Geschichten. Überall und Jederzeit

Kategorie: Mord und Totschlag

Photo by Maria Oswalt on Unsplash
von Jana, Lesezeit ca. 7 Min

Für den ersten Teil, die Vorgeschichte von Carmen, klickt Ihr hier.

„Es geht um die Zukunft unserer Welten!“

Die Worte unseres Anführers hallten immer noch laut und schneidend in meinem Kopf. Zusammen mit den wenig hilfreichen Ratschlägen wie „Du musst es schaffen!“ und „Wenn du scheiterst, werden wir alle vergehen.“ Als wüsste ich nicht, wie ernst die Lage war. Als hätte ich nicht erlebt, wie unsere Welten zuerst gerettet wurden und dann doch nach und nach vergangen sind. Weil wir feststellen mussten, dass wir ohne die Riesen nicht leben können. Dass ohne die Riesen das Universum kalt und leer geworden ist und wir im Nichts hängen, ohne Ziel, ohne Perspektive und wir langsam selbst zu Nichts werden.

Ich zupfte nervös an meinem Tarnanzug. Ich hatte meine Welt verlassen müssen, um diesen Auftrag auszuführen. Es war nicht schlimm, sie würde bestehen bleiben, wie alle unsere Welten seit Max Oberon und Clarice Stapleton das neue unzerstörbare Polymer entwickelt hatten. Doch wenn ich erfolgreich wäre, dann hätte ich keine Welt mehr, zu der ich zurückkommen konnte. Diesen Gedanken versuchte ich zu verdrängen, während ich die mit Platanen gesäumte Straße entlang in Richtung des Parks schwebte. Die Sonne schien, Vögel zwitscherten und von irgendwoher drang Lachen an mein Ohr. Ich verstand, warum die alten Riesen manchmal vom Frühling sprachen, den es längst nicht mehr gab. Die Sonne in unserer Zeit ließ zu jeder Jahreszeit die Haut der Riesen verkohlen. Sie lebten jetzt unterirdisch und sie starben. Bald würde es keinen von ihnen mehr geben.

Als ich den Park erreichte, hatte ich keine Mühe, die Zielpersonen zu finden. Unser Anführer hatte mich alte Fotos studieren lassen, doch es wäre nicht nötig gewesen. Die Feier zum ersten Prototyp des neuartigen Polymers fand zentral auf einer großen Wiese statt. Vermeintlich wichtige Riesen standen am Rand und ihre kleineren Exemplare spielten in der Mitte.

Ich erkannte die neuartigen Welten, die wie meine unzerstörbar waren zwischen den herkömmlichen meiner Vorfahren. So zerbrechlich, so leicht zu zerstören. Sie alle waren noch dem Schlund unterworfen gewesen, der ihnen die Luft aussagte und sie nach und nach verschrumpeln ließ. Ein grausames Schicksal, zu dem ich sie nun wieder verurteilen würde. Doch die Gemeinschaft aller Welten hatte entschieden: Lieber ein kurzes Leben als eine ewige Existenz im Nichts eines leeren Universums. Denn es war die Herstellung dieses Polymers gewesen, die den Untergang der Riesen einläutete. Soweit wir es nachforschen konnten, wurde ein Gas bei der Herstellung ausgestoßen, das sich in der Luft mit Kohlendioxid zum schlimmsten Treibhausgas aller Zeiten vermischte und die Erderwärmung um ein Vielfaches beschleunigte.

Noch lachten die kleinen Exemplare und selbst Max und Clarice beobachteten, wie eine Riesin mit blauen Haaren und roter Nase auf einer Welt herumdrückte, um sie zu einem tierähnlichen Objekt umzuformen. Ich zuckte zusammen, solche Schmerzen, die eine zarte Welt empfinden musste, nur zur Freude einer quietschenden Bande Riesen. Ich konnte nicht hinsehen.

Max und Clarice applaudierten, dann mischten sie sich unter die Menge. Ich beobachtete Max, er griff nach einer der alten Welten und betrachtete sie, als würde er verstehen, was er in der Hand hielt. Doch er tat es nicht, würde es nie, denn ich war nicht hier, um ihn etwas zu lehren. Ich schwebte in seine Nähe, dann atmete ich tief durch. Ich musste nur seine Schläfe berühren, so konnte ich seine innere Zentrale stoppen. Von dieser Fähigkeit hatten wir lange nichts gewusst, doch seit wir ewig existierten, hatten wir vieles über die Riesen neu gelernt. Max sank zu Boden, doch ich hatte nicht sorgfältig geplant. Die Welt in seiner Hand wurde unter ihm zerquetscht und zerplatzte. Ich hatte sie zerstört.

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von Carmen 

Dieser Text entstand während des Schreibkurses „Schreib es auf“ im Rahmen der digitalen „Theater Pur“-Veranstaltung der Jugendbildungsstätte Waldmünchen. 
Die Vorgaben:
20 Minuten schreiben
Ein (grüner) Luftballon
überlegen, aus welcher Perspektive wir den Text angehen

Jana und Carmen haben sich im Anschluss an die Übung überlegt, was passiert, wenn sie die beiden, nicht miteinander abgesprochenen Texte, zusammen in ein Erzähl-Universum packen. Herausgekommen ist die folgende Fortsetzungsgeschichte.  Carmens Text macht den Anfang.
Janas Text folgt Donnerstag, 02.12.2021.


Ich bewache den Schlund.
Das Universum ist unruhig heute, durch den Schlund dringen viele Geräusche. Ich höre die große Glocke. Unbekannte Riesen betreten das Universum, sie diskutieren untereinander.
„Beeil dich, Max, der Testlauf beginnt in zwanzig Minuten!“, höre ich eine relativ helle Stimme.
„Wie kann ich helfen?“ Diese Stimme kenne ich, das ist unser Riese. Ihn kann man viel öfter hören, als alle anderen zusammen.

Ich blende das Gespräch aus. Das ist es nicht, das mir Sorgen bereitet, sondern es ist der Schlund selbst. Obwohl wir ihn so fest verschlossen halten, wie nur möglich, schluckt er in letzter Zeit mehr und mehr Luft, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen können.
Seien wir ehrlich, unsere Welt stirbt.

Die Wachposten an den Spiegelflächen berichten Ähnliches. Die Spiegel sind Orte, an der die Wand zum Universum am dünnsten ist. Einst waren sie so glatt und klar, dass wir von dort das ganze weite Universum beobachten konnten: wie es an uns vorbeischwebte, wie sich die anderen Welten um uns drehten. Was für wundersame, unerklärliche Wunder wir beobachten durften.

Einmal habe ich sogar gesehen, wie eine neue Welt entstand: unser Riese – größer und mächtiger, als alle anderen Riesen – nahm von seinem Atem und schenkte ihn dieser neuen Welt. Sie wuchs und wuchs. Fasziniert hingen wir an unseren Spiegeln und beobachteten dieses unfassbare Ereignis. Als unser Riese fertig war, schloss er den Schlund, damit der geschenkte Atem nicht entweichen konnte.
Es war magisch.

Aber meist sehen wir nur, wie die Welten zu Ende gehen. Manche plötzlich mit einem großen Knall, manche siechen einfach vor sich hin, bis sie vergessen sind. So wie wir.

Nach und nach haben sich die Spiegel zusammengezogen, sind schrumpelig geworden und stumpf. Wir sind erblindet, als hätten wir das Recht verloren, die Wunder des Universums zu sehen. Ich weiß, dass es neben uns noch unendlich viele weitere Welten gibt, doch sehen können wir sie schon lange nicht mehr. Schuld ist der Schlund und sein Hunger nach Luft. Er saugt sie aus unser Welt, als würde sie ihm gehören und wir können rein gar nichts dagegen unternehmen.

Die Alten sagen, dass wir nichts tun können – so ist der Lauf der Welt. Der Riese hat es so gemacht, dass die Spiegel uns zeigen, dass unser Weg vorgezeichnet ist. Es ist wichtig, sagen die Alten, dass wir verstehen, was mit uns passiert. Das lehrt uns Demut.

Demut! Ernsthaft?
Was hab ich davon? Ich habe gesehen, wie eine Welt entsteht: ich will keine Demut, ich will neuen Atem.
So etwas gab es noch nie, sagen die Alten, ich würde mich verrennen.
Ich bin nicht bereit, das zu akzeptieren. Wir brauchen neuen Atem.

