Geschichten. Überall und Jederzeit

Kategorie: Nachdenkliches (Seite 1 von 2)

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von Jana, Lesezeit ca. 10 Min.

!Triggerwarnung für depressive Gedanken

Es gibt diese Tage, da ist die Welt um sie herum in bleiernes Grau getaucht. Farben, Geräusche, Wärme erreichen sie nur durch einen Filter, der ihnen jegliche Bedeutung nimmt. Jegliche Wirkung. Sie könnte mitten unter ihren Freunden sein, mit ihnen lachen, trinken, reden – und würde doch nichts spüren. Sie kann arbeiten, funktionieren, ein wertvoller Teil der Gesellschaft sein, aber sie ist es nicht wirklich. Sie spielt es. Die leere Hülle, die sie gerade durch den Tag bringt, gibt eine oscarreife Performance ihrer Selbst ab. Sie hasst es.

Lass dich nicht so gehen.

Reiß dich zusammen.

Manchmal versucht sie darüber zu sprechen, aber irgendwie kommen die Worte nicht an.

‚Du musst mehr unter Leute gehen`, sagen die Leute dann. ‚Ich habe gehört, laufen hilft total`, sagen die Läufer. ‚Du darfst dich nicht verkriechen`, sagen die Extrovertierten. ‚Du bist ja nicht wirklich krank`, sagen die Gesunden.

Manchmal wünscht sie sich, ihr würde an diesen Tagen ein Bein fehlen oder ein Arm. Damit es offensichtlich ist. Aber das ist es nicht. Und nein, sie will nicht laufen oder unter Leute. Sie will sich ihre Decke über den Kopf ziehen und die Welt draußen lassen.

Sie tut es, als sie endlich zu Hause ist. Die Decke hängt zwar nur über ihren Schultern, aber hier auf ihrem Sofa geht es ihr besser. Und gleichzeitig schlechter. Sie hat Hunger und Durst, doch sie kann sich nicht aufraffen, bis in die Küche zu gehen. Alle Energie, die vielleicht heute morgen noch da war, ist für die Performance draufgegangen. Also sitzt sie nur da, die Hände um Legolas geschlungen, eine selbstgenähte Stoffpuppe. Brauner und grüner Samt, abgenutzt und verblichen und eine körnige Füllung, die gegen schwache Nähte drückt, doch noch ist er heil und sie hält ihn in den Händen wie ein Rettungsseil.

Ihre Schwester hat ihn ihr geschenkt vor vielen Jahren, als es noch in Ordnung war, ein Fangirl zu sein. Als sie beide unsterblich in den unsterblichen Elbenprinzen verliebt waren und ihm trotzdem eine Zukunft mit dem Zwerg wünschten. Das selbstgemalte Comic-Heft muss noch in irgendeiner Kiste liegen. All ihre Fantasie hatten sie hineingesteckt in die Irrungen und Wirrungen zwischen Legolas und Gimli bis beide sich endlich ihre Liebe gestanden, heirateten und kleine Zwelblinge bekamen. Und jetzt? Jetzt hält sich ihre Schwester für erwachsen und behauptet, Fandom sei ein Ableger indischer Mythologie und nicht erstrebenswert. Vielleicht hat sie recht.

Ein lauter Knall dringt aus dem Hausflur. Sie erschrickt, presst Legolas zusammen und spürt, wie die Puppe nachgibt. Ein Strom kleiner Perlen dringt aus dem Stoff, fällt auf Sofa, Boden, Tisch.

Wieder ein Knall.

„DU ELENDES ARSCHLOCH!“, keift eine schrille Frauenstimme. „DU HURENSOHN!“

„Ach, sei staad!“, brüllt ein Mann zurück, „Mid dir red i gar ned, du voglwuide Britschn!“

„Scheißkerl!“

Wieder ein Knall und endlich wird es still. Sie spürt die Taubheit in ihrem rechten Arm, das Zittern ihrer Hand, ihr Atem geht schneller. Sie mag es nicht, wenn geschrien wird, aber das sie etwas spürt, ist ein gutes Zeichen.

Sie besieht sich Legolas` Reste. Die gerissene Naht ist ausgefranzt, der Stoff so dünn und abgenutzt, dass eine Reparatur wohl zum Scheitern verurteilt ist. Die Globuli aus seinem Innern haben sich auf Erkundungsreise gemacht, in die Schale mit dem Dominosteinen, die hart wie Kieselsteine sind. Um den Kerzenstumpf, der Docht im getrockneten Wachs ertrunken, die Dekozweige ebenfalls trocken und braun. Über den restlichen Tisch, die Packung Taschentücher umfließend, auf den Boden, wo sie vom Teppich daran gehindert wurden in jede Ecke des Zimmers zu rollen. Sie stellt sich vor, wie sie aufsteht, in die Küche geht und den Staubsauger holt. Weiß schon, welches Bein sie als erstes auf den Boden setzt. Doch dann bleibt sie doch liegen. Sie hat Hunger, doch um sich an die Dominosteine zu wagen, müsste sie Tee kochen, um sie einzuweichen. Sie umfasst die Reste von Legolas noch fester. Sie fühlt sich so schwer, keine Sackkarre könnte sie jetzt bewegen.

Das Telefon klingelt. Sie rührt sich nicht vom Fleck. Vielleicht ist es ihre Schwester, die von ihrem neuen Job erzählen will. Vielleicht ihre Mutter, die doch angeblich immer spürt, wenn es ihren Töchtern nicht gut geht. Vielleicht ihr Vater, der ihr ein Buch empfehlen will, das er gelesen hat. Vielleicht Luisa, die immer noch ihren Toaster hat. Oder Max, der ihr einen Film ausleihen wollte. Sie wird nicht rangehen können, aber vielleicht bringt die Stimme auf dem Anrufbeantworter sie dazu, aufzustehen. Sie überlegt sich, was sie gerne hören würde, was sie dazu bringen könnte, sich zu bewegen.

„Ihr Anruf kann zurzeit nicht angenommen werden, bitte hinterlassen sie eine Nachricht nach dem Signalton.“

Piep.

 

 

Der Text ist im Rahmen einer Schreibübung entstanden, die folgende Vorgaben hatte: Geschichte mit Wörtern: Globuli, Kerzenstumpf, Dominostein, Sackkarre, Comic-Heft, vogelwild

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

Entstanden Ende März 2021, 6. und letzter Teil der „Morgens vor / während Corona“-Reihe. Alle Vorgänger findet Ihr ab hier.

„Überleben allein ist nicht ausreichend.“
Dieser Satz ist aus Star Trek. Zumindest laut dem Buch, durch das er sich als roter Faden windet und das sie mal gelesen hat und sehr mochte. Darin ging es um das Leben eben jener Überlebender, etwa zwanzig Jahre nach dem ein Virus etwa 90 Prozent der Menschheit ausgerottet hatte.
„Überleben allein ist nicht ausreichend.“
Sie muss in letzter Zeit oft an diesen Satz denken. Eigentlich das ganze letzte Jahr. Ein Jahr hält er schon an, der Ausnahmezustand. Das Warten auf „wenn es erstmal vorbei ist“. „Es“ ist das Virus, das Abstand halten, das „Nichts geht“. Bei ihr selbst ging auch eine ganze Weile nichts mehr. Seit etwa vier Wochen hat sie wieder einen Alltag, zumindest im Versuchsstadium. Im Büro hat sich vieles verändert (nein, der Bus ist immer noch oder schon wieder zu voll, aber ehrlich, das hatten wir doch schon ausführlich), Kollegen sieht man nur noch über Bildschirme und auf den Gängen begegnet man sich mit Maske. Vieles geht jetzt elektronisch, das, was früher nie und nimmer elektronisch gegangen wäre, denn bitte, wir sind eine Behörde und das haben wir schon immer… – „Schon immer“ wurde aussortiert und sie gewöhnt sich überraschend schnell daran. Ist mega stolz auf die erste geglückte Webkonferenz. (Davor hat sie sich kurz zu alt für diese neue Zeit gefühlt und sich geschworen, nie wieder die Augen zu verdrehen, wenn ihre Mutter sie um Tipps für die Bedienung ihres Smartphones bittet.)
Also Alltag. Und das Drumherum. Denn das Drumherum, das hat sie gelernt, das hilft gegen den Überlebensmodus. Der Modus, in dem es nur noch ums Funktionieren geht. So lange bis nichts mehr funktioniert, nichts mehr geht, genau wie im Draußen. Im Draußen ist das scheiße, denn wenn nichts geht, geht mehr und mehr verloren. Gaststätten, Theater, Kunst, Kultur – nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was vor unseren Augen stirbt. Im Inneren läuft das ganz ähnlich ab, alles verschwindet, die Begeisterung, die Freude, der Genuss, alles wird grau und still und sinnlos und dann… „Überleben allein ist nicht ausreichend.“
Wie wenig spürt sie erst, seit sie wieder lebt. Seit alles wieder Farbe gewonnen hat. Seit ihre Kreativität wieder Funken sprüht. Seit sie wieder lachen und schreiben und malen und Geschichten träumen kann. Diese Fantasiewelt in ihrem Kopf neu entdecken kann, wie die Enterprise die unendlichen Weiten des Weltraums. (Ja, Star Trek kann sie auch wieder schauen. Das konnte sie nicht mehr. Die Konzentrationsspanne hatte einfach nicht…)
Überleben. Leben. Und nun der nächste Lockdown. Wieder alles runterfahren. Das Überleben sichern, denn die Wahrheit ist auch: Leben ohne Überleben ist nicht möglich. Der Virus ist mittlerweile auch in ihrer Familie angekommen und leider mit dem schlechtmöglichsten Ausgang.
Leben und Überleben. Das eine geht nicht ohne das andere. Das andere wird unerträglich ohne das eine. „Life`s that way“ lautet der Titel eines anderen Buches, das sie sehr gemocht hat. In diesem ging es um das Weiterleben nach einem Verlust. Wir alle verlieren im Leben. Etwas oder jemanden. Wir verlieren, lassen fallen, werfen weg, stürzen – und dann stehen wir wieder auf. „Life`s that way.“ Vergessen wir vor lauter Überleben nicht das Leben. Denn – und nun muss noch ein Filmtitel herhalten, damit es ausgeglichen ist – „Das Leben ist schön“. Und das kann sie wirklich nur unterstreichen.


Erwähnte Bücher: „Das Licht der letzten Tage“ von Emily St. John Mandel; „Life`s that way“ von Jim Beaver

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Stille

von Jana, Lesezeit ca. 3 Minuten

Der Text ist nicht wirklich eine Fortsetzung zu dem Text letzter Woche, ich hatte aber diesen Martin beim Schreiben im Kopf. (Tut mir leid, Martin!)

Stille, hatte Martin einmal gesagt, sei einfach nur das Gegenteil von Lärm. Er sagte das, um seine Verwirrung zum Ausdruck zu bringen, darüber, dass Menschen der Stille eine schon fast mystische Bedeutung andichten. Heilende Kräfte, eine Quelle der Energie, sich selbst finden und den eigenen Weg – all das soll die Stille bewirken können, dabei, fand Martin, war die Stille eben doch nur das: Das Gegenteil von Lärm.
„Wenn ich mich unbedingt selbst finden will“, ergänzte er, „dann kann ich das auch umgeben von Presslufthämmern. Es geht um Konzentration, weiter nichts.“ Aber für Martin war Stille auch kein besonders häufiger Zustand. Wenn er nicht redete, den stetigem Gedankenstrom in seinem Kopf nicht nach außen trug, dann hörte er Musik und wenn er keine Musik hörte, dann lauschte er auf seien Umgebung. Für Martin waren Geräusche das Leben, Lärm war nur ein Ausdruck intensiven Lebens. Vielleicht verachtete er die Stille nur, weil er sie nicht kannte.
Ohne ihn ist es seltsam still in der Wohnung und Birgit weiß nicht, wohin mit sich. Sie braucht Geräusche, braucht Lärm um sich, doch was immer sie tut, die Musik aufdrehen, mit den Tellern klappern, Staub saugen – nichts verdrängt die Stille. Als wäre sie ein schwarzes Loch, das alle Geräusche verschluckt. Als wäre sie viel mehr als nur das Gegenteil von Lärm. Als wäre Stille nicht nur die Abwesenheit von Geräuschen, sondern auch von Leben.
Und genau das ist sie ja auch, jetzt und hier, in der Zeit ohne Martin. Die Stille ist nicht einfach nur still, sie schreit und brüllt und tobt.
„Du hast dich geirrt“, flüstert sie in den leeren Raum. „Stille ist nicht das Gegenteil von Lärm. Sie ist die Steigerung. Sie ist so laut, dass wir davon taub geworden sind. Ich bin davon taub geworden. Oder ich wünschte es.“
Sie wünschte es, doch noch kann sie die Worte, die die Stille schreit überdeutlich hören. Zwei sind es und sie erzählen eine ganze Geschichte. ´Du fehlst`, sagen sie. Du fehlst.

