von Carmen
Ahhhrg!
Ich knülle das Blatt zusammen und werfe es hinter mich. Meine Figuren kommen und gehen als würde ich in einem Café die Passanten beobachten. Doch niemand bleibt stehen. Niemand erzählt mir seine Geschichte, so dass ich sie aufschreiben und weitererzählen könnte.
Schreibblockade! Irgendwo zwischen Kopf und Blatt ist die Verbindung gekappt. Es fließt nichts aus den Fingern. Wohlgemerkt – wir sprechen nicht über das Problem Weißes Blatt. Irgendetwas schreiben kann man immer. Mittlerweile kennt man seine Strategien. Im Zweifel „Ich erinnere mich an [setze beliebiges Möbelstück oder Leibgericht oder Urlaubserinnerung ein]“ schreiben und irgendeine Erinnerung wird da schon kommen und zack hat man fünf Seiten vollgeschrieben. Das Problem Weißes Blatt existiert nicht mehr.
Nein, das Problem ist der weiße Kopf. Das Problem ist mein inneres Kind, das nicht viel älter als zwei sein kann und das auf dem Boden sitzt, die Spielsachen weit von sich wirft, „NEIN ICH WILL NICHT! NEIN!“ schreit und sich dieser Übung und dem Schreiben ganz allgemein verweigert.
Oh, wie ich diese „ich erinnere mich“-Übung hasse.
Ich schreibe doch auch kein Tagebuch. Wen interessiert denn der alte Schaukelstuhl, in dem meine Mutter meine kleine Schwester gestillt hat? Wen interessiert die Polenta, die bei uns nicht auf dem Teller gegessen, sondern auf einem Brett über den kompletten Tisch gestrichen wird mit einer ordentlichen Portion stundenlang köchelnder Bolognese darauf. Wen interessieren die Grabenkämpfe, in die dieses Essen jedes Mal ausartet: die Kunst ist, sich selbst die besten Bereiche – das heißt, die mit dem meisten Käse und der meisten Soße – zu sichern, gleichzeitig diese aber gegen die Verwandtschaft zu verteidigen, die – bis auf die Zähne bewaffnet – keine Scheu davor haben, die GABEL einzusetzen.
Aus diesen Erinnerungen kann man einen Flickenteppich alter Anekdoten basteln, aber doch keine Geschichten.
„Warum nicht?“
Weil wir hier nicht bei Facebook sind! Ich schreibe nicht über mein Mittagessen. Oder über Schaukelstühle. Oder über meine letzte Sitzung, als das Klopapier alle war.
„Hmm… anscheinend tust du es aber doch.“
Nur um den Punkt zu verdeutlichen. Aber ich werde keine Geschichte darüber schreiben.
„Vielleicht würde es sich lohnen“, sagte die Stimme nachdenklich. „Aber lassen wir das erstmal. Ich bin überrascht, dass du auf mich reagierst, ohne Angst zu haben. Wunderst du dich nicht, wer ich bin?“
Pff… Wer sollst du schon sein? Vermutlich mein Stift oder das Blatt Papier vor mir oder einfach eine Stimme in meinem Kopf. Ist doch egal.
„Ist dir egal???“
Ja.
„Okay … Die Reaktion ist … unerwartet.“ Die Stimme scheint kurz ratlos. Und setzt erneut an. „Du hast keine Angst oder so?“
Nö. Ich mein, solange du mir nicht erklärst, dass du alle meine Haushaltsgeräte zum Streik aufforderst, ist doch alles in Ordnung. So einen Streik könnte ich jetzt nicht gebrauchen. Das tust du doch nicht, oder?
„Nein.“
Gut. Nein, dann habe ich keine Angst. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich schon gefragt, wann es soweit ist. Ich mein, Corona geht jetzt schon ein Vierteljahr, mein Broterwerb ist immer noch im Lockdown. Ich sitze hier, seit vier Monaten, und drehe Däumchen. Ich bin nun wirklich kein Ass in Selbstdisziplin. Meine Tagesstruktur besteht darin, dass es keine gibt. Dabei sei Tagesstruktur wichtig für die geistige Gesundheit, wird behauptet. Ich habe mich gefragt, wann bei mir die Sicherung durchknallt. Jetzt, wo es endlich soweit ist, bin ich ehrlich gesagt erleichtert.
„Er-leich-tert? Du glaubst, ich bin eine durchgeknallte Sicherung?“
Japp. Ich finde, ich habe mir das Recht erarbeitet, durchzudrehen. Erst war Risikopatientin mit Kundenkontakt, dann komplett zuhause. Ich war motiviert, juhu soviel Zeit zum Schreiben, ich habe aufgeräumt, umgeräumt, gearbeitet, geschrieben, gelesen, gevideochattet, umdekoriert, halb Amazon leergekauft, die Konjunktur am Laufen gehalten sozusagen. Das Haus nur verlassen, wenn unbedingt nötig. #StayAtHome #SofasRettenLeben und so. Nur die Trends mit dem Yoga und dem Klopapierhamstern habe ich sein lassen. ICH war Vorzeige-Quarantänin. Aber das konnte ich nur so lange durchziehen. Dann war die Luft raus. Das mit der Selbstdisziplin halt. Kein lesen, schreiben, umräumen mehr. Die Motivation hatte das sinkende Schiff verlassen, unbemerkt irgendwann zwischen der 3. und 4. Netflix-Serie.