Die Riesen diskutieren immer noch. Sie sprechen über Ballons – das ist ihr Wort für Welten. Unser Riese scheint aufgebracht:

„Verarschen können Sie sich selbst! Wie meinen Sie das, unzerstörbare Ballons?“
„Wir arbeiten an einem Polymer, durch das Ballons wie diese für immer die Form behalten. Wir brauchen … sagen wir mal zwei Dutzend Ballons für unsere Experimente. In zwanzig Minuten beginnt unsere Kick-Off Party im Park. Drücken Sie uns die Daumen.“
Unser Riese scheint nachzugeben: „Na, wenn Sie meinen…“

Ich horche auf. „Für immer die Form behalten“? Das klingt doch, wie „für immer existieren“, oder etwa nicht?
Ist die Luft schon so dünn geworden, dass ich anfange zu halluzinieren?
Wir mussten da hin, unbedingt. Unsere einzige Chance.

Ohne nachzudenken oder die Alten um Erlaubnis zu bitten, öffne ich den Schlund wieder. Mit einem Quietschen entweicht die wertvolle Luft und schiebt unsere Welt an den anderen vorbei, direkt in die Hände unseres Riesen, der uns an den Unbekannten weiterreicht.

 


Wollt ihr wissen, wie die Geschichte weitergeht?
Wollt ihr wissen, wie Jana die Vorgaben interpretierte?
Fortsetzung findet ihr hier.

1

Der Duft von wilden Rosen

Erinnert ihr euch noch an unser Adventsspiel? Damals haben wir 
5  Wörter vorgeschlagen, um daraus eine Geschichte zu basteln.
Marienkäfer, Petersilienhochzeit, Luftpolsterfolie, Massenmörder, Platzhalter
Eine mögliche Geschichte geht so:

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

Ihr Lieben, das ist keine Kindergeschichte, sie steht mit Absicht in der Kategorie „Mord und Totschlag“…

 

Er war ein Künstler, ja, das war er. Er hatte Respekt vor seinen Werken. Jedes einzelne hatte er mit Bedacht erschaffen, jedes Detail wohl überlegt. Sie alle erzählten eine Geschichte, ihre Geschichte. Er hatte sie beobachtet, tage-, wochen-, monatelang. Hatte sie begleitet, überall hin, ihren Geruch eingeatmet, während er neben ihnen in der Bahn mit zur Arbeit fuhr. Hatte gesehen, wie ihr Adamsapfel sich bewegte, wenn sie tranken, hatte das kurze Dehnen der Haut bewundert, als er am Tisch neben ihnen saß. Er hetzte mit ihnen durch die Straßen, wandte sich auf dem Fußweg ab, wenn sie sich noch einmal umdrehten, die Tür schon in der einen, den Schlüssel in der anderen Hand. Sie sollten sich sicher fühlen. Sie sollten sich wohlfühlen. Er kümmerte sich um seine Werke. Er studierte ihre Gewohnheiten, ihre Kleidung, ihre Gesten, ihre Mimik – er studierte alles, denn er wollte, dass sie sich präsentieren konnten so, wie sie waren. Nie hätte er gewagt, ihnen eine Geschichte aufzuzwingen. Sie sollten sie selbst sein, präpariert für die Ewigkeit. Er wickelte sie behutsam in die Luftpolsterfolie, damit sie nicht zerstört wurden, wenn er sie ablegte. Er nahm sich Zeit, wenn er sie endlich ausstellte. Sie sollten ihre beste Seite zeigen, wenn sie gefunden wurden.

´Massenmörder in der Stadt!`

Sie hatten keine Ahnung, diese Dummschwätzer. Solch ein Wort, eine Beschimpfung. Er war ein Künstler, ja, das war er. Er schlachtete nicht wahllos ab, er erschuf etwas neues, besseres. Seine Werke waren dafür da, diese Welt besser zu machen, zu einem schöneren Ort.

Und dann traf er sie. Sein Meisterwerk, ja, das würde sie sein. Feuerrotes Haar, Sommersprossen, große blaue Augen. Ihre Hände, so feingliedrig, so sanft, nie könnten sie jemandem Schmerzen zufügen. Sie tanzte, wenn sie die Straße entlang ging, flatterte beinahe, ihre Hüfte immer in Bewegung, ihre Hände in Bewegung, wenn sie ihrer Freundin im Café etwas erzählte.

Sie roch nach wilden Rosen nach einem Sommerregen und sie lächelte ihn an, als sie sich in der Bahn zu ihm wandte. Sie lächelte. Ihn. An! Ihre Lippen würden weich auf seinen sein, sie würde nach Erdbeeren schmecken. Oh, wenn er diesen Geschmack doch nur bewahren konnte, aber er verflüchtigte sich. So schnell. Auch bei ihr. Sie hatte drei Leberflecke, klein, unscheinbar, genau über ihrem rechten Mundwinkel. Sie fielen kaum auf, doch er hatte sie gesehen. Er sah alles.

„Mein Marienkäfer“, flüsterte er. Und er probierte den Namen aus, wenn er nachts wach lag.

Nach ihr war nichts mehr wie bisher. Er hatte sein Meisterwerk vollbracht, die nachkamen waren nur noch Kopien, billige Platzhalter für die eine. Er begriff es erst jetzt. Dass er sein Leben lang auf sie gewartet, auf sie hingearbeitet hatte. Und nun war sie fort, ausgestellt, von anderen begafft und analysiert. Er hatte sie verloren. Er hatte sie verraten. Nichts würde mehr so sein wie bisher.

Er wurde nachlässig. Er beobachtete nicht mehr so genau. Er blieb stehen, wenn sie sich an der Tür umwandten. Und dann passierte es.

„Monster endlich gefasst! Tötete seine eigene Frau nach über 12 Jahren Ehe! So machte die Petersilienhochzeit aus einem Ehemann einen Massenmörder!“

Sie waren noch immer Dummköpfe. Gruben in seiner Vergangenheit. Holten etwas hervor, eine Feier, einen Unfall, einen Tod. Sie hatten keine Ahnung. Sie war es nicht gewesen. Sie war nicht die gewesen, die sein Leben bestimmt hatte.

„Mein Marienkäfer!“ Ganz sicher flatterte sie noch immer, tanzte über die Straßen, ihr Duft nach wilden Rosen wie eine Spur für ihn ausgelegt.

„Ich komme zu dir“, flüsterte er, während er aus zerrissenen Bettlaken eine Schlinge bastelte.


Die gleichen 5 Wörter, aber eine ganz andere Geschichte?
Dann lest Carmens „Familienabend“.

Sieben Minuten

von Carmen, Lesezeit zwischen 5 und 10 Minuten

Das Verkehrsrauschen gehörte zum Zuhause dazu, wie Strom und fließend Wasser. Wie der Geruch nach einer Mischung aus Holzfußboden und dem Mittagessen. Wie die Wäschespinne, die ihren festen Platz in der Mitte des Schlafzimmers gefunden hatte und als Ablage für getragene Kleidung und Ordner jeder Art diente.
Das Verkehrsrauschen war so vertraut geworden, dass sie es gar nicht mehr wahrnahm. Nicht einmal die Feuerwehr, die nachts vorbeiraste und just vor ihrem Fenster an der Kreuzung Blaulicht und Sirene einschaltete, konnte sie aus ihren Träumen reißen.

Im Sommer hatte sie ihre Eltern besucht in der Kleinstadt, schon fast auf dem Dorf, und wurde jede einzelne Nacht um vier Uhr von ohrenzerschmetterndem Vogelgezwitscher geweckt. Es waren Angriffe auf den Gehörgang, die sich anfühlten wie ein tropfender Wasserhahn. Sie wusste, was kommt, doch sie konnte weder den genauen Zeitpunkt, noch den Rhythmus, noch die Dauer voraussagen. So hatte sie wach gelegen und es über sich ergehen lassen. Und erst dieser motivierte Gockel, der pünktlich um in aller Herrgottsfrüh herum anfing, sich die Seele aus dem Leib zu krähen und damit nicht vor neun aufhörte, obwohl weit und breit keine Konkurrenz oder auch nur ein einziges Weibchen zu sehen gewesen wäre. Seine Ausdauer war gleichermaßen zu bewundern wie zu bemitleiden, war er doch trotz strotzender Männlichkeit zu lebenslangem Verzicht verurteilt. Nach zwei Tagen Schlafentzug hatte sie dem Hahn von Herzen einen Deckel auf den Topf gewünscht. Nicht metaphorisch.
Seit dem Besuch bei ihren Eltern überrollten sie Hassgefühle unbekannten Ausmaßes, wenn sie nur an Federvieh dachte.