Aufwärm-Schreibübung zum titelgebenden Wort

Mit diesem Text verabschiede ich mich in die Sommerpause. Voraussichtlich ab September geht es weiter mit der Donnerstagsgeschichte! Auf diesem Blog wird es aber nicht still, wir melden uns über den Sommer. Folgt uns gerne auf Instagram um nichts zu verpassen!

Aussteigen

von Jana, Lesezeit ca. 10 Minuten

Dieser Text entstand im Januar 2021 und ist die Fortsetzung zu Abschiede (kann aber auch allein gelesen werden).

Ein neues Jahr. Trotz Stillstand, trotz Innehalten, trotz Lockdown. Es ist einfach passiert, so wie viele Dinge einfach passieren. Die Welt hält nicht an, doch diesmal ist sie erleichtert, dass es weiter geht, auch bei ihr. Sie fährt schon eine Weile wieder Bus, jeden Morgen, ganz knapp nach der Rushhour, sodass ihr das morgendliche Chaos erspart bleibt. Vielleicht gibt es aktuell aber auch gar kein Chaos, immerhin ist Lockdown 2.0. Nicht einmal Weihnachten blieb verschont und ihr ist schon klar, dass die Lage ernst ist, aber es gab Momente, da hätte sie sich fast einen Aluhut gekauft.
„Weihnachten mit der Familie, ja – aber bedenken Sie, wie viele Weihnachten Sie noch mit ihren Eltern haben wollen.“ Na viele, oder etwa nicht? Herzlichen Dank für nichts! So, als würde man seinem Kind einen Schoko-Weihnachtsmann schenken und ihm beim Essen haarklein erzählen, wie gefährlich Zucker ist. Nur ohne die Schokolade und dafür mit bitterem Ernst. „Sie dürfen Ihre Eltern besuchen, aber bitte nicht reisen.“ Wissen PolitikerInnen wirklich so wenig über das Land, das sie regieren? In ihrem Abitur-Jahrgang jedenfalls ist die Mehrzahl der Leute weit weg von zu Hause gezogen, weil das war so. Anders ging es gar nicht, wenn man eine Arbeit wollte, die einem den Lebensunterhalt finanziert. Eltern besuchen heißt Reisen und Politik ist offensichtlich lebensfremd. Lebensfremder sind nur die Menschen mit den Aluhüten (deswegen hat sie doch keinen), die maskenlos und eng umschlungen ins Verderben tanzen und darauf auch noch stolz sind. Die können ja gerne tun und lassen, was sie wollen, denkt sie, wenn sie nur nicht nach den Demos mit dem Zug nach Hause fahren würden. Dem Zug, in dem auch sie sitzt und viele andere unschuldige Mitmenschen. Verantwortungslos. Nein, nicht rebellisch oder augenöffnend. Einfach nur verantwortungslos.
Über Verantwortung denkt sie gerade viel nach, über ihre und die der anderen, unabhängig von Aluhüten. Es geht um Schuhe. Sie neigt dazu, sich fremde anzuziehen. Viele fremde Schuhe und einer passt schlechter als der andere. Vor allem, weil sie in High Heels überhaupt nicht laufen kann, nicht einen Meter.
Sie neigt auch zu anderen Dingen, die das Leben schwerer machen. Und sie fragt sich warum. Warum, warum und nochmal warum. Sie geht oft spazieren, um diesen ganzen Warums auf den Zahn zu fühlen, aber dann verliert sich ihr Blick doch in den See und die Vögel darauf, die Enten, Schwäne, Blässrallen und sogar Möwen und die Gedanken ziehen irgendwohin. Ins Unterbewusstsein vielleicht, denn dann stolpert sie eines Tages doch über eine Antwort und dann noch eine und noch eine. Das Puzzle setzt sich nach und nach zusammen, langsam, viel zu langsam für ihren Geschmack. „Das Gras wachsen lassen“, ein guter Ratschlag, den sie nur schwer befolgen kann. Sie zerrt viel lieber daran, denn dann muss sie nicht warten, bis etwas getan wird. Am Ende gefällt ihr das Getane vielleicht nicht!
Abwarten und Tee trinken. Warten, bis die Leute ausgestiegen sind, bevor man selbst einsteigt. Und ist es nicht die Ironie ihres Lebens, dass sie darüber drei Texte verfasst hat und es selbst doch nicht beherrscht? Gut, dass sie wenigstens über sich selbst lachen kann.
Aussteigen. Gerade ist sie ausgestiegen für einige Wochen, doch irgendwann wird sie wieder einsteigen müssen. Noch ist es nicht soweit. Noch steht sie an der Haltestelle, studiert aufmerksam den Fahrplan und überlegt, wo sie eigentlich hin will. Sie hat alle Zeit der Welt und das ist auch gut so, denn die Tasche, die sie mitnehmen will, ist viel zu schwer. Sie muss einiges auspacken, verschenken oder wegwerfen oder eintauschen gegen anderes, das sie vergessen hat, aber dringend braucht. Einige ihrer Reisegefährten muss sie noch einladen, anderen muss sie absagen, die haben keinen Platz mehr im Bus.
Oder lieber ein Schiff? Über das Meer, ihren Wohlfühlort, immer Richtung Horizont, Stürmen und Seeungeheuern trotzend auf dem Weg in ferne, exotische Länder?
Oder ein Raumschiff auf dem Weg in unendliche Weiten, fremde Galaxien, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat?
Doch wofür sie sich auch entscheidet, auf dieser Reise wird sie wieder am Steuer sitzen. Hat sie Angst? Fürchterliche. Aber sie ist ja nicht allein. Genau wie Kirk und Picard hat sie ihr eigenes Team, im innen und außen, und sie hat einen Kompass, der sie auf dem Weg hält. Den Reiseführer wird sie zu Hause lassen, denn so genau, will sie gar nicht planen. Lieber die Aussicht genießen, lieber mal schauen, was kommt, lieber das Gras wachsen lassen, nach seinem eigenen Tempo. Der Weg ist das Ziel, auch wenn sie sich gerade nicht tatsächlich vom Fleck bewegen kann. Lockdown long. Alles steht. Gut, dass für ihren neuen Weg erstmal nur ein Schritt nötig ist und noch einer und noch einer. Es dauert, bis sie die fünfzehn Kilometer zusammen hat und wer weiß schon, wie die Welt dann aussehen wird?

Die „drei Texte“, die sie verfasst hat, sind die Vorgänger zu „Abschiede“ und ihr findet sie hier: Morgens vor Corona, Morgens während Corona, Teil 1 und Teil 2.

1

Erinnerung

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

Dieser Text war eine Aufwärmübung und ich habe mich von zwei Sätzen aus Christoph Ransmayrs „Die letzte Welt“ inspirieren lassen:
„Und Echo kannte viele Geheimnisse der eisernen Stadt, […].“
„Nun senkte sich der Blick, wandte sich ab, dorthin, wo eine Frau an eine Tür gelehnt stand.“


Er war wie einer von vielen in diese Stadt gekommen – ohne Habseligkeiten, ohne Bleibe, ohne Erinnerung an eine Zeit davor. Natürlich hatte es ein Leben davor gegeben. Ein Leben außerhalb dieser rußgeschwärzten Mauern, dieses stinkenden, erdrückenden Daseins, ohne eine Ahnung von Sonnenlicht, klarer Luft und der Weite schneebedeckter Felder. Doch dieses Leben, dieses Davor, war zu schmerzhaft, als das Echo wagte, sich daran zu erinnern. Und deswegen hatte er das Davor abgestreift wie einen abgetragenen Mantel, hatte alles aus seinen Erinnerungen gelöscht, auch das kleinste Fitzelchen von Andenken vergraben, wortwörtlich, in einer schlammigen Kuhle am Wegesrand, bevor er seinen Fuß in diese Stadt gesetzt hatte. Nur seinen Namen hatte er behalten und er bereute es immer häufiger. Denn sein Name war mittlerweile bekannt in der Stadt unter den Leuten, besonders den armen Schluckern, die auf Straßenecken hockten und auf den Gehsteigen vor den Tavernen, in der Hoffnung, zu Ladenschluss etwas abzukommen. Einen halben Becher Wein, ein übrig gelassenes Stück Brot. Diese Menschen waren es, die Echos Namen nunmehr kannten und sie trugen ihn weiter und weiter durch die Straßen der Verlierer. Auch die Dirnen kannten ihn und sie riefen ihn, wenn er an ihnen vorbeiging. Riefen ihn mit ihren kehligen, kratzigen Stimmen, aber manchmal auch lieblich und sanft, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Und dann war es wie ein Windhauch an seiner Wange, wie zarte kühle Finger, die seinen Nacken entlang streiften, wie der Duft von Rosen. Dann war es, dass er bereute, seinen Namen behalten zu haben, denn die Erinnerung verschluckte ihn plötzlich wie ein unergründliches schwarzes Loch.

 

Abschiede

von Jana, Lesezeit < 10 Minuten. 

Der Text ist ziemlich genau am 01. November 2020 entstanden und hängt lose mit der „Morgens vor/während Corona“-Reihe zusammen.

Und wieder ein Abschied, denkt sie, als die neuen Maßnahmen verkündet werden. Ein Abschied von wiedergewonnenen Freiheiten, wiedergewonnener Normalität. Aber was ist schon normal, normal ist längst überholt, normal ist das vorher und zum vorher geht es nicht zurück. Die Welt hat sich verändert, die Menschen haben sich verändert, sie selbst hat sich verändert. Erst schleichend, dann mit Wumms. Der Tag, an dem sie einfach nicht mehr aufstehen konnte, war nicht der Anfang des Problems, sondern das Ende. Ein Zwangsabschied vom Bisher und dann eine lange Pause. Not available at the moment, please call again later. Out of order. Rien ne va plus.
Und jetzt? Jetzt weiß sie langsam wieder, wie sich Sonne auf der Haut anfühlt, ein Lächeln an den Mundwinkeln. Wie sich die Muskeln bewegen beim Spazieren gehen. Wie es sich anfühlt, wenn Atem in den Körper strömt, wenn sich die Augen schließen und man einer inneren Ruhe lauscht und nicht vom lauten und hektischen Brüllen der eigenen Antreiber begrüßt wird. Sie hat ihr Leben wieder, ein kleines Stück davon. Und sie weiß, dass sie den Rest davon, der jetzt frei und offen ist, mit neuen Dingen füllen will. Dinge, die sich gut anfühlen. Dinge, die Sinn ergeben. Alles will, kein Muss. Das ist Luxus, das ist ihr klar, und die Zweifel, ob sie diesen Luxus verdient hat, laufen immer mit. Nur sie hat keine Wahl, sie kann nicht zurück, zurück hat nicht funktioniert.
„Ein „wie vorher“ wird es nicht geben.“ Der Satz hatte für Wochen die Medien bestimmt. Aktuell ist es ein „Lieber jetzt schlimm, als später schlimmer.“. Sie weiß nicht, was sie davon halten soll und im Moment fällt es ihr ohnehin schwer, dem Alltag zu folgen. Sie ist gerade kein Teil davon. Es ist ein Ausstieg auf Zeit, ein Ausstieg, den sie jeden Tag versucht zu genießen, soweit das eben möglich ist.
„Abschied heißt doch auch weitergehen“ sagt ein Lied, das sich irgendwann mal in ihre Festplatte geprägt hat. Abschied heißt Veränderung. Wenn etwas geht, kann etwas Neues kommen, also warum fühlt sie sich gerade so, als würde die Welt untergehen? Vielleicht sind es gerade zu viele Abschiede. Da ist der funktionierende Alltag, dem genau das Funktionieren zum Verhängnis wurde ist.
Da ist der Freund, der ihr die Freundschaft gekündigt hat. Sie würde still stehen, würde sich nicht genügend verändern. Sie wäre kein Mensch, den er um sich haben will. Nun, still stehen ist gerade alles, was sie kann. Die Veränderung würde kommen, sie will sie, kann sie schon vage riechen. Aber sie wird bestimmt nicht so, wie er es gerne hätte. Also ist es ein Abschied auf immer inklusive des Lochs in ihrem Herzen.
Dann noch der Abschied von der zurückgewonnenen Freiheit: die Freunde, die sie wieder umarmen konnte, der Cappuccino im Lieblingscafé, die Sonnenterrasse beim Italiener, das alles muss sie wieder hergeben, ein Abschied auf Zeit, aber ein Abschied.
Und zuletzt dieses Jahr, das so gute und so furchtbare Momente hatte und das sich in Kälte, Nebel und fallenden Blättern langsam auflöst. Keine Weihnachtsmärkte in diesem Jahr. Keine Lichterinseln, kein gemeinschaftliches Zelebrieren, um dieses Jahr zu einem guten Ende zu bringen. Ein Abschied, der neu inszeniert werden muss. Aber diese Inszenierung hat noch Zeit.
Erstmal ist November mit Allerheiligen und dem Gedenken an jene, die wir längst verabschiedet haben. Grabgestecke und ewige Lichter zwischen Halloween-Kostümen und Kürbissen. Eine seltsame Mischung, findet sie, während sie die Leute in der S-Bahn beobachtet. Ein kleines Mädchen ist da, vielleicht fünf Jahre alt, das laut zu ihrem Begleiter sagt: „Papa, ich bin immer noch traurig wegen der Mama.“ Der Satz könnte alles bedeuten. Doch das Grabgesteck auf ihrem Schoß, die plötzliche Stille im Zug, der Blick ihres Vaters sagen etwas anderes. Ihr Herz krampft sich kurz zusammen.
Abschied, überall, wo sie gerade steht und geht. Aber ihr eigener ist ein Abschied, um weiterzugehen. Welch unverschämtes Glück sie hat.

