Du kennst Teil 1 der Geschichte noch nicht? Lies los!

von Carmen, Lesezeit zwischen 5 und 10 Minuten

„Das kann doch jetzt nicht wahr sein! Du Vollhonk! Du Idiot bringst uns alle um!“ Betty kämpfte schwer gegen die Panik und die Hysterie an. Hinter sich hörte sie das Keuchen und das Scheppern wieder lauter werden, konnte die Geräusche durch den undurchdringlichen Rauch aber erneut nicht zuordnen. Plötzlich zischte es und der Rauch wurde noch dichter. Sie hatte das Gefühl, rein gar nichts mehr zu sehen. Sie mussten unbedingt hier raus – das Fenster war ihre Rettung, das Fenster war alles, was zählte. Immerhin hatte eine aus der Mädelsrunde geistesgegenwärtig die 112 gewählt. Trotzdem konnten sie sich nicht darauf verlassen, dass die Feuerwehr sie schnell genug retten würde. Der strampelnde Darwin-Award-Anwärter musste aus der Fensteröffnung weg.

Gerald war dabei, Darwin – wie ihn Betty in Gedanken getauft hatte – mit aller Kraft durchs Fenster zu drücken. In Susannes Augen ein Ding der Unmöglichkeit.
„Der ist zu fett, Gerald, der passt da nicht durch. Merkst du das denn nicht. Hör auf, zu schieben, du musst ihn wieder hereinziehen. Hörst du mir zu?!? ZIEH IHN HEREIN!“
„Halt den Mund, Susanne! Halt. endlich. EINMAL. den Mund! Wenn wir hier drin krepieren, muss ich wenigstens deine beschissenen Kommentare nicht mehr hören! Immer musst du alles besser wissen.“
„Jetzt hör aber mal auf! Nur weil DU strunzdumm bist, bin ich noch lange keine Besserwisserin. Und was heißt hier, krepieren??? Zieh ihn rein und niemand stirbt!“
„Wenn wir das hier wirklich überleben, will ich dein hässliches Pferdegesicht nie wieder sehen müssen. Ich will die Scheidung!“

„Seid ihr jetzt komplett irre geworden?! Hört auf, zu streiten!“ Betty merkte, dass sie nicht weiterkamen. Mit einem Schritt war sie dort, wo sie Jakobs Wimmern vermutete, griff nach unten, erwischte ein Haarbüschel und zog den apathischen Mann hoch.
„Mein kleiner süßer…“
Sie hörte, wie die Ohrfeige ihn traf. Sie fühlte, dass sie seine Nase erwischt hatte, aber sei‘s drum. Sie packte ihn an den Armen.
„Jetzt reiß dich zusammen! Willst du deinen Jungen so im Stich lassen? Willst du uns alle im Stich lassen? Willst du das?“ Betty wurde ungewollt immer lauter, bis sie durch einen Hustanfall unterbrochen wurde. Der Rauch biss in den Lungen. Außer Atem redete sie weiter: „Komm, reiß dich zusammen! Denk an den kleinen Tobi. Hilf uns! Schaffst du das? Schau mich an. Schaffst du das???“
Durch den Rauch konnte sie seine Reaktion nicht sehen, doch sie spürte, wie ein fast unmerklicher Ruck durch Jakob ging. Er überlegte kurz.
„Wenn wir ihn nicht nicht aus der Fensteröffnung bekommen, muss halt das Fenster weg! Leute, hört mir alle zu! Die Außenwand hier ist nicht allzu dick. Wir nehmen den großen Kühlschrank und nutzen ihn als Rammbock.“

