Wie ist die kleine Lilly auf die Idee gekommen, ein Buch schreiben zu wollen?
Hier beginnt die Geschichte: Teil 1 und Teil 2.
von Carmen
Im Arbeitszimmer nahm Mama ein paar Kissen vom Sofa, das neben dem großen Regal in der Ecke stand, und legte sie auf den Hocker, auf dem es sich Lilly bequem machen sollte. So konnte Lilly neben Mama am Schreibtisch sitzen und war fast so groß wie sie.
Mama verteilte zwei Stapel Schmierpapier, an Lilly und an sich selbst, während Lilly sich schon mal einen Stift aussuchen konnte. Erneut stellte Lilly mit Bedauern fest, dass Mama nur blaue oder schwarze Stifte hatte, und sie überlegte kurz, ob sie nicht doch ihren Glitzerstift aus dem Kinderzimmer holen sollte. Aber wenn sie ehrlich war, konnte sie es gar nicht erwarten, mit dem Schreiben anzufangen. Da war die Farbe des Stiftes fast egal. Außerdem lagen zur Not noch ihre Buntstifte in der obersten Schublade des Schreibtisches. Die bewahrte Mama dort auf, bis Petzi und Lilly das Kinderzimmer fertig aufgeräumt hatten.
Mama ließ sich neben Lilly in ihren großen Bürostuhl fallen, der so herrlich quietschte, wenn man sich hineinsetzte und mit dem man wunderbar Karussell spielen konnte – wenn Mama nicht dabei war.
„Bist du bereit?“, fragte Mama.
Lilly war gespannt auf das Wort ‚Hexe‘. Sie hatte eine gute Wahl getroffen, fand sie. ‚Hexe‘… Lilly dachte an die vielen Hexen, die sie kannte. Es gab gruselige Hexen, alte Hexen, Hexen mit krummen Nasen, langen, grauen Haaren, schrillen Stimmen und spitzen Hüten. Manche konnten auf alten Besen fliegen, manche besaßen Häuser aus Lebkuchen mit Fenstern aus Zucker. Manche hatten Raben als Haustiere, wie die kleine Hexe mit dem Raben Abraxas. Es gab hungrige Hexen, wie die, die Hänsel aufessen wollte. Lilly war immer noch erleichtert, dass Gretel ihren Bruder hatte retten können. Es gab aber auch junge Hexen, wie Bibi Blocksberg, die Jeans trugen und gerne auf Pferden ritten. Und es gab Lillys Hexe, eine listige, kluge, gute Hexe, die im Wald ihren Schatz jedes Mal erneut gegen die Räuber schützen musste.
Ja, Lilly war bereit. Gespannt schaute sie Mama zu, wie Mama die ersten Striche malte.
Mama malte vier Zeichen, alle mit etwas Abstand zueinander, wobei das zweite und das letzte Zeichen gleich aussahen, wie Lilly auffiel.
„Das erste ist ein Ha“, erklärte Mama, „da machst du zwei Striche von oben nach unten, so, und in der Mitte machst du einen Strich, der die beiden verbindet. Schau, sooo.“
Interessiert sah Lilly Mama zu, wie sie dieses ‚Ha‘ malte.
„Das sieht aus, wie im Wald, wenn ein Baum dem anderen ‚Hallo‘ sagt“, fand Lilly.
Mama hielt kurz inne und schaute sich den Buchstaben an.
„Wie meinst du das?“, fragte Mama.
Warum fragte Mama so etwas Merkwürdiges, das war doch offensichtlich. Ohne nachzudenken nahm sich Lilly die Buntstifte aus der obersten Schublade, was ihr eine hochgezogene Augenbraue von Mama einbrachte, und zeigte Mama, was sie meinte. Sie malte das ‚Ha‘ noch einmal auf ihr eigenes Schmierpapier: zwei Bäume, die sich begrüßten.
„Hmm, du hast recht“, sagte Mama nachdenklich, „das ist mir noch nie aufgefallen. Dann bin ich gespannt, an was du denkst, wenn du dir die anderen Buchstaben anschaust. Wie du siehst, gibt es den nächsten Buchstaben gleich zweimal im Wort. Dieser Buchstabe heißt ‚Eh‘. Kannst du mir sagen, an was der dich erinnert?“
Lilly schaute sich das ‚Eh‘ nachdenklich an. Der Buchstabe sah aus, wie eine Schnecke im Schneckenhaus, in die die Hexe die Räuber so oft verwandelte. Mama hatte die beiden ‚Eh’s etwas unterschiedlich gemalt: das vordere ‚Eh‘ schien schüchtern zu sein und ängstlich. Der hintere Buchstabe war neugieriger und bereit, die Welt zu entdecken. Eifrig griff Lilly wieder nach den Buntstiften und malte die zwei Schnecken für Mama, die vordere noch versteckt in ihrem schützenden Panzer, die hintere mit ausgestreckten Fühlern auf Abenteuersuche.