Zuhause überdeckte das bekannte Verkehrsrauschen all diese Störgeräusche ornithologischer und anderer Art. Es war stets ein vertrautes, beruhigendes Summen im Ohr, unterbrochen von gelegentlichem, kommunikativem Hupen und abgerundet von vereinzelt quietschenden Reifen. Gerade jetzt, wo bei dem fast sommerlichen Frühlingswetter die Fenster Tag und Nacht geöffnet blieben, waren die Verkehrsgeräusche zur immerwährenden Hintergrundmusik geworden.

So stach der laute Knall hervor, als sie den selbst gebackenen Hefezopf aus dem Ofen nahm, der einen warmen, vanilligen Duft verströmte.
Ein Knall, direkt gefolgt von lautem Schreien und einer schrecklichen Stille. Das stete Rauschen war weg. Den nun folgenden Mangel an Geräuschen empfand sie als zutiefst beunruhigend.
Sie lief zum Fenster und sah es sofort. Auf der Straße, weit unter ihr, lag ein Fahrradfahrer, zu erkennen am weißen Helm auf dem Kopf. Er lag auf dem Bauch und versuchte, sich hochzustemmen. Er schaffte es nicht. Eine Traube an Passanten hatte sich um ihn versammelt, aber es sah nicht so aus, als ob jemand Erste Hilfe leisten würde. Der Fahrradfahrer bewegte sich weiter, er setzte sich mit Mühe auf, redete mit den umherstehenden Menschen, ließ sich wieder zurückfallen und bewegte sich nicht mehr. Wo das Fahrrad war, konnte sie nicht erkennen. Ein paar Meter weiter sah sie die Ursache des unterbrochenen Rauschens: ein schwarzer Familienwagen mit geöffneter Fahrertür blockierte die komplette Fahrbahn. Es war kein Durchkommen mehr für Lastwagen, Auto, Bus oder Motorrad. Während sie einige Sekunden brauchte, die Situation einzuschätzen, überlegte sie, ob sie den Notruf wählen sollte. Da waren wirklich viele Menschen unten und sicherlich würde jemand … Aber andererseits, gelernt ist gelernt, und so griff sie zum Telefon und wählte die 112.

„Guten Tag, Sie haben den Notruf gewählt….“
„Ja. Guten Tag. Mein Name ist…“
„…Wir sind gleich für sie da.“
Sie starrte das Telefon an.
„Äh. Was?“
„Bonjour. Vous avez appelé le numéro d’urgence. Attendez svp. – Guten Tag. Sie haben den Notruf gewählt. Wir sind gleich für Sie da.“ Wiederholt in englisch, französisch, deutsch, italienisch, französisch, deutsch, englisch, irgendwas exotisches und wieder deutsch.
Sie starrte das Telefon weiter an. Eine Warteschleife? Für den Notruf? Wo jede Sekunde zählt?
„Guten Tag, Sie haben den Notruf gewählt. Wir sind gleich für Sie da.“

Draußen vor dem Fenster fing jemand an, die Trümmerstücke von der Straße aufzuheben und sie auf den Bürgersteig zu werfen. Jemand anderes fuhr den schwarzen Kombi zur Seite und machte eine halbe Fahrbahn frei. Der Stau, der sich gebildet hatte, löste sich langsam auf.
„Guten Tag. Sie haben den Notruf gewählt. Wir sind…“
Der Fahrradfahrer hatte sich nicht mehr vom Fleck bewegt. Mittlerweile hatte er sich schon seit einer Weile nicht mehr gerührt. Das Schreien hatte gestoppt. Sie wusste nicht, seit wann sie das Schreien nicht mehr gehört hatte. Dafür war das bekannte Rauschen nun wieder da. Aber das beruhigte sie nicht.
„Bonjour. Vous avez appelé le numéro d’urgence. Attendez svp.“
Es war nicht das erste Mal, dass sie den Notruf hatte wählen müssen. Wenn man an einer vielbefahrenen Kreuzung wohnte, hatte man den einen oder anderen Unfall miterlebt. Seit wann gab es eine WARTE-Schleife beim Notruf?

Sie blickte einmal über die Kreuzung. Sie konzentrierte sich auf das Rauschen. Waren da Sirenen? Sie konnte keinen Rettungswagen oder Blaulicht sehen. Da waren keine Sirenen.
„Guten Tag. Sie haben…“
„Hallo???? HALLO? Hört mich jemand?“ Da musste einfach jemand sein, der helfen konnte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie nur laut schreien musste, damit jemand aus seiner Mittagspause käme, und den Anruf annähme. Das ergab keinerlei Sinn. Es war 17 Uhr am frühen Abend und schon alleine deswegen eine Mittagspause höchst unwahrscheinlich. Ihr Vertrauen, dass immer, zu jeder Zeit, unter dieser Nummer Hilfe erreichbar wäre, war unerschütterlich. Das musste ein technischer Fehler sein. Es gab keine Warteschleifen für den Notruf! Seit wann gab es Warteschleifen für den Notruf? Vermutlich lief ein Band mit und es wurde alles aufgenommen. So musste es sein. Wenn sie nur laut genug schrie, würde es jemand mitbekommen, auch wenn sie nicht direkt mit dieser Person reden konnte.
„Hallooo?“

Der Fahrradfahrer lag unbeweglich auf der Straße, vor dem dicht vorbeifahrenden Verkehr geschützt durch die Passanten um ihn herum. Die Person am Boden musste verletzt sein, sonst würde sie doch zumindest von der Straße runter und sich auf den Bürgersteig setzen, oder?
Sie sah niemanden telefonieren. War der Notruf informiert? Konnte jemand dort unten die 112 erreichen? Hat jemand bereits die 112 erreicht? Oder waren alle in der Warteschleife, so wie sie und blockierten sich gegenseitig? Niemand war in der Warteschleife, denn niemand war am Handy. Aber andererseits waren ihre Augen nicht die besten, vielleicht erkannte sie es nur nicht. Vermutlich standen um die Kreuzung herum noch viele andere Menschen am Fenster. Die könnten doch alle bereits den Notruf informiert haben. Es sei denn, die fühlten sich nicht betroffen. Das war doch ein gängiges Problem, sagte man das nicht immer? Dass Menschen, die ein Unglück sahen, nicht helfen würden, weil sie dächten, jemand anderes würde helfen.
Sie lief zu ihrem Handy und überlegte, ob es Sinn ergab, parallel die Polizei zu rufen.
Aus ihrem Festnetztelefon erklang erneut: „Guten Tag. Sie haben…“
Ihr Herz hämmerte. Wenn sie nun die Polizei anrief und dann ging jemand beim Notruf ans Telefon, entstand nur Verwirrung, weil sie dann zwei Personen am Telefon hatte und sie erst wertvolle Sekunden brauchen würde, das zu klären und das ganze verzögerte sich weiter und sie wäre Schuld an einer Verwirrung, die am Ende vielleicht dem Menschen dort unten das Leben kosten könnte. Wenn sie nun nicht die Polizei rief, dort aber vielleicht jemanden erreicht hätte, beim Notruf aber weiterhin in der Warteschleife festhing, könnte diese Entscheidung ebenfalls das Leben des Verletzten kosten.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Die Situation unten hatte sich nicht verändert, der war doch nicht schon tot, oder? Mittlerweile war sie sich sicher, dass er es gewesen war, der am Anfang geschrien hatte und es nun nicht mehr tat.

„Guten Tag. Sie haben den Notruf gewählt….“
„Hallo? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Gehen Sie ran! Hallo!!!“, sie schrie ihr Telefon an und bemerkte nicht, wie ihr die Tränen über die Wangen flossen. Auch wenn ihr Kopf ihr sagte, dass es Unsinn war, glaubte sie fest daran, dass sie jemand hören musste. Dass es jemanden geben musste, der diesem unglücklichen Fremden da draußen helfen konnte. Dass da niemand vor ihren Augen sterben musste, weil hier, in ihrer Stadt, der Notruf nicht besetzt war.