Heimkehr

von Jana, Lesezeit ca. 2 Minuten

Er war zu lange nicht mehr hier gewesen. Die niedrigen grauen Häuser, gedrängt und zerknittert wie ein zusammengeknülltes Taschentuch. Weggeworfen. Vergessen mit all ihren Erinnerungen. War da etwas gewesen? Etwas, das „gut“ sagte? Etwas, das nach Kindheit schmeckte? Nach Geborgenheit roch? Sich wie Ankommen anfühlte? Vertraut im Inneren nachhallte? Nein, nichts.
Keine Szene, die ein Lächeln in sein Gesicht zauberte. Auch keine, die Schmerz, Verzweiflung oder Wut mit sich brachte.
Könnte er nur hier oben stehen, auf die verlassene, weggeworfene Heimat eines Mannes schauen, der er selbst gewesen war und seine Wut hinausschreien: Laut, roh, verzweifelt.
Könnte er mit heraufbeschworenen Bildern glücklicher Tage den sterbenden Heimstätten Leben einhauchen, nur für einen sinnlosen, vergänglichen Moment.
Alles wäre besser als dieses Nichts, das sie einander spiegelten und das sich fortsetzte, bis ein Abgrund in einen anderen schaute. Selbst Schmerz wäre besser. Nein, nicht besser. Anders. Echter. Klarer. Fassbarer. Ein fassbarer Schmerz, ein Stachel, den er benennen und herausziehen könnte.
Er starrte in den Abgrund, der Abgrund starrte zurück. Ein zusammengeknülltes Taschentuch ohne strategische Bedeutung. Er wandte sich um.
„Brennt es nieder!“, befahl er.

P.S. Dieser Text ist entstanden, während ich „White Noise White Heat“ von Elbow in Dauerschleife gehört habe.

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Meer

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

Ich stehe am Meer und sofort überkommt mich eine Ruhe, kalter Sand unter meinen Füßen, körnig, kühl, beruhigend. Salzige Luft, Atmen, so viel freier atmen und dann Weite. Blaue Weite, Wasser bis zum Horizont. Die Sonne blendet ein bisschen, der Wind zerrt an meinen Haaren, Möwen kreischen, die Brandung rauscht. Noch ein Schritt und meine Zehen würden das eiskalte Wasser berühren, aber ich stehe einfach nur da. Mein Kopf ist ganz ausnahmsweise einmal still, überwältigt von dem Vielen, dem Allen, dem Nichts, da so direkt vor meiner Nase. Meer, Wasser, blau, stopp. Denn sonst ist da nichts bis zur Linie am Horizont, nicht mal ein Boot oder eine Boje oder ein Trottel, der bei gefühlten -15 Grad schwimmen geht (das Wasser, nicht die Luft). Sondern nur blau in verschiedenen Schattierungen und endlich verstehe ich, was die Achtsamkeitstrainer meinen, wenn sie sagen „Du musst einfach nur sein.“. Der Wind und die unglaubliche Weite nehmen die störenden Gedanken in meinem Kopf mit auf die Reise und ich darf hier bleiben mit diesem Blick und der Sehnsucht, was da wohl hinterm Horizont auf mich warten könnte. Das Lied von Rio kommt mir in den Sinn „Ach, wär ich doch jetzt auch dabei. Weit, weit, hinterm Horizont, wenn unbekannte Länder zu entdecken sind.“. Doch ich weiß, mir reicht die Sehnsucht, ich möchte gar nicht auf das Schiff, ich möchte nur hier sein und sein dürfen.

Das Meer war schon immer mein Freund. Ich mag kein Wasser per se, aber das Meer, die Versprechungen, die es mir macht, die haben mich schon immer gepackt. Das Meer versteht mich, die grollenden wütenden Wellen, die rücksichtslos an den Strand schlagen; das unendliche Nichts bis zum Horizont. Stillstand und Aufruhr, Leben und Tod, Nähe und Ferne, überall und nirgendwo – das Meer ist nicht nur eine Sache, es kann sich nicht entscheiden, aber niemand käme auf die Idee, ihm das vorzuwerfen.

Am Meer habe ich die großen Veränderungen in meinem Leben überwunden. Loslassen geht am besten, wenn dir klar wird, dass du selbst so klein und unbedeutend bist, dass du im Großen und Ganzen keine Rolle spielst. Dass deine Entscheidung letztendlich für dich selbst die größte Bedeutung hat und du sie deshalb nur für dich selbst und niemand anderen triffst. Es hilft.

Ich stehe am Meer und diesmal ist der Sand heiß unter meinen Füßen, die Sonne brennt auf meine Haut. Irgendwo spielen Kinder, schreien, toben, planschen.

Jemand ist gestorben letztes Jahr, seine Asche wurde dem Meer übergeben. Überall und nirgendwo. Ich kann nicht atmen, kann nicht denken, das Wasser umspielt meine Füße, ich glaube, es ist angenehm kühl. Ich starre auf die Weite, warte, dass sie mir den Schmerz abnimmt, so wie immer.

Das Meer ist mein Kummerkasten. Gut, dass es so groß ist.

P.S.: Noch eine Reise zu einem Sehnsuchtsort gefällig? Dann schaut in diesen Text von Carmen.

P.P.S.: „Meer“ wurde (etwas angepasst) im Rahmen der Anthologie zum 6. Bubenreuther Literaturwettbewerb veröffentlicht.

Morgens während Corona (2)

von Jana, Lesezeit ca. 10 Minuten

Nach dem Ende des „Lockdowns“. Der Text entstand im Juni 2020.

Du kennst die Vorgeschichten noch nicht? „Morgens vor Corona“ und „Morgens während Corona (1)“. Lies los!

„Wir müssen uns darauf einstellen, dass unser Leben nach Corona ein anderes sein wird. Ein „wie vorher“ wird es nicht geben.“ Irgendjemand hatte das gestern in den Nachrichten gesagt. In den letzten Wochen, ja Monaten hatte immer wieder jemand so etwas gesagt. So oft, dass sie beinahe daran geglaubt hätte.

Sie starrt auf die Leute, die in den Bus drängen, die sie daran hindern, selbst auszusteigen, und weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Empört oder entsetzt oder gleichgültig sein. Erst aussteigen, dann einsteigen. Das hat vor Corona keiner kapiert, und das kapiert auch nach Corona keiner. Das war vor Corona scheiße und jetzt ist es noch beschissener. Nein, die Maske in deinem Gesicht allein hilft nicht, du Volltrottel. Abstand ist das Zauberwort. Anstand würde auch schon helfen. Beides bekommt sie heute morgen nicht und manchmal, ganz manchmal wünscht sie sich den Lockdown zurück. Die Zeit, als alle die Luft angehalten haben. Die Zeit, als die meisten noch dachten: „Scheiße, das ist schlimm.“ Denn bei ´Scheiße, das ist schlimm`, denkt man, dass sich etwas ändern muss. Bei ´Scheiße, das ist schlimm`, ist mancher sogar bereit, etwas zu tun. Zuhören. Rücksicht nehmen. Helfen. Die Augen aufmachen. Irgendetwas. Nicht blind in einen Bus rennen, so blind, wie durch das eigene Leben.

„Ein „wie vorher“ wird es nicht geben.“ Als sie den Satz zum ersten Mal hört, zieht sich ihr Magen zusammen. Ein bisschen Angst, ein bisschen Vorfreude, ein bisschen Abenteuer. Ein Aufbruch in unendliche Weiten, fremde Galaxien, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.

Vielleicht ist es doch ein Weckruf, diese Krise, diese Seuche, die so schnell zeigt, was schief läuft. Ein paar verheißungsvolle Phrasen ziehen durch die unzählbaren Sondersendungen, sie saugt sie begierig auf: Neubewertung, welche Berufe wirklich wichtig, weil systemrelevant sind. Diesen Berufen in Zukunft mehr Anerkennung schenken, auch finanziell, selbstverständlich, kollektives Klatschen reicht nicht. Flexiblerer Umgang mit Homeoffice, die Arbeit an sich soll neu gedacht werden. Sogar das bedingungslose Grundeinkommen wird ins Spiel gebracht. Ein Neustart mit Fokus auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Die Praktiken der Fleischindustrie hinterfragen, (wer hätte das gedacht) – so viele Hoffnungen, so viele schöne Phrasen. Und immer wieder Gemeinschaft. Solidarität. Im Moment würde ihr reichen, wenn wenigstens die Distanz geblieben wäre. Aber selbst die haben die meisten wohl nicht oft genug geübt.

Die letzte viertel Stunde fährt sie U-Bahn. 1,5 m sind viel weniger als man denkt, zumindest, wenn man sich selbst ein wenig Mut machen möchte. Und so eine Maske hilft bestimmt auch, wenn der Nebenmann sie nur in der Nähe der Nase trägt. Hauptsache, die Viren wissen, was gemeint ist. Und morgen fährt sie sowieso wieder mit dem Fahrrad, heute zählt quasi gar nicht.

„Ein „wie vorher“ wird es nicht geben.“ Nein, wohl nicht. In nächster Zukunft kann sie ihren Mitmenschen an der Nasenspitze ablesen, ob sie sich Gucci leisten können und welche Fußballmannschaft sie mögen. Sie wird an geschlossenen Lokalen, Läden und Kulturstätten vorbeigehen und sich nur mit Mühe erinnern, was dort eigentlich einmal war. Die Welt wird weniger bunt geworden sein, aber sie bezweifelt, dass es ihr auffällt. Sie könnte sowieso nicht alle Theater besuchen, selbst wenn sie wollte. Keine Zeit. Viel zu wenig Zeit. So viel von dem Verlorenen wird sie nicht vermissen.

Irgendwann wird sich alles wieder eingespielt haben, was wirklich wichtig ist. Die erste Wiesn nach. Das erste Fußballspiel mit Publikum nach. Der erste DAX-Stand von 13.000 Punkten nach. Das erste Dschungelcamp nach. Der erste …

Moment mal, da war doch… gab es nicht mal…?

„Ein „wie vorher“ wird es nicht geben.“ Doch niemand hat gesagt, wie das Nachher aussehen wird. Doch nur eine etwas blassere Kopie des Originals?

Aussteigen. Einsteigen. Den Zug verlassen, damit etwas neues passieren kann. Jetzt wird ihr klar, warum sich alles nur im Kreis dreht.

Und dann wird ihr klar, dass sie nicht vorhat, dabei mitzumachen.

Doch was wird sie tun? Erstmal eine Pause einlegen, denn rien ne va plus in Abschiede.