Und dann fangen Janas Küchengeräte an, mit ihr zu sprechen und meine schweigen? Hallo? Ernsthaft? Das hat mich schon verletzt. Hab ich nicht verdient, dass hier mal jemand mit mir spricht?
„Ähm…“
Irgendwann dachte ich dann, es liegt daran, dass mir die Fantasie einfach fehlt. Abgestumpft vom ganzen Binge-Watching. Quasi eine andere Form der Schreibblockade. Eine allumfassende Blockade, die Kaffeemaschinen und Lieblingsstifte mit einbezieht, die in der Zeit der Not mir den Rücken zukehren und eben nicht mit mir reden.
„Du suhlst dich da aber schon sehr im Selbstmitleid.“
Pff… Habe ich dazu etwa nicht das Recht?
„Hattest du die letzten Monate gesundheitliche Probleme? Hattest du Freunde oder Verwandte, die sich infiziert haben? Hattest du Sorgen um deine Arbeitsstelle? Musstest du dich neben dir selbst noch um andere Menschen kümmern, wie beispielsweise um Kinder im Homeschooling, während du selbst einen Vollzeitjob wuppen musstest? Kannst du eine dieser Fragen mit ‚Ja‘ beantworten?“
Ähm.. naja… also so direkt… also eher nein.
„Na dann lautet die Antwort auf deine Frage ‚nein, dazu hast du kein Recht‘. Die letzten Monate waren für uns alle belastend. Es ist in Ordnung, nicht produktiv zu sein, kein Yoga zu machen und kein neues Start-Up zu planen. Aber es ist nicht in Ordnung, dich über Monate gehen zu lassen. Es ist nicht in Ordnung, dich aufzugeben. Das ist jetzt dein Leben und das deiner Mitmenschen. Es besteht aus Masken, Zetteln im Hausflur der jüngeren Nachbarn, die anbieten, für dich einkaufen zu gehen, Eltern in Risikogebieten, die man nur besuchen darf, wenn man eine zweiwöchige Quarantäne im Anschluss in Kauf nimmt und Rachenabstrichen, die den Würgereflex auslösen. Je schneller du dich damit abfindest, desto besser wirst du klarkommen und umso zufriedener wirst du wieder mit dir selbst sein.“
Puh. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. … Die letzten Monate waren schon sehr grau und ich fühlte mich echt nicht so gut. Ich finde es nicht in Ordnung, dass mir mein Stift oder mein Blatt oder mein Unterbewusstsein – wer auch immer du bist – mir sagt, ich dürfe kein Selbstmitleid haben. Selbstverständlich war meine Situation besser, viel besser, als die von anderen. Das weiß ich und mache es mir jeden Tag erneut bewusst. Das hilft aber nicht, mich besser zu fühlen, ganz im Gegenteil. Ich fühlte mich trotzdem schlecht. Mir das Recht zu nehmen, mich schlecht zu fühlen, ist… ich weiß nicht, was es ist, aber okay ist es nicht.
„Entschuldige. Du hast recht. Ich hätte dich nicht mit anderen Menschen vergleichen dürfen. Natürlich hast du ein Recht auf deine Gefühle, auch auf die negativen. Ich hatte nur Angst, dass du dich reinsteigerst und das Licht am Ende des Tunnels nicht mehr siehst und wollte gegensteuern. Das habe ich wohl ordentlich vermasselt.“
…
Okay…
„Okay?“
Ja, ich mein, wir kennen uns noch nicht so gut, da kann es passieren, dass das erste Gespräch schlecht läuft. Ich akzeptiere die Entschuldigung. Aber ich würde das Gespräch jetzt trotzdem lieber beenden, ich bin müde.
„Okay… Noch eine letzte Frage hätte ich, wenn ich darf?“
Klar.
„Warum heißt der Text jetzt eigentlich Origami?“
Oh. Das. Wenn ich eine Schreibblockade habe, greife ich in meine Wörter-Schatzkiste. Dort haben Freunde, Besucher, Mit-Kursteilnehmerinnen Wörter hinterlassen, die mich inspirieren sollen. Heute war es Origami. Und irgendwie passt es doch, findest du nicht?
„Hmm… Irgendwie schon.“
Besuchst du mich jetzt öfter?
„Ich komme, wenn du mich brauchst“, sagte die Stimme während sie langsam leiser wurde und die letzten Worte nur noch als fernes Flüstern in meinen Gedanken widerhallten.
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