Nach einer Ewigkeit hörte sie auf einmal ein Klacken in der Leitung.
„Guten Tag. Sie sprechen mit dem Notruf. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Als das Telefonat vorbei war, war sie selbst verwundert, dass sie die Informationen so ruhig und sachlich hatte durchgeben können. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass sie den Notruf gewählt hatte, vielleicht hatte ihr die Erfahrung geholfen. Als sie aufgelegt hatte, hatte sie gezittert. Ihre Hände waren eiskalt gewesen und sie hatte es nicht geschafft, das Telefon wieder in seine Halterung zu stellen. Nach mehreren Versuchen hatte sie es einfach daneben liegen lassen.
Am Ende des Gesprächs hatte sie auf die Uhr gesehen. Seitdem sie den Hefezopf aus dem Ofen genommen hatte, waren sieben Minuten vergangen. Zweieinhalb Minuten später war der erste Wagen der Polizei vor Ort, wenige Sekunden später folgte ein Krankenwagen der Feuerwehr.
Sie blieb noch eine Weile am Fenster stehen, vielleicht, um sich zu versichern, dass man dem Fahrradfahrer nun helfen würde. Dass alles gut werden würde. Vielleicht würde es das wirklich. Vielleicht war es zu spät.
In ihrer Stadt, einer Millionenstadt, am helllichten Tag, hatte sie sieben Minuten lang niemanden erreicht.

Aufregung

von Carmen, Lesezeit ungf. 5min.

Ich bin zufrieden, junger Freund, schön dass du fragst. Alles ist wie immer. Das ist gut. So soll es sein. Eigentlich ist ja meist alles, wie immer. Ruhig und sicher.
Ich mag keine Aufregung und du, junger Heißsporn, solltest dich auch davon fernhalten. Aufregung bedeutet Gefahr und Gefahr bedeutet unseren fast sicheren Tod. Das ist nun einmal so. Unseren FAST sicheren Tod.
Komm, hilf mir, einen neuen Flur zu essen, dann berichte ich dir von vergangenen Aufregungen. Du wirst es nicht bereuen:
leichtes Petersilien-Pilz-Aroma, bitter, mit fruchtigem Holunder-Abgang, du wirst es lieben.
Ich erinnere mich, die letzte Aufregung hat mich ein Viertel meiner Ringe gekostet. Wie ich sie vermisse – sie betonten meine schlanke, schmale Figur. Aber die Ruhe danach, glaub mir, war den Preis wert.

Halt jetzt, hier habe ich mein Schlafzimmer geplant. Hier müssen wir sorgsam vorgehen, ich will ja, dass es nachher schön gemütlich wird. Der Boden hier ist hart und lehmig, ein besonderer Leckerbissen. Ach, was solls, tob dich ruhig aus, iss dich satt, dann wird das Schlafzimmer wohl doch größer als geplant. Ich kann den kleinen Naschereien links und rechts auch nie widerstehen.
Warte kurz, mein Freund, lass mir den Vortritt. Die Schlafzimmertür will ich mir selbst beißen. Ein vorzügliches Stückchen Land habe ich mir hier ausgesucht, denke ich mit Stolz geschwelltem mittlerem Ring.

Stopp! Warte! Meine Intuition sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Unruhe ist nicht gut. Spürst du das auch?
Nein? Ah, ich werde alt und sehe schon Beben, wo keine sind. Iss du mal weiter, ich ruhe mich auf den Schreck kurz aus.
Doch! Da! Da war es wieder! Diesmal hast du es doch auch gespürt, oder? Ganz eindeutig! Die Erde bebt! Hier. Ausgerechnet.
WASSER! Wasser, mein Freund, Wasser ist nicht gut! Hör mir jetzt zu, denn Wasser ist ein hinterlistiges Monster, das musst du wissen. Erst kündigt es sich durch Beben an, alles wackelt und vibriert und wenn wir Pech haben, stürzen unsere Gänge ein.
Manchmal geht dann alles sehr schnell, das Wasser durchnässt die Wände, es fließt durch die Gänge, es schnürt dir die Luft ab. Dann musst du ganz flink sein, wenn du nicht qualvoll ersticken oder ertrinken möchtest. So habe ich meine Mutter verloren, damals. Als das Beben anfing, suchte sie nach mir, um mich zu warnen. Ich kannte die Zeichen noch nicht, ich war zu jung, so jung, wie du jetzt. Ich kroch vor, so schnell ich konnte, ich bin niemals zuvor oder danach so schnell gekrochen, wie damals. Als ich nach einer Ewigkeit wieder trockenen Boden fühlte und ich mich erleichtert nach meiner Mutter umdrehte, war ich allein.

Manchmal gibt dir das Wasser Zeit. Dann kann man aus dem geliebten Heim hinauskriechen, um an den einzigen Ort zu gelangen, an dem man sicher ist – vor dem Wasser. Die Oberfläche. Doch dort warten andere Monster. Monster, denen das Wasser nichts ausmacht. Sie ertränken dich nicht und sie ersticken dich nicht, nein. Sie haben sich andere Methoden ausgedacht: sie zerfleischen dich, sie ziehen an deinen Enden, bis du in der Mitte auseinanderreißt, sie zerquetschen dich, bis du nur noch als Matsch auf der Erde klebst oder sie verspeisen dich. Ja, wirklich, diese Monster fressen uns. Die Oberfläche ist die Hölle. Gehe niemals dahin, wenn du es nicht musst, aber wenn du es musst, sei vorbereitet. Bleibe vorsichtig, lehne dich nicht erleichtert zurück, wenn du die nassen Gänge hinter dir gelassen hast. Denn das wird dein Tod sein.

Ich spüre weiterhin dieses Zittern, spürst du es auch? Jetzt wo du weißt, was uns blüht, sag mir, was sollen wir tun? Ich kann mich nicht entscheiden. Ich bin mir nicht sicher. Kommt das Wasser? Regnet es wirklich?
Wenn es regnet, dürfen wir keine Zeit verlieren! Jede Sekunde zählt.
Komm, hilf mir, wir beißen uns einen Gang zur Oberfläche, es hilft nichts.
Wie quälend langsam wir doch sind, dabei wird das Beben hier immer stärker. Aber spürst du das? Die Erde wird nicht feucht. Was ist da los?
Zweifel dürfen und können wir uns nicht leisten, wir müssen weiter graben. Wir haben keine Wahl.
Geh du vor, ich werde dir folgen.

Über Zitronenfalter (letzter Teil)

von Jana, Lesezeit ca. 12 Minuten

Lies nach! Teil 4 der Geschichte findest du hier!

Müller, Ernst Müller stand ihr gegenüber auf der anderen Seite des Tisches und er wirkte fast ein wenig amüsiert.

„Sie arbeiten ja wirklich sehr hart“, bemerkte er.

„Ich glaube Gregor Berger hat etwas mit der Sache zu tun. Und Karen. Und dieses Fax“, sprudelte es plötzlich aus ihr heraus. „Vielleicht verliere ich aber auch den Verstand.“

Müller, Ernst Müller zog eine Augenbraue weit nach oben, das höchste Maß an Ausdruck, was sie jemals bei ihm gesehen hatte. Träumte sie noch?

„Sie verlieren nicht den Verstand, Frau Jo“, erklärte er. „Im Gegenteil, Sie haben völlig Recht!“

Nun war sich Jo sicher, dass sie noch träumte. Das Fax fing plötzlich wieder an zu Fiepen. Sie sprang auf, stieß dabei gegen die Schreibtischkante, es tat weh, sehr weh.

„Ich träume nicht“, erkannte sie.

„Nein, Frau Jo, Sie träumen nicht.“ Das Rattern des Faxes hatte eingesetzt, doch die Papierzufuhr war leer und mit einem weiteren, fast traurig klingenden Fiepen stellte das Gerät seine Arbeit wieder ein. „Haben Sie die Zahlenfolge entschlüsselt?“

„Was? Nein, nein, habe ich nicht.“

Müller, Ernst Müller musterte sie für einen Moment. „Ich hatte Sie für klüger gehalten.“

„Helfen Sie mir dabei?“, bat Jo, „Ich will den Abteilungsleiter nicht enttäuschen. Eigentlich mag ich diesen Job, wissen Sie?“ Das war gelogen. Sie wollte sich einfach nur nicht blamieren.