4

Origami

von Carmen

Ahhhrg!
Ich knülle das Blatt zusammen und werfe es hinter mich. Meine Figuren kommen und gehen als würde ich in einem Café die Passanten beobachten. Doch niemand bleibt stehen. Niemand erzählt mir seine Geschichte, so dass ich sie aufschreiben und weitererzählen könnte.
Schreibblockade! Irgendwo zwischen Kopf und Blatt ist die Verbindung gekappt. Es fließt nichts aus den Fingern. Wohlgemerkt – wir sprechen nicht über das Problem Weißes Blatt. Irgendetwas schreiben kann man immer. Mittlerweile kennt man seine Strategien. Im Zweifel „Ich erinnere mich an [setze beliebiges Möbelstück oder Leibgericht oder Urlaubserinnerung ein]“ schreiben und irgendeine Erinnerung wird da schon kommen und zack hat man fünf Seiten vollgeschrieben. Das Problem Weißes Blatt existiert nicht mehr.
Nein, das Problem ist der weiße Kopf. Das Problem ist mein inneres Kind, das nicht viel älter als zwei sein kann und das auf dem Boden sitzt, die Spielsachen weit von sich wirft, „NEIN ICH WILL NICHT! NEIN!“ schreit und sich dieser Übung und dem Schreiben ganz allgemein verweigert.
Oh, wie ich diese „ich erinnere mich“-Übung hasse.

Ich schreibe doch auch kein Tagebuch. Wen interessiert denn der alte Schaukelstuhl, in dem meine Mutter meine kleine Schwester gestillt hat? Wen interessiert die Polenta, die bei uns nicht auf dem Teller gegessen, sondern auf einem Brett über den kompletten Tisch gestrichen wird mit einer ordentlichen Portion stundenlang köchelnder Bolognese darauf. Wen interessieren die Grabenkämpfe, in die dieses Essen jedes Mal ausartet: die Kunst ist, sich selbst die besten Bereiche – das heißt, die mit dem meisten Käse und der meisten Soße – zu sichern, gleichzeitig diese aber gegen die Verwandtschaft zu verteidigen, die – bis auf die Zähne bewaffnet – keine Scheu davor haben, die GABEL einzusetzen.
Aus diesen Erinnerungen kann man einen Flickenteppich alter Anekdoten basteln, aber doch keine Geschichten.

„Warum nicht?“

Weil wir hier nicht bei Facebook sind! Ich schreibe nicht über mein Mittagessen. Oder über Schaukelstühle. Oder über meine letzte Sitzung, als das Klopapier alle war.

„Hmm… anscheinend tust du es aber doch.“

Nur um den Punkt zu verdeutlichen. Aber ich werde keine Geschichte darüber schreiben.

„Vielleicht würde es sich lohnen“, sagte die Stimme nachdenklich. „Aber lassen wir das erstmal. Ich bin überrascht, dass du auf mich reagierst, ohne Angst zu haben. Wunderst du dich nicht, wer ich bin?“
Pff… Wer sollst du schon sein? Vermutlich mein Stift oder das Blatt Papier vor mir oder einfach eine Stimme in meinem Kopf. Ist doch egal.
„Ist dir egal???“
Ja.
„Okay … Die Reaktion ist … unerwartet.“ Die Stimme scheint kurz ratlos. Und setzt erneut an. „Du hast keine Angst oder so?“
Nö. Ich mein, solange du mir nicht erklärst, dass du alle meine Haushaltsgeräte zum Streik aufforderst, ist doch alles in Ordnung. So einen Streik könnte ich jetzt nicht gebrauchen. Das tust du doch nicht, oder?
„Nein.“
Gut. Nein, dann habe ich keine Angst. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich schon gefragt, wann es soweit ist. Ich mein, Corona geht jetzt schon ein Vierteljahr, mein Broterwerb ist immer noch im Lockdown. Ich sitze hier, seit vier Monaten, und drehe Däumchen. Ich bin nun wirklich kein Ass in Selbstdisziplin. Meine Tagesstruktur besteht darin, dass es keine gibt. Dabei sei Tagesstruktur wichtig für die geistige Gesundheit, wird behauptet. Ich habe mich gefragt, wann bei mir die Sicherung durchknallt. Jetzt, wo es endlich soweit ist, bin ich ehrlich gesagt erleichtert.

„Er-leich-tert? Du glaubst, ich bin eine durchgeknallte Sicherung?“
Japp. Ich finde, ich habe mir das Recht erarbeitet, durchzudrehen. Erst war Risikopatientin mit Kundenkontakt, dann komplett zuhause. Ich war motiviert, juhu soviel Zeit zum Schreiben, ich habe aufgeräumt, umgeräumt, gearbeitet, geschrieben, gelesen, gevideochattet, umdekoriert, halb Amazon leergekauft, die Konjunktur am Laufen gehalten sozusagen. Das Haus nur verlassen, wenn unbedingt nötig. #StayAtHome #SofasRettenLeben und so. Nur die Trends mit dem Yoga und dem Klopapierhamstern habe ich sein lassen. ICH war Vorzeige-Quarantänin. Aber das konnte ich nur so lange durchziehen. Dann war die Luft raus. Das mit der Selbstdisziplin halt. Kein lesen, schreiben, umräumen mehr. Die Motivation hatte das sinkende Schiff verlassen, unbemerkt irgendwann zwischen der 3. und 4. Netflix-Serie.
Und dann fangen Janas Küchengeräte an, mit ihr zu sprechen und meine schweigen? Hallo? Ernsthaft? Das hat mich schon verletzt. Hab ich nicht verdient, dass hier mal jemand mit mir spricht?
„Ähm…“
Irgendwann dachte ich dann, es liegt daran, dass mir die Fantasie einfach fehlt. Abgestumpft vom ganzen Binge-Watching. Quasi eine andere Form der Schreibblockade. Eine allumfassende Blockade, die Kaffeemaschinen und Lieblingsstifte mit einbezieht, die in der Zeit der Not mir den Rücken zukehren und eben nicht mit mir reden.

„Du suhlst dich da aber schon sehr im Selbstmitleid.“
Pff… Habe ich dazu etwa nicht das Recht?
„Hattest du die letzten Monate gesundheitliche Probleme? Hattest du Freunde oder Verwandte, die sich infiziert haben? Hattest du Sorgen um deine Arbeitsstelle? Musstest du dich neben dir selbst noch um andere Menschen kümmern, wie beispielsweise um Kinder im Homeschooling, während du selbst einen Vollzeitjob wuppen musstest? Kannst du eine dieser Fragen mit ‚Ja‘ beantworten?“
Ähm.. naja… also so direkt… also eher nein.
„Na dann lautet die Antwort auf deine Frage ‚nein, dazu hast du kein Recht‘. Die letzten Monate waren für uns alle belastend. Es ist in Ordnung, nicht produktiv zu sein, kein Yoga zu machen und kein neues Start-Up zu planen. Aber es ist nicht in Ordnung, dich über Monate gehen zu lassen. Es ist nicht in Ordnung, dich aufzugeben. Das ist jetzt dein Leben und das deiner Mitmenschen. Es besteht aus Masken, Zetteln im Hausflur der jüngeren Nachbarn, die anbieten, für dich einkaufen zu gehen, Eltern in Risikogebieten, die man nur besuchen darf, wenn man eine zweiwöchige Quarantäne im Anschluss in Kauf nimmt und Rachenabstrichen, die den Würgereflex auslösen. Je schneller du dich damit abfindest, desto besser wirst du klarkommen und umso zufriedener wirst du wieder mit dir selbst sein.“
Puh. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. … Die letzten Monate waren schon sehr grau und ich fühlte mich echt nicht so gut. Ich finde es nicht in Ordnung, dass mir mein Stift oder mein Blatt oder mein Unterbewusstsein – wer auch immer du bist – mir sagt, ich dürfe kein Selbstmitleid haben. Selbstverständlich war meine Situation besser, viel besser, als die von anderen. Das weiß ich und mache es mir jeden Tag erneut bewusst. Das hilft aber nicht, mich besser zu fühlen, ganz im Gegenteil. Ich fühlte mich trotzdem schlecht. Mir das Recht zu nehmen, mich schlecht zu fühlen, ist… ich weiß nicht, was es ist, aber okay ist es nicht.

„Entschuldige. Du hast recht. Ich hätte dich nicht mit anderen Menschen vergleichen dürfen. Natürlich hast du ein Recht auf deine Gefühle, auch auf die negativen. Ich hatte nur Angst, dass du dich reinsteigerst und das Licht am Ende des Tunnels nicht mehr siehst und wollte gegensteuern. Das habe ich wohl ordentlich vermasselt.“

Okay…
„Okay?“
Ja, ich mein, wir kennen uns noch nicht so gut, da kann es passieren, dass das erste Gespräch schlecht läuft. Ich akzeptiere die Entschuldigung. Aber ich würde das Gespräch jetzt trotzdem lieber beenden, ich bin müde.

„Okay… Noch eine letzte Frage hätte ich, wenn ich darf?“
Klar.
„Warum heißt der Text jetzt eigentlich Origami?“
Oh. Das. Wenn ich eine Schreibblockade habe, greife ich in meine Wörter-Schatzkiste. Dort haben Freunde, Besucher, Mit-Kursteilnehmerinnen Wörter hinterlassen, die mich inspirieren sollen. Heute war es Origami. Und irgendwie passt es doch, findest du nicht?
„Hmm… Irgendwie schon.“
Besuchst du mich jetzt öfter?
„Ich komme, wenn du mich brauchst“, sagte die Stimme während sie langsam leiser wurde und die letzten Worte nur noch als fernes Flüstern in meinen Gedanken widerhallten.

1

Morgens während Corona (1)

von Jana, Lesezeit < 10 Min.

Erinnert Ihr Euch an den Text „Morgens vor Corona“? Das ist quasi die Fortsetzung. Morgens, kurz nach dem Lockdown…

#stayathome #staysafe #sofasrettenleben – und sie? Steht an der Bushaltestelle, Dienstag morgen, 7 Uhr, Wind und Nieselregen. #staythefuckathome, schön wär‘s! Brot backen lernen und Gesichtsmasken stricken, Bücher schreiben, Bücher lesen, einen Six-Pack antrainieren – oder doch eher trinken. Erstmal einen zum trinken haben, aber im Moment ist in den Supermarkt gehen ja ein Spießrutenlauf. Thefuckathome! Fuck.

Die Haltestelle ist leer. Die ganze Straße ist leer, seit dem Wochenende Ausgangsbeschränkungen. Allein, allein, angemessen um die Zeit, denn mal ehrlich: Niemand sollte morgens um sieben an irgendeiner Bushaltestelle im Regen warten müssen, Corona hin oder her und trotzdem völlig verkehrte Welt. Wo kommen wir hin, wenn wir nirgendwo mehr hingehen können? Muss sie froh sein, kein Brotbacken lernen zu müssen, weil sie noch arbeiten kann? Oder Angst haben, weil sie sich dadurch nicht völlig isoliert? Und wieso eigentlich backen, haben die Leute nichts anderes zu Hause zu tun? Genaugenommen hat sie nach 124 StarTrek-Folgen wahrscheinlich tausende Leben vom Sofa aus gerettet, aber da war das eben noch nicht cool. Jetzt wohl auch nicht. Mehl soll ja auch ausverkauft sein… können die tatsächlich alle backen, so richtig? Sie ist ja schon von Dr. Oetker überfordert.

Der Bus ist leer. Leer! Ein Bus für sie ganz allein, vor Schreck vergisst sie, sich zu setzen. Der Bereich zum Fahrer mit rot-weißem Flatterband abgesperrt, wie auf einer Baustelle. Das ganze Leben eine Baustelle, gerade, alles im Umbruch, neu, nichts funktioniert, die Pausetaste gedrückt, sorry, under construction, come back later, aber die Arbeit läuft irgendwie normal weiter, einstempeln, ausstempeln war nie bekloppter als jetzt, wo doch alle die Luft anhalten, als würden sie das locker länger als fünf Minuten schaffen. Tage, Wochen, Monate in einem seltsamen Vakuum verschluckt, während die Tretmühlen weiter mahlen. So schräg.

