Nana, so kannst du sie doch nicht nennen!“ Ihr ebenso junger Ehemann versuchte es in beschwichtigendem Tonfall, obwohl man ihn bei diesem Lärm fast überhörte.
„Warum denn nicht??? Immer, immer, immer schreit sie. Sie hat keinen Hunger, sie ist nicht krank, sie liegt trocken und warm. Sie weint, wenn ich sie halte, sie weint, wenn du sie hältst, sie weint im Bettchen. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal geschlafen habe. Ich schaffe es nicht einmal mehr, einen Text für Sylvias und Hennings Petersilienhochzeit zu schreiben.“ Nun waren die Tränen in ihren Augen deutlich zu erkennen. „ICH DARF SIE TERRORISTIN NENNEN, WENN ICH DAS WILL!“
Die junge Frau schloss kurz die Augen, atmete tief durch: „Ich bin doch ihre Mutter. Wir haben alles genauso gemacht, wie der Arzt es gesagt hat. Wie es hier steht“, sie deutete auf ein Buch, das aufgeklappt, mit den Seiten nach unten, auf dem Couchtisch lag, „trotzdem hört sie nie auf, zu weinen.“
„Schon gut, schon gut. Ich meine nur, du kannst sie doch heutzutage nicht Terroristin nennen! Was sollen denn die Leute denken, die das mitbekommen.“ Hilflos versuchte er seiner Frau etwas zu erklären, das Müdigkeit und Lärmpegel unerklärbar machten.
„Wie soll ich sie denn dann nennen??? Massenmörderin?!? Sie ermordet meine Nerven. Haufenweise.“ Was als Scherz gedacht war, führte nur dazu, dass nun endgültig alle Dämme brachen und die junge Frau ebenfalls weinte. Wenn auch leiser als ihre Tochter.
In Anbetracht der Lautstärke seines Kindes verzichtete der Vater darauf, etwas zu erwidern. Er erhob sich vom Sofa und berührte seine Frau beruhigend an der Schulter und schaute neugierig auf die mit Luftballons dekorierte Grußkarte auf ihrem Schoß. „Lorem ipsum sit amet“ war in dünner Bleistiftschrift darauf zu lesen. Darunter zwei rote Marienkäfer auf einem Petersilienbüschel gemalt und in Schönschrift „Alles Liebe zur 12einhalb wünscht Familie Nickels“. Fragend zog er eine Augenbraue hoch.
„Mir fällt nichts ein, daher arbeite ich mit Platzhalter. Wie im Büro. Ich glaube, mein Unterbewusstsein will mich zur Entspannung wieder zur Arbeit schicken.“ Wieder versuchte sie ein Lächeln zustande zu bringen. Es brach ihm fast das Herz.
Kurz drückte er die Schulter seiner Frau. Vielleicht war es unterstützend gemeint oder beruhigend. Vielleicht hätte man es auch als „Ich habe so wenig Ahnung wie du“ interpretieren können.
Dann verschwand er seufzend ins Nebenzimmer, um nach dem Baby zu sehen.

Kurze Zeit später erschien der junge Vater wieder im Wohnzimmer, die kleine Xenia weinend auf dem Arm. In sanftem Tonfall mit einem Lächeln auf den Lippen wiegte er das kleine Bündel in seinen Armen, indem er in ruhigem Rhythmus von einem Fuß auf den anderen trat:
„Na du kleiner Terrorist… pschschscht…Jaa, ein kleiner Terrorist bist du, jaa.“
Die kleine Xenia schaute ihren Vater neugierig an und vergaß kurz, zu weinen. Dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig.
Verwundert, fast hoffnungsvoll, blickte die Mutter von der Glückwunschkarte hoch in Richtung der ungewohnten Stille. Von draußen drangen auf einmal das lange vergessene Hupen und Rauschen des Straßenverkehrs hinein. Und der Vater, seinerseits, übermüdet und überfordert von den alten Bekannten in seinen Ohren, die dort nur sein konnten, weil etwas anderes fehlte, war selbst so verwirrt, dass er zur Orientierung stehen blieb und vergaß, weiterzusprechen.
Ein Fehler.
Innerhalb weniger Sekunden war wieder alles beim Alten.

„Luftpolsterfolie!“, rief seine Frau plötzlich. Triumph spiegelte in ihren Augen.
„Luftpolsterfolie?“, fragte ihr Mann.
„Jaja, diese Plastikböbbel, die man mit den Fingern zerdrücken kann. Jeder LIEBT es, die zum Platzen zu bringen. Die Vase, die wir gestern geliefert bekommen haben, da war welche dabei. Damit können wir Xenia beruhigen.“

Nun war es am jungen Vater, die Tränen zurückhalten zu müssen. Wie sollte er seiner Frau erklären, dass ihre brillante Idee zum Scheitern verurteilt war? Vielleicht würde Xenia aufhören zu weinen, wenn sie das beruhigende Ploppen der Bläschen hörte. Als die Tochter von ihnen beiden würde sie das sogar mit ziemlicher Sicherheit, ansonsten würde er ernsthaft die Elternschaft seiner Frau und von sich selbst in Frage stellen. Doch heute würden sie das nicht mehr herausfinden. Die Luftpolsterfolie war bereits platt. Das letzte Luftbläschen zerdrückte er gestern mit großer Genugtuung vor dem Fernsehgerät, während seine Frau mit der kleinen Terroristin zur Beruhigung ein paar Runden im Auto drehte.

Die gleichen 5 Wörter, aber eine ganz andere Geschichte erzählt Jana in
„Der Duft von wilden Rosen“.

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