Müller, Ernst Müller seufzte, dann schüttelte er den Kopf. „Frau Jo, Sie erscheinen mir wirklich ein wenig schwer von Begriff. Sie haben ja überhaupt nichts verstanden!“

„Aber…“

„Zitronenfalter! Zitronenfalter!“

„Schmetterlinge?“

Müller, Ernst Müller schnaubte. „Nein, keine Schmetterlinge. Es geht um das Sprichwort. ´Wer glaubt, dass Abteilungsleiter Abteilungen leiten, glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.` Was Sie da in der Hand haben, ist nichts, gar nichts!“

„Doch, es ist etwas“, widersprach Jo. „Gregor sagte, es hätte ihm die Augen geöffnet. Er hat irgendetwas genehmigt, obwohl er es nicht wollte. Er hatte sich verändert, diese Zahlen müssen etwas bedeuten. Sie…“ Jo stockte. Müller, Ernst Müller, hatte begonnen zu lächeln. Es erinnerte sie an die Clowns in Gruselfilmen. Sie sollte hier weg, sofort, aber was genau machte sie so nervös? Er war nur ein Beamter und sie war in einem Bürogebäude. Nichts Schlimmes passierte in Bürogebäuden.

„Dann hat er es also doch geschafft, sie zu infizieren.“

„Zu… was?“

„Zu infizieren. Mit der Formel!“

„Die Zahlen? Aber Sie sagten gerade, sie bedeuten nichts.“

„Und doch beginnt es bei Ihnen. Aber das ist nur verständlich, Sie waren nie ganz überzeugt. Die Schönheit und Reinheit der Bürokratie – Sie waren nie von ihr eingenommen. Sie waren leichte Beute für die Formel.“

„Formel für was?“

„Die Formel für freies Denken! Für die Abschaffung der Bürokratie!“ Es klang, als spuckte er ihr die Worte vor die Füße. Jos Blick fiel auf die Zahlenfolge auf dem Tisch. Die Abschaffung der Bürokratie?!

„Der Abteilungsleiter hat sie entdeckt“, fuhr Müller, Ernst Müller fort. „Er glaubt, sie würde die Welt besser machen. Er hat keinen Respekt für Regeln und Hierarchien, Dokumentation und Zuständigkeiten. All diese Dinge, die das Chaos eindämmen, die dafür sorgen, dass jeder, der im Formular 452 die Fragen A bis F mit ´Nein.` beantwortet, den gleichen Bescheid bekommt. Weil es so zu sein hat!

Die Bürokratie ist das einzig Verlässliche in dieser Welt. Sie darf auf keinen Fall abgeschafft werden!“

Jo spürte, wie ihr kalt wurde. Müller, Ernst Müller begann ihr ernsthaft Angst zu machen. „Und Gregor?“, fragte sie leise.

„Gregor hat die Formel verstanden und obwohl er so ein treuer Schüler von mir war, hat er sie geglaubt. Es war die Liebe, er hatte sich in Karen verliebt, das hatte ich nicht bedacht. Ich musste ihn beseitigen.“

„Aber.. Sie sagten, der Abteilungsleiter hätte die Formel entdeckt. Müssten Sie dann nicht ihn…?“ Sie wollte das Wort ´beseitigen` nicht aussprechen.

„Der Zitronenfalter, Frau Jo, Sie bemessen ihm zu wenig Bedeutung bei. Ja, es stimmt, er hatte Gregor infiziert und Sie hätte er früher oder später auch überzeugt, aber was glauben Sie, wie viele Mitarbeiter diese Mappe schon auf dem Tisch hatten und nichts, absolut nichts ist passiert? Er hockt da oben in seinem Büro und glaubt, gerade die Welt zu verändern. Dabei passiert nichts. Warum sollte ich den Mann beseitigen? Woher weiß ich, dass sein Nachfolger sich nicht klüger anstellt?“

„Aber Gregor hatte doch viel weniger Macht!“

„Gregor hatte sich in Karen verliebt und sie war fast soweit, ihn zurückzulieben. Er hatte sich verändert. Noch hatte es kaum jemand bemerkt, doch wenn, hätten seine Kollegen angefangen Fragen zu stellen. Verliebte, strahlende Menschen haben die Fähigkeit andere zu überzeugen. Das Risiko war zu groß!“

„Also haben Sie ihn und Karen beseitigt?!“

„Nur ihn. Karen hatte bereits Pläne zu gehen. Es war nicht mehr nötig. Sie trampt tatsächlich um die Welt.“

Jo wurde bewusst, worauf dieses Gespräch hinauslief. Sie hatte die Formel zwar nicht selbst entschlüsselt, aber sie kannte sie nun. Sie war eine Bedrohung für seine ach so geliebte Bürokratie. „Ich könnte auch um die Welt trampen…?“

„Das könnten Sie, aber ich lasse es nicht zu. Sie sind hartnäckig und Sie glauben daran, etwas verändern zu können. Karen hatte dieses Büro vergessen, sobald sie auf die Straße trat, aber Sie, Sie werden wiederkommen, das spüre ich. Nein, tut mir leid, Sie werden diesen Raum nie verlassen.“

Das Fax fing plötzlich wieder an zu fiepen, lauter und schneller als jemals zuvor. Dann ratterte es und schließlich stiegen Rauchschwaden auf.

Jo spürte, wie ihr schwindlig wurde. Der Raum um sie herum verschwamm. Sie verlor den Halt, fühlte sich plötzlich leer und beinahe entrückt, als würde sie… ´Das Fax… er hatte Gregor tatsächlich in das Fax gesperrt! Er wird es auch mit mir tun!` Panisch sah sie sich um, nach einer Waffe, irgendetwas, das ihr helfen konnte, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie Müller, Ernst Müller stoppen konnte. Der fing an zu lachen, ein höhnisches hässliches Lachen, eines, das in Horrorfilmen an genau der Stelle kam, an der etwas ganz Furchtbares passieren würde. Jos Blick fiel auf die Zahlenfolge, sie hatte nichts mehr zu verlieren. Sie drehte sich zum Fax, tippte die Nummer ein und drückte senden. Sie hörte noch, wie Müller, Ernst Müller aufschrie und dann wurde die Welt um sie herum dunkel.

Drei Jahre später

„Und Sie sind sicher, dass Sie das wollen?“, der Techniker blickte sich um. Der Mann, der ihn eingelassen hatte, zuckte mit den Schultern.

„Ich nicht, aber wenn die da oben das wollen, wird das schon passen.“

„Ist in diesem Büro überhaupt jemand? Wer kontrolliert denn, ob hier was durchkommt?“

Wieder zuckte der Mann mit den Schultern. Der Techniker sagte nichts. Er bemühte sich, erst die Augen zu verdrehen, als er sich wieder dem Fax zugewendet hatte. Jemand hatte das Stromkabel entfernt.

„Muss ich nachschauen, ob ich so eins dabei hab.“ Er griff nach seiner Tasche. „Das ist Diebstahl, so ein Kabel mitzunehmen, Diebstahl.“

Der andere Mann seufzte. „Ja, die Frau, die hier zuletzt gearbeitet hat, die soll ein bisschen… naja… nicht ganz so gut beieinander gewesen sein. Hat eines Tages rumgeschrien, dass ihr Chef sie in das Fax einsperren wollte, genau wie den Kollegen vor ihr. Hat um Hilfe gebrüllt, dass man den Kollegen aus dem Fax holen soll. Aus ´nem Fax! Dann hat sie noch erzählt, sie hätte ihren Chef jetzt auch dort eingesperrt und man dürfe das Fax nie wieder anschließen, weil dann schreckliche Dinge passieren würden.

Armes Mädchen, war wohl noch recht jung und so, aber sitzt jetzt ein, Sie wissen schon, plemplem eben.“

Der Techniker schüttelte den Kopf. Büroleute. Die hatten alle einen Knall, wenn man ihn fragte. Den ganzen Tag nur vor dem Bildschirm hocken, da musste man ja verdummen.

„Na ja, so ganz genau weiß ich das alles natürlich nicht. Ich war ja nicht dabei. Und ich gebe auch nicht viel auf Gerüchte.“

Der Techniker sah von seiner Tasche auf, er hatte das Kabel gefunden. Sein Gegenüber war etwas dicklich, der Anzug saß schief und da waren Schweißperlen auf seiner Stirn. Er wollte nichts Schlechtes über Menschen denken – abgesehen von der allgemeinen, aber völlig gerechtfertigten Annahme über den mangelnden Geisteszustand von Büroangestellten – aber er vermutete, dass der Mann so wenig von Gerüchten hielt, weil ihn nie jemand darin einweihte.