Sie setzt sich doch, noch jemand steigt ein, schaut zu ihr, dann erinnert er sich, geht an das andere Ende des Busses. Alles neu, sich gegenseitig begrüßen neu lernen, wegducken ist der neue Handschlag. Sie will aussteigen und der Ärmel der Jacke ist zu kurz, passt nicht über ihren Daumen, doch sie kann die Taste ja nicht mit bloßem Finger berühren. Hat sie etwas angefasst? Alles, den Sitz, die Stange, vergessen und nun alles kontaminiert, herzlichen Glückwunsch, das hat sie super hinbekommen! Aber nun steht sie unter Beobachtung, der zweite Fahrgast mustert sie, die Hand unter dem Stoff ist nicht genug, die Taste leuchtet nicht rot, ihr Wunsch auszusteigen kommt nicht an. Doch der Busfahrer hat Mitleid und öffnet trotzdem die Tür.

Auf den letzten Metern trifft sie doch noch zwei Menschen, einzeln, nicht zusammen, aufgeklappter Mantelkragen, tief ins Gesicht gezogene Mütze, abgewandte Gesichter. Flüchtige im eigenen Viertel. Isoliert und herausgefallen aus der Ordnung, so wie alle jetzt. Wo gehören wir hin, wenn wir uns alle voneinander entfernen müssen? Sie hat sich noch nie so allein gefühlt. Verloren im eigenen Leben.

Die nächsten sechs Stunden beantwortet sie Fragen. Zu Corona, was sonst? Das ganze Spektrum der Verunsicherungen und Verschwörungstheorien, der Vernunftbegabten und Vollidioten, am Ende klingeln ihre Ohren. Nie wieder Corona, nie wieder. Doch es ist ja nur ein Steinwurf, ein Klick, ein Jingle, ein Blick entfernt.

Zu Fuß nach Hause, Abstand bekommen. Wieder die seltsamen dunklen abgewandten Gestalten. Als wäre eine Seuche über die Welt hereingebrochen und hätte alles Leben ausgelöscht. Scheiße, genau das ist ja passiert. So ähnlich jedenfalls. Wie soll sie sich wegträumen, wenn die Fantasie längst die Wirklichkeit ist? Nach Hause, schlafen, die Decke über den Kopf ziehen. Aufwachen und in weit entfernte Galaxien reisen. Hoffen. Vielleicht ist morgen die Welt eine andere. #Stayathome. #Sofasrettenleben?

#HaltetdieWeltanichwillaussteigen.

Mittlerweile ist eine kleine Reihe entstanden, den nächsten Teil findet ihr hier.

Ein letzter Brief an einen Freund

Dieser Brief ist am 6. Juli 2018 entstanden.
Ich poste ihn heute, um an einen besonderen Menschen zu erinnern, seinetwillen.
Und um mich an ihn zu erinnern, meinetwillen.


von Carmen

Das erste, was ich tun wollte, war zum Telefon greifen und dich anrufen. Deine Stimme hören, hören, dass es dir gut geht. Dass du irgendetwas sagst, vielleicht verwirrt, dass ich überhaupt anrufe. Denn telefoniert haben wir bis heute nie. Ein paar Sprachnachrichten, ein paar Whatsapps, Facebook, stundenlang gechattet im Spiel „Die Siedler“. Anonym, unerkannt, Nightmare und die Zarin.

Wir haben davon geschrieben, einander zu besuchen. Ich war unverbindlich, doch du wolltest unbedingt herkommen. Ich hab dir geschrieben, ich wohne im 5. Stock, du sitzt im Rollstuhl, hier gibt es keinen Lift, wie sollte das gehen. Heimlich war ich erleichtert, die Bekanntschaft war dazu verurteilt, künstlich zu bleiben, nur im Netz weiterzuexistieren. Damit kann ich umgehen. Reale Menschen, die Nähe zu mir suchen, verbindlich sind, überfordern mich. Stoße ich weg. So habe ich auch dich weggestoßen: einen großartigen Chatpartner, lustig, immer hilfsbereit im Onlinespiel.
Wenn du schriebst, dass es dir schlecht ginge, dass du Kopfschmerzen hast, dass du wieder einmal krank bist, dass du nicht schlafen kannst, übermüdet bist, habe ich es abgetan. Es war eine ewige Jammerei, der ich auch online nur begrenzt zuhören wollte. Du kannst dich nicht länger konzentrieren, du lagst monatelang im Koma. Und ich habe vergessen, warum. Ich habe tatsächlich vergessen, warum du im Koma lagst. Ich habe es vergessen. Wie konnte ich nur? Wie konnte mir das so egal sein? Dabei wusste ich, du warst einer der seltenen Fälle, wo ich mir – ohne es zuzugeben – tatsächlich sicher war, dass du ein guter Mensch bist. Was auch immer das ist, aber du warst ein guter Mensch. Herzensgüte klang aus allen deinen Chats heraus. Ja, manchmal lästertest du auch ganz gern, aber du nahmst dich selbst nie aus, nahmst dich selten zu ernst.

Du hast mir von einer Frau erzählt, die du getroffen hast. Du bist extra stundenlang zum Weihnachtsmarkt gegangen, um an ihrem Stand Glühwein zu bestellen, sie zu sehen, mit ihr zu reden und zu lachen. Rastalocken hatte sie, darauf stehst du, sagtest du. Kurios, dachte ich. Du warst jemand, der gegenüber seinen Freunden und Menschen, die er mochte, selbstlos auftrat. Opfer einging, Unangenehmes auf sich nahm. Du wärst auch hier die fünf Stockwerke Altbau hochgestiegen, irgendwie. Wenn das der Freundschaft zuträglich gewesen wäre, hättest du versucht, das hinzubekommen, es irgendwie zu organisieren.
Ich daneben tat viel zu groß, viel zu wichtig, überheblich. Dazu tendiere ich, wenn die Person neben mir sich so klein macht, wie du es tatest. Beide waren wir unsichere Menschen, die diese Unsicherheit unterschiedlich kanalisierten.
Du auf offene Weise.

Als ich mit dem Spiel aufhörte, brach der Kontakt ab. Du hast dich nochmals gemeldet und geschrieben, dass es dir egal sei, ob ich spielte oder nicht, Hauptsache wir blieben in Kontakt. Taten wir nicht. Ich meldete mich nicht mehr. Warum auch, was hätte ich denn auch sagen können. Was hat jemand wie ich denn zu sagen? Nur – das weiß ich – ist das die falsche Frage. Freunde hören zu.

Am 22. Juni 2018 bist du gestorben. Im Urlaub in Tunesien, morgens nicht mehr aufgewacht. Hast du gelitten? Hattest du Schmerzen? Ist das jetzt noch relevant? Hast du dich einsam gefühlt?
Einen Tag später stand es auf Facebook. Ich habe die Nachricht deiner Schwester gelesen und sofort war klar, dass etwas fehlt. Das Gefühl war sofort, unmittelbar und überwältigend. Etwas Selbstverständliches fehlt. Was für ein riesengroßer, irreparabler Irrtum dieses Gefühl der Selbstverständlichkeit doch ist.
Ich habe die Nachricht gelesen und wollte zum Telefon greifen, dich anrufen. Dich fragen, ob es stimmt. Hören, dass sich da jemand einen wirklich makaberen, schmerzhaften Scherz erlaubt. Ich las die Nachricht wieder und wieder. Denn das kann doch nicht sein. Am 31. Juli hättest du deinen 31. Geburtstag gefeiert. So jung stirbt man nicht. Das tut man einfach nicht.
Erst die Beileidsbekundungen unter dem Post brachten mich dazu, es zu glauben.
ES
Deinen Tod als gegeben hinzunehmen. Dem Drang, zum Telefon zu greifen, nicht nachzugeben.

Lieber Daniel, heute, zwei Wochen später, schaffe ich es endlich, zu weinen. Genau zwei Wochen, nachdem du eingeschlafen bist, ohne jemals wieder aufzuwachen.
Leb wohl, mein Freund.


orange blossom

von Jana, Lesezeit < 5 Min.

Nick drosch mit dem Sechser-Eisen auf den Ball ein. Er flog irgendwo in die Büsche, Ben achtete nicht darauf. Er bemerkte aber die Erdklumpen, die sich dank Nicks Gewalt aus dem Rasen gelöst und ein Stück lang den Ball begleitet hatten bevor sie zu Boden gefallen waren. Er hob eines davon auf. Ein bisschen Erde und Gras, das sich seltsam, geradezu gummiartig anfühlte. Er roch daran, doch es war falsch. Keine Erinnerung an weiche Halme unter nacken Füßen, heiße Sommer, Insektenzirpen, süße Eiscreme und klebrige Finger. Selbst das Gras hier roch nach Gier und leeren Träumen.

„Was jetzt?“, fragte Nick. „Schlägst du noch oder willst du lieber Gärtner werden?“

„Warum nicht beides?“, erwiderte Ben.

Er zerbröselte die falsche Erde mit seinen Fingern. Eduardo hatte ihm alles über Böden beigebracht. Woran man erkannte, dass sie fruchtbar waren, wie man sie wässern musste, wann man den Boden lockern und wann man ihn in Ruhe lassen musste. Eduardo wusste alles über Böden und den Regen und die Sonne und ihren ewigen Tanz miteinander. Ménage à trois.

Plötzlich hatte er den unverwechselbaren Duft von Orangen in der Nase und jemand rief seinen Namen.

„Was ist denn jetzt? Machen wir weiter?!“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich muss nach Hause.“

Wie dieser Text entstanden ist? Mir fehlte zuletzt die Inspiration. Ich saß vor dem leeren Blatt, es starrte zurück, wir wurden uns nicht einig… schließlich hatte ich eine Idee. Ich habe mir ein Buch genommen, es irgendwo aufgeschlagen und einen Satz gelesen. Das ganze habe ich mit einem zweiten Buch wiederholt. Die zwei Sätze habe ich in meinem Kopf hin- und hergeschoben bis sie sich schließlich zu einer neuen Idee für einen Text geformt haben. Et voilà!

Andere Schreibinspirationen findet ihr hier. Schreib los!

Die Letzte ihrer Art


von Carmen

Dextra öffnete die Kordel an ihrer rechten Hüfte und der raue Stoff der Kutte glitt langsam über die Schultern an ihrem Rücken entlang auf den felsigen Boden. Sie liebte diesen Moment. Die kratzige Berührung des Stoffes, das Gefühl, wie die kühle Luft fast in Zeitlupe immer mehr von ihrer Haut umhüllte. Zuerst spürte sie den kalten Wind an ihrer Schulter, dann an ihrer Brust. Sie fühlte, wie sich die Brustwarzen zusammenzogen. Dann fiel der schwere Sackstoff ohne Unterbrechung ganz zu Boden und die Kälte umhüllte ihren Bauch, ihre Hüften, Oberschenkel und ihren Schambereich. Die Vorfreude erreichte ihren Höhepunkt.
Es ging los.

Sie blieb einen Moment mit geschlossenen Augen stehen, konzentrierte sich auf den Wind, die Kälte, die Gänsehaut auf ihren Armen und Brüsten, das Rauschen in den Bäumen, das helle Sprudeln des künstlichen Baches in der Nähe, die Schraffur der Felsen unter den Füßen.
Sie hatte von Anfang an keine Schwierigkeiten gehabt, alle anderen Geräusche auszublenden. Störfaktoren zu übersehen. Zuschauer zu ignorieren.

Ein unterdrücktes Kichern ging durch die Reihen.

Tief atmete sie ein, während sie ihre Füße hüftbreit aufstellte, den Rücken gerade durchdrückte und die Arme nach oben streckte. Sie lehnte ihren Kopf nach hinten, atmete tief durch und öffnete die Augen.
Laut und klar, voller Inbrunst begann sie die erste Stufe des Rituals:
„Mutter Erde, Meisterin der Schöpfung, Ursprung der Wunder, deine Tochter ruft dich!“
Sie stellte ihre Beine so weit auseinander, wie sie noch aufrecht stehen konnte, und streckte die Arme mit aller Kraft zur Seite, so dass sie aussah wie ein X.
Sie wartete einen Moment, hielt die Spannung aufrecht. Dann ging sie in die Hocke, ohne die Beine vorher zusammenzustellen.
„Mutter Erde, Heimat allen Daseins, Anfang und Ende jeden Lebens, Deine Tochter ruft dich!“
Erneut pausierte sie und ließ den Worten Zeit, sich zu entfalten.
Bedächtig ließ sie sich anschließend in den Vierfüßlerstand gleiten.
„Ich bin Euer, ein Herzschlag der Schöpfung, ein Staubkorn im Universum. Gewährt mir, Euer Werkzeug zu sein.“

Dextras Weg war von kleinauf vorgegeben gewesen. Jedes Dorf schenkte pro Jahr fünf Säuglinge, geboren in Vollmondnächten, den Einigkeitsklöstern. Dort wurden sie ausgebildet und erzogen, als Teil der Gemeinschaft, als Teil des Großen Ganzen.
Dextra war eine Klosterwaise.
Keine der Nonnen oder Mönche kannte seine leiblichen Eltern. Warum auch? Warum die Scheuklappen auf zwei menschliche Elternteile richten, wenn doch die Natur Mutter aller Wesen war, wenn doch alles eins war, wenn alle Menschen unterschiedliche Formen ein und desselben waren. Sie waren keine Individuen, sondern Schwestern und Brüder, Mütter, Tanten, Onkel und Väter.