Danach ging alles ganz schnell. Nach kurzem Zögern halfen alle Gäste, das Gerät zu leeren und die Kabel von der Wand zu lösen. Trotz der miserablen Sicht ging die Arbeit zügig voran und innerhalb von zwei oder drei Minuten jonglierten sie den schweren Kühlschrank über ihren Köpfen.
„Auf mein Zeichen!“
Schon beim ersten Anlauf zeigte sich eine deutliche Delle neben dem Fenster. Beim dritten Anlauf hatte sich ein deutliches Loch in der Außenwand gebildet. Kurz darauf hatte es sich mit der Fensteröffnung verbunden. Darwin krabbelte schnell nach draußen, gefolgt vom Rest der Gäste. Betty bildete das Schlusslicht. Als sie endlich frische Luft schnappen konnte, kamen ihr die Tränen der Erleichterung. Mit einem Blick erkannte sie, dass alle ihre Gäste wohlbehalten entkommen waren. Das rhythmische blaue Licht zweier Löschzüge flog über ihre Gesichter. Ein Dutzend Feuerwehrleute war bereits dabei, die Schläuche abzurollen.
Wenn Betty nur geahnt hätte, welch katastrophale Wendung die Eröffnung nehmen würde. Der Abend hatte so vielversprechend begonnen, als sie mit Hans die letzten Detals besprochen…

HANS! Betty wurde fast ohnmächtig vor Schreck. Sie hatte Hans komplett vergessen!
„HANS! Mein Gott, Hans!“ Ihr wurde eiskalt. Er war doch noch ein Teenager, ein Kind. Blutjung. Unschuldig. Alle waren sie draußen, alle Gäste saßen auf der Straße. Es konnte nicht sein…
„Hans! Um Gottes Willen! Wo bist du? So sag doch was!“
Plötzlich tauchte eine rußgeschwärzte Person im Durchgang zwischen Schutt und Ziegelsteinen auf. Hans. Unter seinem Arm erkannte Betty den großen Putzbottich der Bar.
„Ich bin hier, Boss.“
Mit einem Aufschrei rannte sie zu ihm und drückte den Jungen fest an ihre Brust. Der Bottich fiel mit einem metallischen Scheppern zu Boden.
„Gott sei Dank ist dir nichts passiert! Wo warst du denn bloß! Das hätte ich mir nie verziehen, wenn dir was passiert wär.“ Erneut liefen Betty die Tränen über die Wangen.
„Keine Sorge, Boss. Ich hab mich um das Feuer gekümmert. Ist jetzt aus.“
Betty löste sich aus der Umarmung und schaute den Jungen an.
„Was?! Wie ‚ist jetzt aus‘? Worum hast du dich gekümmert?“ Hans hätte chinesisch reden können, das hätte Betty in diesem Moment ebenso wenig verstanden.
„Ihr ward mit dem Typen im Fenster beschäftigt, da dachte ich, ich versuchs mal mit dem Putzeimer, Boss.“
Betty sah ein, dass sie unter Schock stehen musste. Ihr junger Kollege sagte Worte, aber die ergaben keinerlei Sinn. Da sie nicht wusste, was sie tun oder sagen sollte, starrte sie Hans einfach weiter an, bis eine Feuerwehrfrau auf sie zukam:
„Sie sind die Besitzerin der Bar, oder? Der Brand ist soweit gelöscht, da mussten wir nicht mehr viel tun. Ihr junger Kollege hier hat mit dem Eimer ganze Arbeit geleistet und die Umgebung des Brandes schön feucht gehalten. Dadurch blieben die isolierten Flammen klein genug, und konnten nicht auf die weiter weg stehenden Tische übergreifen. Die Möbel, die Feuer fingen, waren ja Gott sei Dank schnell verbrannt. Nur der Rauch hätte Ihnen gefährlich werden können. Sie sind alle noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Aber lassen Sie sich auf jeden Fall nachher noch im Krankenhaus auf Rauchvergiftung hin untersuchen. Sicher ist sicher.
Ich denke, alles in allem entstand der größte Schaden durch das Loch in der Wand. Dadurch ist das Gebäude vorerst nicht mehr betretbar. Ein Statiker wird sich die Sache die kommenden Tage anschauen, vermutlich muss das Gebäude abgerissen werden.“

Hans legte Betty einen Arm um die Schulter.
„Vielleicht setzt du dich besser kurz hin, Boss.“
Ohne Widerstand ließ sich Betty zur gegenüberliegenden Bordsteinkante führen und sank neben ihren Gästen nieder. Das schreiende Loch in der Wand der Bar ignorierte sie. Ihr Blick fiel auf ein unscheinbares Schild, das auf dem Bürgersteig lag. Leicht verrußt, aber intakt: 
Das Schmuckstück

Rauch auf der Straße
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