Er steckte das Kabel in das Faxgerät und den Stecker in die Dose. Dann legte er Papier von einem verstaubten Stapel ein. Bevor er auch nur den Einschaltknopf betätigen konnte, fing das Fax an zu fiepen. Dann setzte ein Rattern ein und wie in Zeitlupe schob sich ein Blatt Papier aus dem Gerät.

-ENDE-

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Über Zitronenfalter (4)

von Jana, Lesezeit < 5 Minuten

Lies nach! Teil 3 der Geschichte findet Ihr hier!

Sie starrte gebannt auf die Seite, für einen Moment unfähig, sich zu rühren. War das Zufall? Nein, es war unmöglich ein Zufall, aber wie…?

Als hätte es ein Signal erhalten, gab das Faxgerät einen lauten Fiepton von sich, dann setzte das vertraute Rattern ein und langsam schob sich ein Blatt Papier aus dem Gerät. Jo wusste nicht, ob sie es lesen wollte. Würde wieder die gleiche Zahlenfolge darauf stehen? Was, wenn nicht? Wenn sie gerade einem Geheimnis auf die Spur gekommen war, und das Fax nun sein Wissen preisgab, zu dem sie bisher noch nicht berufen gewesen war? Jo wusste nicht warum, doch plötzlich hatte sie Angst davor, ihr Rätsel zu lösen. Immerhin war ihr Vorgänger von einem auf den anderen Tag verschwunden. Seine Kollegen behaupteten zwar, das wäre freiwillig passiert, aber was, wenn nicht? Was, wenn Gregor Berger von den staubgrauen Gängen verschluckt worden war und nun über ein Faxgerät zu ihr sprach?

„Jo… du darfst nicht mehr so viel Kaffee trinken!“, entschied sie laut und schüttelte den Kopf über sich selbst. Die Lösung für diesen seltsamen Zufall lag doch auf der Hand. Der Abteilungsleiter hatte den Auftrag irgendwann einmal per Fax verschickt, dann war das Gerät kaputtgegangen und wiederholte nun den letzten Auftrag wie einen Schluckauf, wieder und wieder, bis das Problem behoben war.

„Genau. Ein Schluckauf, eine gute Erklärung“, sprach sie sich selbst Mut zu. Ihre ganze Rätselraterei war nur ein Hirngespinst, geboren aus ihrer Langeweile. Sie hätte besser die Akten in ihrem Büro studieren sollen, anstatt den Kalender ihres Vorgängers.

Entschlossen stand sie auf, riss die Ausdrucke von der Wand und warf sie zusammen mit dem Taschenkalender in den Papierkorb.

„Keine Rätsel mehr, keine Geheimnisse“, sagte sie leise. Der Auftrag des Abteilungsleiters war nur das, ein Auftrag einer Führungskraft an ihre Mitarbeiterin. Die Zahlenfolge würde einen völlig logischen, harmlosen Sinn ergeben, wenn sie sich nur etwas Mühe gab, sie zu verstehen. Sie atmete tief durch und griff wieder nach der blauen Akte. Sie enthielt nur drei Blätter, alle drei waren mit den Zahlenfolgen gefüllt.

„Was bedeutet ihr?“, murmelte sie. Ein Code? Koordinaten vielleicht? Vielleicht musste man die Einsen streichen, oder lieber die Fünfer?

Plötzlich stand sie in einem fremden Büro. Hinter dem Schreibtisch saß eine Frau, die Jo bekannt vorkam. Sie blickte gerade auf und verdrehte die Augen. Doch es lag nicht an Jo, sondern an dem Mann, der soeben das Büro betrat. Gregor Berger.

„Was willst du?“, fragte die Frau.

„Karen, ich…“ Karen? Die Karen? Die Seit-vier-Jahren-um-die-Welt-Tramperin-Karen?

„Es tut mir wirklich sehr leid“, sagte Gregor und Karen war scheinbar genauso überrascht darüber wie Jo.

„Und was genau?“

Statt einer Antwort reichte ihr Gregor einen dünnen Stapel Blätter. „Als Wiedergutmachung.“

Karen schien nicht begeistert. Vermutlich hätte Gregor es mit Blumen versuchen sollen. Dann aber lächelte sie breit.

„Du hast es genehmigt? Aber du hast gesagt, wir seien nicht zuständig!“

Gregor wirkte verlegen. „Ja, aber jemand meinte, wenn man ein bisschen weiterdenkt…“

„Und du bist dir damit sicher?“

Gregor schaute auf seine Schuhe und dann auf einen Punkt hinter Karen. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Mich… mich hat beeindruckt, was du in den Besprechungen immer wieder gesagt hast“, erklärte er schließlich. „Dass wir unser Leben nicht leben, wenn… na ja… wir die Dinge nicht öfter hinterfragen. Dass wir einen Teil der Welt, die vor unserer Nase liegt, einfach ausschließen.“

„Du hast es irrelevant und verträumt genannt! Und ein paar andere Sachen.“

Gregor nickte. „Ja, aber ich habe einen Auftrag von unserem Abteilungsleiter bekommen. Der hat mir die Augen geöffnet.“

Nun war Karen ganz offensichtlich verwirrt, Jo jedoch hätte Gregor am liebsten geschüttelt. Ein Auftrag des Abteilungsleiters? Das konnte doch kein Zufall sein. Aber halt: Das hier war ein Traum, oder? Ein Hirngespinst und nichts, was tatsächlich passiert war. Oder doch?

„Ich muss es dir zeigen. Nicht jetzt, aber morgen. Lass uns morgen zusammen Mittag essen gehen, in Ordnung?“

Das Bild verschwamm und egal wie sehr Jo es festzuhalten versuchte, sie saß wieder in ihrem Büro am Schreibtisch, den Kopf auf die Papiere vor ihr gelegt: Der Auftrag des Abteilungsleiters, kein Wunder, dass sie diesen Mist geträumt hatte. Sie richtete sich langsam auf und stellte überrascht fest, dass sie nicht allein war.

Das Finale findet ihr hier! Lies los!

Über Zitronenfalter (3)

von Jana, Lesezeit < 5 Minuten

Was bisher geschah…
Jo beginnt ihren neuen Job unter Müller, Ernst Müller, doch ihr Arbeitsalltag besteht im wesentlichen daraus, sich nicht in endlosen Gängen und Aktenstaub zu verlieren. Wäre da nicht ein seltsames Gerät, ein Fernkopierer, der ihr kryptische Botschaften schickt. Diese scheinen mit ihrem Vorgänger zu tun zu haben, der plötzlich und auf mysteriöse Weise verschwunden ist. Kann Jo das Rätsel lösen? Ob ihr der Abteilungsleiter helfen kann? Und was hat Müller, Ernst Müller mit der Sache zu tun?

Lies nach!:  Teil 1 und Teil 2

„Oh, da ist ja unsere neue Kraft, jung und dynamisch wie ich sehe!“ Der Abteilungsleiter griff nach ihrer Hand und schüttelte sie so heftig, dass es wehtat. „Und hübsch, aber das darf ich heutzutage ja gar nicht mehr sagen, das haben Sie nicht gehört. Und Sie scheinen sich ja schon völlig in die Arbeit gestürzt zu haben, dass Sie nicht mal Zeit hatten, sich bei mir vorzustellen!“

Jo spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss und sie hätte sich gerne erklärt. Doch auch wenn der Mann jetzt ihre Hand losgelassen hatte, ließ er sie nicht zu Wort kommen. Er bot ihr auch keinen Platz an. Vielleicht würde der Termin nicht lange dauern.

„Aber ich finde das gut, wissen Sie?“, fuhr er fort und Jo nickte pflichtbewusst, auch wenn der Mann gar nicht hinsah, sondern in den Akten auf seinem Schreibtisch wühlte. „Diese ganzen Regularien, dieses Silo-Denken, der Tunnelblick – ich finde es gut, dass wir junge Leute haben, die das nicht mitmachen, sondern die Dinge neu angehen. Frischer Wind, wissen Sie? Das ist es, was wir brauchen, gerade in der Verwaltung. Finden Sie nicht auch?“

Jo nickte noch immer, während sie darüber nachsann, was er mit Silo-Denken meinen könnte.