Sie war beim wichtigsten Teil der ersten Stufe des Rituals angelangt – der Teil, der sie daran erinnerte, wer sie war. Was sie war.
Langsam legte Dextra sich bäuchlings auf den Stein, Arme und Beine erneut wie ein X von sich gestreckt. Sie genoss diesen Augenblick. Ihr Geist war offen, die Art, wie ihr Körper schutzlos auf dem nackten Boden lag, war das sichtbare Symbol dafür. Sie war eins mit ihrer Umwelt, ihr ausgeliefert. Der Wind strich über ihren Rücken, der felsige Untergrund kratzte an ihrem Bauch, ihren Oberschenkeln, ihren Knien. Mit dem Gesicht direkt auf dem Boden spürte sie, wie ihr Atmen sich an ihren Wangen nach oben verflüchtigte. Der Untergrund roch nach Moos und Erde.
Sie wünschte, sie könnte den Moment festhalten. Die Zeit stoppen. Denn tiefer würde sie nie wieder in die Mystik der Klosterwaisen eintauchen können. Die Rituale waren nie für eine Einzelperson ausgelegt gewesen. Dass eine von ihnen jemals vollkommen alleine sein könnte, auf sich gestellt, war ein undenkbarer Gedanke.

Wären ihre Brüder und Schwestern noch am Leben, würden sie jetzt neben ihr liegen, sich an Händen und Füßen berührend, fühlend, dass man zusammengehörte, gleich war und doch nur winzig klein im Angesicht des Universums.
Alle würden sie gleichzeitig aufstehen, eines Stichwortes hatte es dazu nie bedurft. Die Trommeln würden beginnen, in einem sich immer weiter beschleunigenden Rhythmus schlagen und alle würden sie tanzen. Und wie sie tanzen würden! Schneller, immer schneller, zusammen, alle Sorgen, Ideen, Wünsche und Ängste ablegend, jeden einzelnen Gedanken, der sie zu Individuen degradierte, vergessend. Sie würden sich berühren, sich selbst und die Nebenperson, die ja nur eine andere Form ihrer selbst war, und sich vereinigen.

Doch ihre Brüder und Schwester gab es nicht mehr. Drei Tage und drei Nächte hatte es gedauert, während sie starben, einer nach dem anderen, oder vom Glauben abfielen, bis nur noch wenige übrig waren. Die Eroberer kannten keine Gnade als sie kamen und das Land sich zu eigen machten.

Wieder ging ein Kichern durch die Reihen.
„Keine Ahnung, warum unsere Eltern überhaupt so lange gebraucht haben, diese Tiere abzuschlachten. Ich hätte einfach gewartet, bis sich diese unzivilisierten Wilden wieder nackt auf die Schlachtbank gelegt hätten und hätte meine Axt tanzen lassen.“
Dextra hatte von Anfang an keine Schwierigkeiten gehabt, alle anderen Geräusche auszublenden. Störfaktoren zu übersehen. Zuschauer zu ignorieren. Sie atmete tief durch. Konzentrierte sich auf den Wind, das Blätterrascheln. Ich bin ein Staubkorn.
„Pff, du bist ein Idiot. Das wäre reine Verschwendung. Die bettelt doch danach, rangenommen zu werden, wie die da liegt.“
Ein Mann lachte.
„Nah, da ist doch nichts dran. Titten am Nabel und nirgendwo Fleisch…“

Der Moment entglitt ihr. Langsam richtete sich Dextra wieder vollkommen auf, blickte an den Zuschauern vorbei zum Horizont und sprach den letzten Satz:
„Ich bin Dein Staubkorn, tanze frei nach Deiner Gnade, gewähre mir Einsicht in deine Allwissenheit!“
Immer noch wartete sie an dieser Stelle auf die Trommeln, die seit Jahren beharrlich schwiegen.

Sie trat einen Schritt nach vorne, wandte sich den Zuschauern zu, wobei sie versuchte, niemanden von ihnen direkt anzusehen.
Die Lautsprecher knackten.
„Sehr geehrte Herren, das war das mystische Einigkeits-Ritual der letzten überlebenden Klosterwaise, nur hier auf dem Gelände des Hydro-Elemente-Zoos. Das nächste Einigkeits-Ritual findet heute Nachmittag um 15 Uhr statt. Vergesst nicht, auch unsere anderen Shows zu besuchen. In 30 Minuten startet die Fütterung der Seehunde. Wir wünschen Ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt.“

Das Ritual verfehlte auch dieses Mal seine Wirkung nicht, auch wenn sie nur die erste Stufe durchführen konnte. Sie wusste genau, was sie war: ein übrig gebliebenes Puzzlestück, unklar, zu welchem Motiv sie einmal gehört hatte. Ein aus der Zeit gefallenes Instrument, an dessen Nutzen sich niemand mehr erinnerte. Ein Exponat zur Unterhaltung der Besucher. Sie war die letzte, lebende Klosterwaise. Sie fragte sich, wie lange noch.
Dextra bückte sich, hob ihre Kutte auf und wartete darauf, dass die Pfleger sie von der Bühne führten.

2

Meeresbrüllen

von Jana, Lesezeit ca. 5 Min.

Ich hatte die Füße im Sand, die Zehen gruben sich fest. Immer wieder erwischte mich eiskaltes Wasser, das um meine Knöchel schwappte. Vor mir das Meer: Grau und wütend war es heute, weiße Gischt spritzte. Das Kreischen der Möwen ging im Pfeifen des Windes beinahe unter. Nur wenige Spaziergänger hatte sich an den Strand gewagt, aber der obligatorische T-Shirt-Träger, der darauf bestand, dass Ende September Urlaubszeit und damit schönes Wetter wäre, war dabei. Ich schloss die Arme enger um den Körper, um mich vor den kalten Böen zu schützen.

„Und du willst wirklich nicht mit? Du kannst es dir noch überlegen!“

Meine Mutter stellte die Frage zum fünften Mal und ich spürte das heiße Gefühl im Magen, die Wut, stürmisch wie die Wellen vor mir. Das Meer – so groß, so eigensinnig, unabhängig. Wie gerne hätte ich mit ihm getauscht.

„Nein, wirklich nicht“, ich versuchte, freundlich zu sein, ruhig, gelassen. Ich wollte nicht laut werden, denn wenn wir stritten, taten wir es üblicherweise in eine Richtung. Sie schwieg wie eine Mauer und ich warf meine Wut dagegen. Doch im Gegensatz zu Wasser, das sich irgendwann selbst durch Stein graben kann, richtete mein Geschrei absolut nichts an.

„Aber du liebst Bootsfahrten! Morgen soll das Wetter auch besser werden.“

„Ich will trotzdem nicht.“

„Und was willst du dann machen?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Spazieren gehen.“

Meine Mutter seufzte und sie schenkte mir diesen Blick. Diesen ´Ich weiß genau, was in dir vorgeht, aber ich liebe dich so sehr, dass ich dich nicht drängen will.`-Blick. Ich hasste ihn.

„Überleg es dir doch nochmal. Es ist bestimmt unser letzter Urlaub zu dritt, nicht wahr?“

Ich spürte mich nachgeben, nur damit ich meine Ruhe haben würde. Ich versuchte, wenigstens einen Teil meiner Würde zu retten. Ich ließ sie stehen und ging weiter. Der Wind brauste über mir, riss an meinen Haaren. Die Wellen schlugen in einem dumpfen Rhythmus an den Strand und in meinem Kopf liefen die Zeilen eines Liedes dazu auf und ab.

„Schwere See, schwere See, mein Herz.“


Let`s get lost

von Jana, Lesezeit ca. 3 Minuten

Als Kind bin ich oft verloren gegangen – in meinem eigenen Kopf. Ständig war ich in einem anderen Leben, hatte dort viele Geschwister, mit denen ich gespielt und gestritten habe. Es gab in diesem anderen Leben komplizierte Regeln, die man keinesfalls brechen durfte – oder auch einem Außenstehenden verraten – sonst wären furchtbare Dinge passiert.

Mein „echtes“ Leben kam mir recht langweilig vor, deswegen brauchte ich Geschichten – gruselige, lustige, ganz egal. Am liebsten wäre ich ein Waisenkind gewesen, dem Schreckliches widerfahren war, aber alles hätte ich tapfer überstanden. Ich wäre trotzdem gut und rechtschaffen geworden. Ich wollte so gerne im Internat leben, weg von meinen Eltern, das echte, spannende Leben leben. Im Sommer war ich ein Bauernmädchen, unser riesiger Garten war meine Alm. In diesem Sommer entdeckte ich auch die Lücke im Zaun, die mich ungesehen vom Grundstück gebracht hätte – doch ich nutzte sie nie. Kletterte nur hinaus und gleich wieder hinein – wohin hätte ich auch gehen sollen? Die wirkliche Weite war schon immer in meinem Kopf gewesen. Träumen und fliegen konnte und kann ich auf engstem Raum. Was interessiert mich die Realität? Sie ist nur eine mögliche Form der Welt und selten die spannendere.

Mittlerweile habe ich Angst, die Realität allzu oft zu verlassen. Denn als Erwachsene stellt sie gewisse Aufgaben an mich, die mir niemand abnehmen kann. Also fliege ich im Schreiben? Oh, welch schöner Abschluss, schöner Trost, aber sind wir doch mal ehrlich: Im Schreiben ist kein Zauberland, da ist nie genug Weltflucht.

Das Einfachste der Welt

von Jana, Lesezeit ca. 5 Min.

„Ich wollte immer hier raus“, sage ich und starre auf das viel zu vertraute Bild zugewachsener Gleise, halbverfallener Schuppen und einen schmutzig-roten Sonnenuntergang.

Die Schuppen waren schon so verfallen, als ich all das hier das erste Mal sah. Damals, als wir diesen, unseren Platz fanden, eine rissige Backsteintreppe, die wohl mal irgendwohin geführt hat, jetzt aber völlig isoliert in der Nähe der Gleise steht. „Stairway to Heaven“ hat Hape sie irgendwann mal getauft. Aber so oft wir sie auch ersteigen – sie führt uns nirgendwo anders hin, auch heute nicht. Wir bleiben hier und obwohl wir älter werden, ändern wir uns nicht. Wir sind wie diese Schuppen, die vor Jahren schon hätten einstürzen müssen, aber stattdessen in ihrem halbverfallenen Zustand der Zeit trotzen, als gäbe es irgendetwas zu beweisen.

„Und wo bin ich jetzt?“, frage ich niemand bestimmtes, aber natürlich fühlt sich Hape angesprochen, denn außer einer verirrten Maus und ein paar Vögeln ist er es, der diesen beschissenen Moment meines Daseins mit mir teilt. Und er lacht. Kein richtiges, lautes Lachen, mehr so ein Schnaufen neben mir. Ich bin empört, werfe ihm auch einen entsprechenden Blick, doch er schüttelt nur den Kopf.

„Alter, du bist 28, nicht 68 – jetzt piss dir mal nicht ins Hemd! Du kommst schon noch raus“, murmelt er. „Außerdem wohnst du nicht mehr bei deinen Eltern – das ist ein Anfang.“

„Aber ich wohne nicht mindestens 1.000 km von diesem Kaff entfernt – also wohne ich quasi noch bei meinen Eltern.“

„Das ist deine Interpretation…“

Ich seufze. „Scheiße Mann, mit 18 war ich sicher, dass ich um diese Zeit den halben Planeten gesehen habe!“

„Was hat dich gehindert?“, fragt Hape mich, doch er kennt die Antwort (sie ist weiblich und schön und hat jetzt einen anderen) und deswegen ist es eine rhetorische Frage.

„Was hindert dich jetzt?“, hakt er nach und natürlich hat der Recht, doch ich will dieses Thema nicht logisch angehen. Ich will einfach nur mit mir und der Welt unzufrieden sein, auch wenn das bedeutet, dass ich innerlich nicht 28 sondern eher 8 Jahre alt bin.