Für die beiden Schnecken benötigte Lilly etwas mehr Zeit, aber Mama wartete geduldig, bis sie fertig war mit Malen und schaute ihr währenddessen interessiert zu. So viel Zeit hatte Lilly schon lange nicht mehr mit Mama alleine verbracht. Wenn Mama und Lilly alleine zuhause waren, musste Mama oft arbeiten. Beim Mittagessen oder Abendessen oder wenn Mama eine Geschichte vorlas, war immer Jakob mit dabei. Das war auch schön, Lilly liebte ihren Bruder sehr, auch wenn Jakob manchmal furchtbar nerven konnte, besonders wenn er sie nicht mitspielen ließ oder wieder einmal sagte, sie sei zu klein für irgendetwas. Aber jetzt, wo Mama nur für sie da war, ohne Jakob und – wie Lilly beschämt zugeben musste – auch ohne Petzi, da wurde Lilly ganz warm ums Herz. Sie war sehr, sehr glücklich.
„Fertig!“, rief sie und hielt Mama das Blatt mit den Bäumen und den zwei Schnecken zur Begutachtung hin. Zwischen den Schnecken hatte sie etwas Platz gelassen, damit noch das letzte Zeichen hinpasste, das bei Mama recht einfach aussah.
„Jetzt fehlt nur noch ein Buchstabe. Der heißt ‚Ix‘ und ist ein einfaches Kreuz“, sagte Mama, während sie nochmal ein Kreuz auf ihr Blatt malte.
Nur noch ein Zeichen? Lilly war verwirrt.
„Aber was ist mit dem Spuckzeichen? Wir haben das Spuckzeichen vergessen!“
Mama lächelte: „Ja, da hast du recht. Es fehlt ein Spuckzeichen. Aber leider wurden Spuckzeichen noch nicht erfunden, so dass wir Erwachsene beim Vorlesen bei jedem Wort aufpassen müssen, nicht zu spucken.“ Dabei betonte Mama ‚jedem‘.
Keine Spuckzeichen? Lilly war schockiert und wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Und vor wirklich jedem Wort aufpassen, nicht zu spucken? Das war ja furchtbar. Furchtbar langweilig. Sie ertappte sich dabei, dass nun ihr die Spucke im Mund zusammenlief. Wenn sie ihr Buch schreiben würde, würde sie auf jeden Fall Spuckzeichen mit einbauen. Auf jeden Fall.
Sie schaute sich wieder den letzten Buchstaben an, dieses Kreuz. Sie musste an die kluge Hexe denken und fragte sich, ob ihre Hexe fliegen konnte. Bis jetzt hatte sie das noch in keiner der Geschichten getan. Doch wie viele neue Möglichkeiten gab es auf einmal, den Räubern ein Schnippchen zu schlagen! Lilly beschloss, dass ihre Hexe fliegen konnte, und malte das ‚Ix‘ zwischen den beiden Schnecken: zwei Hexenbesen über Kreuz.
Als Lilly fertig war, war sie fast etwas enttäuscht. Sie merkte, dass die Zeit mit Mama langsam zu Ende ging. Unwillkürlich kuschelte sie sich etwas enger an Mama. Mama strich ihr über die Haare und drückte ihr einen Kuss auf den Kopf.
„Das war’s. Jetzt kannst du ‚Hexe‘ schreiben. Ganz leicht, oder?“, sagte Mama stolz.
Lilly nickte. Schreiben war gar nicht schwer, aber das wusste sie ja schon. Sie war etwas geknickt, weil es in Wirklichkeit keine Spuckzeichen gab. Das war ein schwerer Mangel, da würde ihr Petzi sicher zustimmen. Petzi würde sehr enttäuscht sein. Lilly war sich sicher, dass Petzi sich still und heimlich auf die vielen Spuckzeichen in den Büchern gefreut hatte, die sie beide noch schreiben würden. Wahrscheinlich hätte er absichtlich viele Wörter mit Spuckzeichen eingebaut, so dass sie sich beim Vorlesen gegenseitig viel anspucken mussten. Sie stellte sich Mama und Jakob mit einem schützenden Regenschirm vor, wenn sie ihnen aus ihrem selbst geschriebenen Buch vorlas mit allen von Petzi eingebauten Spuckwörtern. Lilly musste kichern, wenn sie daran dachte. Oder…oder… vielleicht… Lilly hatte auf einmal eine Idee. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn sie die Leser nicht vorwarnte, dass ein Spuckwort folgte…
Oh, sie musste schnell zu Petzi!
„Mama, ist Petzi jetzt schon wieder sauber?“
Lilly konnte es nicht erwarten, Petzi wiederzusehen und ihm von ihrem Plan zu berichten.
Neueste Kommentare