„Ich muss sagen, ich bin von Ihrer Arbeit sehr angetan. Ich merke schon, dass Sie unserer Abteilung einen großen Mehrwert zukommen lassen und noch lassen werden. Das sehen Sie doch auch so, Herr Müller, nicht wahr?“

Jo schaute erwartungsvoll auf Müller, Ernst Müller denn tatsächlich hatte ihre bisherige Arbeit darin bestanden, mehr oder weniger erfolgreich aus den alten Akten in ihrem Büro schlau zu werden. Sie selbst hätte das keinesfalls als Mehrwert für irgendwen bezeichnet, doch Müller, Ernst Müller nickte nur.

„Ganz ohne Frage“, murmelte er und Jo hätte schwören können, dass es sarkastisch klang.

„Nun, jedenfalls, möchte ich Sie mit einer Sonderaufgabe betrauen.“ Der Abteilungsleiter zog endlich aus den Stapeln auf seinem Schreibtisch einen schmalen blauen Aktendeckel hervor und reichte ihn Jo.

„Oh… danke. Worum geht es?“

„Nun, ich denke, Sie werden aus dem Vorgang schon schlau werden. Ich freue mich wirklich, dass Sie hier sind und so ausgezeichnete Arbeit leisten.“

„Danke… ich… werde mich bemühen. Bis wann brauchen Sie denn Ergebnisse?“

Ihr Gegenüber runzelte kurz die Stirn und Müller, Ernst Müller räusperte sich und wandte sich zur Tür. Es schien das Signal zum Gehen. Der Abteilungsleiter streckte die Hand aus und schüttelte Jos wieder heftig.

„Sie werden das schon machen. Berichten Sie mir einfach zeitnah, ich glaube, Sie können sich damit wirklich profilieren!“

Dann war die Tür auch schon zu. Jo wandte sich hilfesuchend zu Müller, Ernst Müller, der wieder nur mit den Schultern zuckte.

„Denken Sie an die Zitronenfalter. Sie finden allein zurück?“ Damit ließ er sie stehen.

Als Jo etwa 40 Minuten später ihr Büro wiedergefunden hatte, griff sie als erstes nach ihrem Smartphone – ihr Telefon war noch immer nicht angeschlossen worden – und rief Anja an. Eine halbe Stunde später war sie sich wieder sicher, dass die Welt, in der sie gerade agierte, tatsächlich real war und der Abteilungsleiter vermutlich einfach nur ein Idiot.

„Das liegt nicht an deinem Job, Jo, die meisten Chefs beherrschen SABTA. Das gehört dazu.“

„Beherrschen was?“

„Sicheres Auftreten bei totaler Ahnungslosigkeit.“

Sie überlegte, ihre Freundin auch nach den Zitronenfaltern zu fragen, aber gleichzeitig schien ihr das völlig absurd. Was sollten diese Tiere mit irgendetwas zu tun haben?

Nach dem Telefonat entschied sie, sich in Ruhe die Unterlagen in dem blauen Aktendeckel anzuschauen und bei Bedarf einfach einen der Kollegen auf ihrem Gang zu fragen. Irgendjemand hier wusste sicher, was zu tun war.

Sie war wieder guter Dinge, als sie die Akte aufschlug und auf die erste Seite blickte. Dort stand in jeder Zeile, von der ersten bis zur letzten, die Zahlenfolge, die sie mittlerweile auswendig kannte.

Lies weiter!

Erdbeerschnee

von Carmen, Lesezeit 1-2 Minuten

„Wie Erdbeerschnee“, erklärte ich noch dem Polizisten, „genau so sieht es aus!“ Appetitlich rot hat es tatsächlich ausgesehen, richtig zum reinbeißen. Manche Stellen waren heller, doch je näher man zur Leiche hinschaute, desto dunkler wurde die Farbe. Den Polizisten hat meine Beschreibung freilich nicht interessiert, er hatte sich längst selbst ein Bild gemacht.
Den toten Körper des älteren Nachbarn mit seiner für alle Ewigkeit verzerrten Fratze hatte ich mich nicht mehr getraut, anzuschauen. Ein kurzer Blick hatte genügt und es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich sehe das Bild immer noch, wenn ich die Augen schließe.
Ich versuchte, mich auf den Schnee zu konzentrieren. Am Morgen hatte er noch so wundervoll silbern geglitzert. Friedlich, unberührt, edel. Man hatte den Drang, sich hineinzuwerfen und darin einzutauchen. Ich musste an Schneeengel denken. Tja.

Als ich später Herrn Hofmann gefunden hatte, lag er nicht so, wie Schneeengel gewöhnlich liegen. Der Schnee hatte dafür aber auch die falsche Farbe. Er war nicht göttlich silbern, sondern fruchtig rot. So wie die süßen Erdbeeren, die mir Herr Hofmann immer aus seinem Garten mitgebracht hatte. Das wird er jetzt wohl nicht mehr tun, fiel mir ein. Erdbeerschnee. Herr Hofmann lag in Erdbeerschnee. Wie passend, dachte ich, aber das sagte ich lieber nicht dem Polizisten. Der hätte das wohl nicht verstanden.

Über Zitronenfalter (2)

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

Teil 1 der Geschichte findet Ihr hier: Über Zitronenfalter (1)

In den kommenden Wochen stellte Jo zu ihrer Erleichterung drei Dinge fest:

1. Sie konnte selbstständig den Weg nach draußen finden. Tatsächlich hatte ein vorausschauender Mensch Hinweisschilder in den Gängen angebracht, die ihr auf ihrem ersten Weg durch das Labyrinth nur nicht aufgefallen waren.

2. Hinter den vielen verschlossenen Türen saßen tatsächlich echte Menschen, einige sogar äußerst freundliche Kollegen.

3. Es gab einen Raum mit Putzmitteln, die zur freien Verfügung standen. So konnte sie – mit Hilfe einiger der neu entdeckten Kollegen – ihre Staubhölle in ein halbwegs benutzbares Büro verwandeln.

Müller, Ernst Müller hatte sie nicht wieder gesehen, ebenso wenig einen Kollegen der IT oder den Abteilungsleiter. Auf dem Computer, der zu ihrem Röhrenbildschirm gehörte, lief nur eine fast vergessene Version von Solitär, die sie aber für eine Woche zur beliebtesten Kollegin auf dem Flur gemacht hatte.

Das sogenannte Faxgerät spuckte mindestens einmal am Tag eine Seite mit einer seltsamen Zahlenfolge aus. Es war immer die gleiche Folge, trotzdem hängte Jo alle Seiten an der Wand hinter ihrem Schreibtisch auf. Sie betrachtete es als eine Art Rätsel, genau wie die Kiste, die sie neben dem Schreibtisch gefunden hatte und die einige persönliche Dinge ihres Vorgängers enthielt. Eine weiße Kaffeetasse, ein Bild von einem Bergsee und einen vier Jahre alten Taschenkalender, in dem nur drei Termine standen: 05. Februar, 18.00 Uhr Stadtsparkasse, 12. Februar 18.00 Uhr Friseur, 03. März 12.00 Uhr Karen.

Besonders der Mittagstermin mit Karen schien ihr interessant. Ein weiteres Rätsel, das es zu lösen galt. Die Kollegen auf dem Flur lästerten gerne über Gregor Berger, ihren Vorgänger. Pedantisch sei er gewesen, engstirnig, karriereorientiert und gleichzeitig arbeitsscheu. Eines Tages war er plötzlich nicht mehr erschienen und keinen hatte das sonderlich gestört.

Karen war ebenfalls eine ehemalige Kollegin, aber alles was Jo über sie erfuhr, war, dass sie wie ein Wind durch die Abteilung gefegt war und seit etwa vier Jahren durch die Welt trampte.

Vier Jahre Weltreise. Ein vier Jahre alter Taschenkalender. Leider kam die Vier in keiner der Zahlenfolgen vor. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass alles irgendwie miteinander zusammenhing.

Das Rätsel begleitete sie mittlerweile bis in ihre Träume. Erst letzte Nacht hatte sie in ihrem Büro gestanden. Am Schreibtisch hatte ein junger blasser Mann gesessen. Er trug blondes, glänzendes Haar, eine Brille und eine braune Tweedjacke, die ihn um 20 Jahre altern ließ. Er tippte wild auf die Tastatur ein, als die Tür aufging.