„Warum willst du nicht weg?“, frage ich stattdessen. Ich habe Hape immer in einem Jet-Set-Leben gesehen. Scheiße berühmt. Rockstar oder so. Weil er einfach nie in diese Welt gepasst hat, in diesen kleinen Ort vor der großen Stadt mit grauen Häusern und farblosen Meinungen mit der Tendenz zu braun.

Hape war der Junge, der verprügelt wurde, weil er ein Glitzer-T-Shirt trug und am nächsten Tag unbehelligt mit „Better gay than asshole“ durchkam, weil seine Feinde zu blöd waren, den Aufdruck zu verstehen.

Hape zuckt mit den Schultern. „Warum sollte ich?“

Ich weiß, dass er irgendetwas mit Musik macht. Irgendwie nebenbei. Er lebt seinen Traum – irgendwie – und trotzdem. „Na, weil hier… hier ist. Und nicht New York oder so…“

Hape lacht, diesmal wirklich. Ein lautes, helles Lachen. Er scheint gar nicht wieder aufhören zu wollen.

Dann kommt jemand, das vertraute Bild wird von einer Silhouette durchbrochen. Eine Person, die langsam auf uns zugeht, die Sonne im Rücken, ihre Gesicht verdunkelt. Ich erkenne sie nicht, aber Hape tut es. Er hört auf zu lachen, aber ein Lächeln bleibt in seinem Gesicht und es wird breiter je näher die Person auf uns zukommt.

„Mein New York ist hier“, sagt er dann, als wäre es das Einfachste der Welt.

Du kanntest Hape noch nicht? Hier ist noch eine Geschichte mit ihm: Lies los! Außerdem hat sich Hape von der Autorin interviewen lassen. Schau einfach mal auf Facebook bei uns vorbei!

Im Regen der Kirschblütenblätter

von Jana, Lesezeit ca. 15 Minuten

Seit Generationen trennt der Spalt die Bewohner der Stadt, aber Anjan und Leila werden einen Weg finden, zusammen zu sein. Werden sie? Der Text ist 2013 entstanden, aber er passt in eine Zeit, in der wir uns mit Abstand begegnen sollen – körperlicher Abstand, nicht emotionaler!

Es ist nicht genau überliefert, wann es passierte, doch es muss vor langer Zeit gewesen sein. Selbst meine Großmutter kannte nur diese Stadt, zerrissen und verwundet. Sie erzählte mir einmal, dass ihre eigene Großmutter dabei war, als es passierte, doch ob man diese Geschichte glauben kann, weiß ich nicht.

Eines Tages jedoch war er da, einfach so. Über Nacht hatte der Spalt diese Stadt in zwei Hälften geteilt. Eine klaffende Wunde zwischen den Menschen, die am Vortag noch Nachbarn gewesen waren. Tief und breit hatte er sich in den Boden gegraben, zu breit, um übersprungen zu werden. Und auch die Worte, die auf der einen Seite gesprochen wurden, verflüchtigten sich im Wind, bevor sie auf der anderen gehört werden konnten.

Doch so tief die Wunde auch war, die Menschen gewöhnten sich schnell daran. Jede Seite lebte ihr Leben und ihre Bewohner vergaßen bald, dass die Leute auf der anderen Seite einst ihre Freunde gewesen waren. Wer nicht in seiner Nähe wohnte, vergaß bald sogar den Spalt selbst.

Wir jedoch lebten in einer der toten Straßen, so nannte man jene, die von dem Spalt durchschnitten waren. Seit meine Füße mich tragen konnten, lief ich jeden Morgen dorthin, setzte mich an den Rand und ließ mich von der schwarzen Tiefe in den Bann ziehen, bis mir schwindlig wurde. Dann legte ich mich auf den Rücken, die Augen geschlossen, bis mein Körper die Beständigkeit meiner kleinen Welt wieder spüren konnte. Danach wiederholte ich das Spiel, getrieben von der Faszination der Tiefe und der klammernden Furcht vor der Zerstörung, die so unmittelbar und endgültig vor meiner Haustür lag.

Eines Morgens stand er da, auf der anderen Seite. Anjan.

Natürlich hatte er mir seinen Namen nicht sagen können. Doch er malte die Buchstaben solange in die Luft, bis ich verstanden hatte. Und ich malte ihm meinen Namen, wieder und wieder, bis ich ihn von ihm in die Luft gezeichnet lesen konnte: Leila.

Er lächelte als ich nickte und ich lächelte zurück. Von da an sahen wir uns jeden Tag.

Anjan war ein begabter Zeichner. Seine Bilder erzählten mir sein Leben. Er hatte einen großen Bruder und einen Hund namens Billy. Seine Mutter backte den süßesten Kirschkuchen auf der anderen Seite und er fuhr gerne Fahrrad.

Ich brachte meine Bücher mit an den Spalt und spielte ihm aus den fremden Welten vor. Ich war ein Cowboy inmitten feindlicher Indianerstämme, Zauberer in einem mächtigen Königreich oder ich schlug mich als Abenteurer durch einen dichten Dschungel voller giftiger Tiere. Anjan hielt mich für eine große Schauspielerin und ich brachte ihn zum Lachen und zum Weinen.

Eines Tages hatte Anjan keinen Zeichenblock dabei, sondern eine Handvoll Kirschkerne. Ich beobachtete, wie er seine Hand über dem Spalt ausstreckte und sie alle in die Tiefe stürzen ließ. Ich verstand erst nicht, doch Anjan erklärte mir, dass aus einem dieser Kerne ein Baum wachsen würde, groß und kräftig. Seine Äste würden bis über den Spalt reichen und wir könnten an ihnen auf die andere Seite klettern. Es war die wunderbarste Idee, von der ich jemals gehört hatte.

Ich konnte es kaum abwarten und jeden Tag kniete ich nun Stunden vor dem Spalt, meinen Blick in die Tiefe gerichtet in der Hoffnung ein klein wenig Grün zu erhaschen. Doch es dauerte zwei Jahre und viele große Regen bis ich ihn eines Morgens erblickte – unseren Baum. Ich tanzte auf der Stelle und jubelte Anjan zu, der ebenfalls an den Rand trat und in die Tiefe hinabblickte. Als er wieder aufsah, lächelte er und er malte ein Bild von mir und sich selbst, wie wir gemeinsam tanzten.

An diesem Tag dachten wir uns tausend Dinge aus, die wir zusammen tun würden, wenn unser Baum erst groß genug war. Er wollte mir das Fahrrad fahren beibringen und ich überlegte, welches Buch ich ihm zuerst zeigen wollte. Am Ende stellten wir uns vor, ein Straßenfest zu veranstalten, auf dem meine und seine Nachbarn zusammen feiern würden. Zusammen. Die Vorstellung machte mich ganz schwindlig.

Jeden Tag beobachteten wir den Baum, doch er wuchs nicht annähernd schnell genug für unsere Pläne und nach und nach wurde mir bewusst, dass wir lange auf unseren gemeinsamen Tanz würden warten müssen.

Es war an einem Frühlingstag als Billy starb. Anjan brauchte kein Bild, um es mir zu erzählen. Ich sah es an der Traurigkeit in seinen Augen. Trotz unserer düsteren Stimmung strahlte unser Baum im weißen Kleid der Kirschblütenblätter und es kam uns beiden vor wie ein böser Streich. Der Wind trocknete Anjans Tränen und ließ die Kirschblütenblätter aufsteigen und tanzen bis sie müde wieder in den Spalt zurückfielen.

Ich beobachtete den weißen Aufstieg und Fall und war untröstlich. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass wir nicht unsterblich waren.

Die Jahre vergingen und Anjan und ich sahen uns noch immer beinahe jeden Tag. Er kehrte die Straße auf seiner Seite, während ich in unserer Straße die Blumenkübel bepflanzte und pflegte. Wir schafften es fast immer zur gleichen Zeit fertig zu werden und dann setzten wir uns an die Kante des Spalts, baumelten mit den Füßen dem Abgrund entgegen und beobachteten unseren Baum. Die Tiefe hatte für mich längst ihren Reiz verloren. Vielleicht lag es daran, dass der Baum sie mit jedem Jahr mehr ausfüllte, dass sein Grün sich unaufhaltsam dem Licht entgegenstreckte. Er war schon fast bis zur Hälfte des Abgrunds gewachsen und Anjan und ich schmiedeten noch immer Pläne für unsere gemeinsame Zeit. Er würde mir Kirschkuchen backen, seine Mutter war letztes Jahr gestorben. Ich wollte ihm aus meinem Roman vorlesen, wollte, dass er die Worte hörte, in die ich die Geschichte kleidete, für die meine Schauspielkunst nicht ausreichte. Unsere Geschichte.

Es waren die Tage, an denen es uns nicht gelang, uns zu sehen, die mir zu schaffen machten. Der Spalt wirkte plötzlich viel breiter, beinahe unüberwindbar, wenn es niemanden gab, dem man auf der anderen Seite entgegen sehen konnte. An diesen Tagen zog sich mein Blick plötzlich wieder in die Tiefe, die dunkler war als sonst, ein unendlicher Schlund, der Anjans und meine Pläne mühelos verschluckte.

Und dann war Anjan plötzlich verschwunden. Drei Tage lang wartete ich vergeblich am Spalt, drei Tage, an denen mich die unerbittliche Tiefe verhöhnte. Am vierten Tag spiegelte der Himmel den Trübsinn meines Herzens und als ich den letzten Blumenkübel gegossen hatte, ging ich nach Hause ohne den Spalt eines Blickes zu würdigen.

Noch auf dem Heimweg begann der Tag sich unnatürlich schnell zu verdunkeln und ein tiefes drohendes Grollen begleitete meine letzten Schritte zum Haus.

Nur Minuten später hatte der Himmel sich pechschwarz gefärbt. Ein aufziehender Sturm ließ die Fensterscheiben klirren und der drohende Donner holte immer wieder zu mächtigen Schlägen aus. Für Sekunden wurde es taghell, dann versank die Welt wieder in Finsternis.

Ich stand am Fenster und sah zu, wie sich das Draußen dem Sturm beugte. Die Bäume vor meinem Fenster reckten dem Wind ihre Äste entgegen, der sich gedankenlos daran bediente. Blätter und Zweige wurden abgerissen und wirbelten davon. Es erinnerte mich an den Tanz der Kirschblütenblätter, nur ohne jede Leichtigkeit eines Traums, für den sie tanzen. Es war vielmehr der schlichte Lauf der Natur und plötzlich spürte ich etwas Kaltes tief in mir und für einen Augenblick war die Welt totenstill.

Ein heller Strahl und ein Krachen zerrissen den Moment, so laut, dass ich leise aufschrie. Ich wusste sofort, das etwas geschehen war, doch es dauerte eine Weile bis ich begriff, was sich verändert hatte. Die Dunkelheit war verschwunden und statt ihrer schimmerte eine diffuse Helligkeit durch mein Fenster.

Feuer.

Meine Füßen liefen den gewohnten Weg von allein, meine Augen mussten erst sehen, was mein Kopf sich wehrte zu verstehen, doch jedes Leugnen war zwecklos: Unser Baum stand in Flammen. Mit unstillbarem Hunger fraßen sie sich von Ast zu Ast und ließen von dem satten Grün nur Asche übrig.

„Hör auf!“, schrie ich, „hör auf!“

Der Wind riss an meinem Haar und meinem Kleid, der Donner grollte unversöhnlich und immer wieder tauchten Blitze das Schauspiel in schmerzhaft gleißendes Licht, doch nichts davon hielt mich zurück, mit dem Feuer zu streiten.

Ich schrie so laut ich konnte, übertönte die knisternden Flammen. Meine Wangen wurden nass und ich begriff, dass ich weinte. Die Tränen wurden mehr und mehr und endlich spürte ich sie auf den Armen und in meinem Nacken. Es regnete. Der Himmel weinte mit mir.

Der Regen ließ sich Zeit. Ich blieb bei unserem Baum, ignorierte die Nässe meines Kleides und die Kälte, die mit der Nacht kam. Als der Morgen sich zögernd zeigte, starrte ich ungläubig auf die schwarzen Stummel, die mir aus dem Spalt entgegen ragten.

´Er ist tot`, dachte ich. ´Unser Baum ist gestorben.` Und ich fragte mich, was nun aus uns werden würde. Und ob ich jemals wieder ohne Angst in die Tiefe würde schauen können.

Ich sah auf und erblickte Anjan auf der anderen Seite. Sein Augen sahen mich nicht, sie waren starr ins Leere gerichtet. Ich wusste nicht, ob er meinen Verrat gesehen hatte. Ich habe nie gewagt, danach zu fragen.

Am nächsten Tag ging ich nach der Arbeit wieder zum Spalt. Anjan war da und wir versuchten so zu tun, als wäre alles in Ordnung, als wäre unser Baum noch grün und lebendig und würde nur darauf warten uns eines Tages auf die andere Seite zu bringen. So war es auch am Tag darauf und an dem folgenden und dem danach. Und dann passierte es. Eines Tages sah ich Anjan schon von weitem am Spalt stehen und mir zu winken. Ich war noch auf der Mitte der Straße, doch ich ließ meine Arbeit stehen und lief zu ihm. Er deutete auf eine Stelle in der Mitte unseres Baumes, wo ein schwarzer Stumpf an die ehemals kräftigen Äste erinnerte. Ein grüner Schimmer wehrte sich gegen die Schwärze, die ihn umschlungen hatte und nur Tage später brach ein junger Zweig hervor.

Er würde leben, unser Baum würde wachsen und er wuchs schneller und grüner als je zuvor und doch hatten wir bereits verloren.

Mit jedem Zentimeter, den unser Baum dem Himmel entgegenkletterte, verrann Anjans und meine Zeit weiter, unwiederbringlich, wie durch ein zerbrochenes Stundenglas. Längst wussten wir beide, dass sie nicht reichen würde. Als die ersten Zweige den Rand des Spaltes berührten, noch viel zu schwach, um einen Menschen zu tragen, war mein Haar vollständig ergraut und Anjan brauchte einen Stock. Ich zog ihn auf, wie schlecht er würde damit tanzen können. Er lächelte ungetrübt und meinte, dass er mir ohnehin nur auf die Füße getreten wäre. Anjans Hand zitterte jetzt, wenn er seine Bilder malte und seine Striche verschwammen vor meinen schwächer-werdenden Augen.

Wir sahen uns nicht mehr jeden Tag, besonders im Winter erwiesen sich Eis und Schnee für Anjans Beine als unüberwindbares Hindernis. Meine Augen wurden schlechter und trotz der bald schon fingerdicken Gläser, konnte ich seinen Geschichten immer schwerer folgen. Ich fürchtete den Tag, an dem seine Gesichtszüge für mich unlesbar werden würden und Lächeln und Trauern das gleiche Bild wären.

Der Winter war hart und zäh in diesem Jahr. Und als er besiegt schien und das erste Grün an den Zweigspitzen unseres Baums schimmerte, kehrte er mit vernichtender Grausamkeit zurück. Ich beweinte die erfrorenen Knospen und starrte in den undurchdringlichen Nebel, der sich über dem Spalt zusammengezogen hatte. Ich wusste, dass Anjan auf der anderen Seite stand, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte. Doch ich hätte gern gewusst, ob seine Augen mich noch ausmachen konnten. So also würde es bald sein, wenn die Welt um mich endgültig im Nebel meiner blinden Augen verschwand.

Es war einige Nächte später, als ich das Rufen hörte. Obwohl ich seine Stimme nie vernommen hatte, wusste ich, dass es Anjan war. Sie war hell und klar wie ein sonniger Wintertag, der einem den Frühling verspricht. Schwerfällig trugen mich meine Beine zum Spalt und da sah ich ihn. Überrascht über die Kraft meiner Augen erblickte ich seine von einer einzelnen Straßenlaterne erleuchtete Gestalt auf der anderen Seite. Er sah gut aus, viel jünger als ich ihn zuletzt in Erinnerung hatte. Sein Stock fehlte und er wippte auf seinen Fußspitzen auf und ab.

„Ich komme jetzt zu dir, Leila“, rief er und trat leichtfüßig bis vor an den Rand.

„Nein, Anjan, pass auf!“ Ich konnte kaum hinsehen, als seine Füße einen der kleineren Äste betraten. Ich war mir sicher, er würde nachgeben. Doch er hielt sein Gewicht und Anjan kletterte weiter und weiter. Immer wieder fürchtete ich, die Äste brechen zu sehen und wie Anjan in die Tiefe stürzte, doch am Ende hechtete er sich mit einem Sprung auf meine Seite. Und da war er. Ein junger strahlender Anjan, das Abbild eines wunderbaren Traumes.

„Darf ich bitten?“, flüsterte er und griff nach meiner Hand. Seine Haut auf meiner war warm und rau, genau so, wie ich sie mir immer vorgestellt hatte. Ich nickte, Worte hatten wir nie gebraucht.

Und plötzlich war es Tag, ein warmer, duftender Frühlingstag. Der Wind durchwirbelte mein Haar und schüttelte die Äste unseres Baumes.

Und dann tanzten wir im Regen der Kirschblütenblätter.

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Der Ort

von Carmen, Lesezeit <5min.

Jeder von uns hat einen Ort. Diesen einen Ort, an dem du wieder Kind sein kannst. Zu dem du gehst, wenn das Leben beschissen ist und du dabei bist, zu vergessen, wer du bist. Wer du sein wolltest. Wer du einmal warst. Für jeden von uns gibt es diesen Ort. In Hollywoodfilmen ist es immer eine Parkbank – meist mit Ausblick – oder das Dach eines Hochhauses – immer mit Ausblick. Und vielleicht ist das der Grund, warum einige ihren Ort bislang übersehen haben, denn ich versichere dir, es ist selten eine Bank oder ein Hochhaus und es ist niemals eine Aussicht.
Wenn ich traurig bin und mich das Gefühl der Einsamkeit erdrückt, gehe ich zu meinem für mich besonderen Ort, der mich in alte Tage zurückführt und mich das unbeschwerte Lachen meine Oma hören lässt.
An solch grauen Tagen betrete ich das große Einkaufszentrum in der Stadt, lasse mich von der Rolltreppe in den dritten Stock in die Küchenwarenabteilung fahren und betrachte die Holzlöffel. Das ist mein Ort. Dort bin ich Kind, mit teigverschmiertem Mund, stolz, dass meine Großmutter mich beim Kuchenbacken helfen lässt.

Oma trug immer ein damals schon altmodisches Hauskleid in hellen Farben – rosa, gelb oder hellblau – und eine mit Rosen bestickte Schürze um den „großen“ Bauch. Und sie roch immer, wirklich immer, nach einer Mischung aus Kölnisch Wasser und Zimt.
Oma konnte am besten Kuchen backen „von allen Menschen auf der ganzen Welt“ – das wusste ich als Kind ganz genau. Georg Ruprecht behauptete zwar immer, seine Oma könne am besten backen, aber er log und weil er nicht aufhören wollte, zu lügen, haben wir uns geprügelt. Danach hat Oma gesagt, jeder mag den Kuchen der eigenen Oma am liebsten, das hat der liebe Gott so gewollt und dass ich mich entschuldigen müsse. Also habe ich mich beim Georg entschuldigt, aber ich habe trotzdem nicht mehr mit ihm gespielt, weil so richtig glauben konnte ich das nicht.
Wenn ich nachmittags keine Schule hatte, zeigte mir Oma, wie man bäckt. Natürlich nicht richtig, denn dafür war ich noch zu klein, aber manchmal, wenn ich brav war, hat sie mir eine kleine Schüssel mit rohem Teig gegeben, den ich mit einem Holzlöffel umrühren durfte. Ich wollte neben ihr rühren und brauchte deswegen einen Hocker, auf den ich mich stellen konnte. Mit ihren warmen, stets lächelnden Augen hat sie aufgepasst, dass ich nicht vom Hocker falle und mir dann über die Schulter geschaut und mir gesagt, wie gut ich das mache. Zwischendurch musste ich ein oder zwei Stückchen Apfel probieren, damit wir sicher waren, dass der Apfel auch gut genug war für Omas Apfelkuchen. Und später, wenn der Kuchen schön warm und dampfend aus dem Ofen kam, musste ich den Zimt darüber streuen. Das war meine Aufgabe. Erst dann war der Kuchen fertig. Und meistens habe ich dann genauso gerochen wie Oma.

Heute meide ich Zimt. Ich habe weder Zimt noch einen Holzlöffel zuhause. Diese Gegenstände sind mir zu wertvoll geworden und ich will ihre Bedeutung nicht abnutzen, indem ich sie zu oft sehe.

An dem einen Nachmittag lief ich nach den Schule so schnell ich konnte zur Oma. Die Schule war früher fertig als sonst, vielleicht war eine Lehrerin krank geworden, und ich hatte mir große Mühe gegeben, brav zu sein. Ich und Oma konnten also früher anfangen mit backen, ich war sehr aufgeregt.
Stolz rührte ich den Teig in der Schüssel. Aber diesmal wollte Oma mir nicht über die Schulter sehen und sie sagte mir auch nicht, wie gut ich das mache. Sie lächelte nicht, nicht einmal mit ihren Augen. Ihre Augen waren halb geschlossen. Sie sei müde, sagte sie, sie setze sich kurz hin. Also lief ich zu ihr, hielt ihr den Holzlöffel hin, und forderte sie auf, mir zu helfen.

Das war heute, vor zwanzig Jahren. Meine Eltern und mein Bruder wissen, dass ich sie nicht zum Friedhof begleiten werde. Das tue ich nie. Ich bin hier, im Einkaufszentrum zwischen den Leuten, die umherschwirren, in ihre Handys hineinschreien und keine Augen für die Welt haben. Dies ist mein Ort, hier bin ich.
Ich sehe die Holzlöffel.
Und auf einmal bin ich Kind. Ich rieche die Mischung aus Zimt und Kölnisch Wasser, fühle ihr warmes Lächeln in meinem Rücken und weiß, dass sie hinter mir steht und aufpasst, dass ich nicht falle.

 

2

Pendeln (Eine Liebesgeschichte)

Lesezeit ca. 4 Minuten

Ihr Lieben, heute ist Karfreitag und ich weiß, dass viele von Euch eigentlich über Ostern zu ihrer Familie gefahren wären (so wie ich) und es aufgrund der aktuellen Lage nicht können. Ich habe lange überlegt, welche Geschichte ich heute poste, denn ich fand, keine wird dem Anlass gerecht. Diese ist jetzt ein Kompromiss, ein Erfahrungsbericht aus vielen Jahren als Pendler und der Grund, warum ich Bahnhöfe gleichzeitig hasse und liebe.

Ich wünsche Euch trotz allem ein frohes Osterfest. Ruft Eure Lieben an, skypt mit ihnen und bleibt gesund!

Pendeln

„Ich will eine Liebesgeschichte schreiben!“, erwidere ich skeptisch, doch er zuckt nur mit den Schultern.

„Glaub mir, du findest nirgendwo eine bessere Inspiration dafür“, beharrt er. Und so folge ich ihm aus der überfüllten S-Bahn in den Hauptbahnhof. Im Schieben und Drängen zwischen verschwitzten Menschen und Hindernissen in Form von Koffern spüre ich nichts von der romantischen Stimmung, die ich mir für meine Liebesgeschichte erhofft hatte. Doch er nimmt mich an die Hand und zieht mich weiter bis wir schließlich in der Eingangshalle stehen. Es ist Freitagabend, er sagt, das wäre die beste Zeit und jetzt weiß ich, was er meint.

Die Passagiere, die aus den Zügen steigen, verrenken die Köpfe bis sich ein Strahlen in ihre Gesichter stiehlt. Sie beginnen zu laufen, nur sie selbst scheinen das Ziel zu kennen und dann fallen sich Menschen in die Arme. Küsse werden verteilt – flüchtige Freundschaftsküsse und innige Küsse von Liebenden. Ich beobachte komplizierte Handschlagsrituale von Freunden, verfolge kurze und lange Umarmungen, manche so fest, dass sie wehtun müssen. Und überall sehe ich Lächeln. Freude. Echte Freude.

„Das ist schön, so schön! Danke!“, sage ich und er nickt.

„Du musst aber auch am Sonntag herkommen“, murmelt er dann. Seine Miene ist plötzlich ernst.

„Warum?“

„Weil sie sich dann verabschieden.“

„Oh nein“, wehre ich ab, „das ist mir zu traurig!“

Er mustert mich mit einem seltsamen Blick.

„Aber es gehört zum Lieben dazu.“

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