„Gregor, hast du kurz Zeit?“

„Nein, ich schreibe die Ist-/Soll-Statistik für Herrn Müller.“

„Oh, verstehe, es dauert auch nicht lang. Ich habe hier einen Fall, bei dem du mir helfen könntest.“ Gregor hatte aufgehört zu tippen und schaute auf die Unterlage, die die Kollegin ihm zeigte. „Es geht um…“

„Das habe ich schon abgelehnt“, unterbrach er sie, „nicht unsere Zuständigkeit.“

„Ja, ich weiß, nicht so direkt. Aber ich dachte…“

„Nicht zuständig.“

„Schon, aber, wenn man ein bisschen weiterdenkt…“

„Weiterdenken hat noch niemandem genützt. Wir sind nicht zuständig und wir sind genug mit dem beschäftigt, für das wir zuständig sind.“

Und dann hatte Gregor weiter getippt und Jo war schweißgebadet und mit klopfendem Herzen aufgewacht. Die Uhr hatte vier Uhr früh gezeigt. An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken gewesen.

Mittwochmorgens in ihrer zweiten Arbeitswoche wartete Müller, Ernst Müller bereits vor ihrem Büro. Der Anblick ließ sie innerlich seufzen. Ein weiterer Albtraum, immer das gleiche Gespräch, hing noch in ihren Gedanken. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt, obwohl sie den Wecker extra eine Stunde weiter gestellt hatte. Müller, Ernst Müller bedachte sie mit missbilligendem Blick.

„Guten Morgen, Frau… Jo.“ Er sah auf die Uhr, während sie die Tür aufschloss. „Die Kernzeit beginnt um 9.30 Uhr.“

„Es ist 9.30 Uhr.“

„Nein, es ist 9.33 Uhr.“

Jo hätte erwidern können, dass es genau halb zehn gewesen war, als sie das Bürogebäude betreten hatte. Was konnte sie dafür, dass dieses Büro so weit vom Eingang entfernt war? Aber sie war zu müde zum diskutieren, sie hätte wohl doch noch einen vierten Kaffee trinken sollen.

Sie sagte nichts und Müller, Ernst Müller kommentierte ihren Fauxpas mit keinem weiteren Wort.

„Der Abteilungsleiter möchte Sie sprechen“, erklärte er stattdessen und Jo war so überrascht, dass sie beinahe gefragt hätte, wer das war.

Doch dann fiel ihr wieder ihr erster Tag ein und sie erinnerte sich an den Mann, der sie den Kollegen hätte vorstellen sollen, gleich nachdem die IT sich um ihren antik anmutenden Computer gekümmert hätte. Jo formulierte es etwas diplomatischer, doch ihr Gegenüber musterte sie nur irritiert.

„Sie haben sich keinen Termin geben lassen?“

„Wie bitte?“

„Beim Abteilungsleiter. Sie hätten sich für die Vorstellung einen Termin geben lassen müssen. Das ist doch selbstverständlich.“

War es das? Jo wurde flau im Magen. Zu viel Kaffee, nur zu viel Kaffee.

„Nun, das lässt sich nicht mehr ändern, kommen Sie mit.“

Sie folgte Müller, Ernst Müller wieder durch endlose graue Gänge und konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie am Ende des Weges etwas Schlimmes erwartete. Nach der dritten Abzweigung hielt sie es nicht mehr aus.

„Worüber möchte der Abteilungsleiter mit mir sprechen?“

Müller, Ernst Müller zuckte mit den Schultern. „Wer weiß das schon. Ich sagte ja: Zitronenfalter.“

Lies weiter!

Das Schmuckstück (Teil 2)

Du kennst Teil 1 der Geschichte noch nicht? Lies los!

von Carmen, Lesezeit zwischen 5 und 10 Minuten

„Das kann doch jetzt nicht wahr sein! Du Vollhonk! Du Idiot bringst uns alle um!“ Betty kämpfte schwer gegen die Panik und die Hysterie an. Hinter sich hörte sie das Keuchen und das Scheppern wieder lauter werden, konnte die Geräusche durch den undurchdringlichen Rauch aber erneut nicht zuordnen. Plötzlich zischte es und der Rauch wurde noch dichter. Sie hatte das Gefühl, rein gar nichts mehr zu sehen. Sie mussten unbedingt hier raus – das Fenster war ihre Rettung, das Fenster war alles, was zählte. Immerhin hatte eine aus der Mädelsrunde geistesgegenwärtig die 112 gewählt. Trotzdem konnten sie sich nicht darauf verlassen, dass die Feuerwehr sie schnell genug retten würde. Der strampelnde Darwin-Award-Anwärter musste aus der Fensteröffnung weg.

Gerald war dabei, Darwin – wie ihn Betty in Gedanken getauft hatte – mit aller Kraft durchs Fenster zu drücken. In Susannes Augen ein Ding der Unmöglichkeit.
„Der ist zu fett, Gerald, der passt da nicht durch. Merkst du das denn nicht. Hör auf, zu schieben, du musst ihn wieder hereinziehen. Hörst du mir zu?!? ZIEH IHN HEREIN!“
„Halt den Mund, Susanne! Halt. endlich. EINMAL. den Mund! Wenn wir hier drin krepieren, muss ich wenigstens deine beschissenen Kommentare nicht mehr hören! Immer musst du alles besser wissen.“
„Jetzt hör aber mal auf! Nur weil DU strunzdumm bist, bin ich noch lange keine Besserwisserin. Und was heißt hier, krepieren??? Zieh ihn rein und niemand stirbt!“
„Wenn wir das hier wirklich überleben, will ich dein hässliches Pferdegesicht nie wieder sehen müssen. Ich will die Scheidung!“

„Seid ihr jetzt komplett irre geworden?! Hört auf, zu streiten!“ Betty merkte, dass sie nicht weiterkamen. Mit einem Schritt war sie dort, wo sie Jakobs Wimmern vermutete, griff nach unten, erwischte ein Haarbüschel und zog den apathischen Mann hoch.
„Mein kleiner süßer…“
Sie hörte, wie die Ohrfeige ihn traf. Sie fühlte, dass sie seine Nase erwischt hatte, aber sei‘s drum. Sie packte ihn an den Armen.
„Jetzt reiß dich zusammen! Willst du deinen Jungen so im Stich lassen? Willst du uns alle im Stich lassen? Willst du das?“ Betty wurde ungewollt immer lauter, bis sie durch einen Hustanfall unterbrochen wurde. Der Rauch biss in den Lungen. Außer Atem redete sie weiter: „Komm, reiß dich zusammen! Denk an den kleinen Tobi. Hilf uns! Schaffst du das? Schau mich an. Schaffst du das???“
Durch den Rauch konnte sie seine Reaktion nicht sehen, doch sie spürte, wie ein fast unmerklicher Ruck durch Jakob ging. Er überlegte kurz.
„Wenn wir ihn nicht nicht aus der Fensteröffnung bekommen, muss halt das Fenster weg! Leute, hört mir alle zu! Die Außenwand hier ist nicht allzu dick. Wir nehmen den großen Kühlschrank und nutzen ihn als Rammbock.“

Danach ging alles ganz schnell. Nach kurzem Zögern halfen alle Gäste, das Gerät zu leeren und die Kabel von der Wand zu lösen. Trotz der miserablen Sicht ging die Arbeit zügig voran und innerhalb von zwei oder drei Minuten jonglierten sie den schweren Kühlschrank über ihren Köpfen.
„Auf mein Zeichen!“
Schon beim ersten Anlauf zeigte sich eine deutliche Delle neben dem Fenster. Beim dritten Anlauf hatte sich ein deutliches Loch in der Außenwand gebildet. Kurz darauf hatte es sich mit der Fensteröffnung verbunden. Darwin krabbelte schnell nach draußen, gefolgt vom Rest der Gäste. Betty bildete das Schlusslicht. Als sie endlich frische Luft schnappen konnte, kamen ihr die Tränen der Erleichterung. Mit einem Blick erkannte sie, dass alle ihre Gäste wohlbehalten entkommen waren. Das rhythmische blaue Licht zweier Löschzüge flog über ihre Gesichter. Ein Dutzend Feuerwehrleute war bereits dabei, die Schläuche abzurollen.
Wenn Betty nur geahnt hätte, welch katastrophale Wendung die Eröffnung nehmen würde. Der Abend hatte so vielversprechend begonnen, als sie mit Hans die letzten Detals besprochen…

HANS! Betty wurde fast ohnmächtig vor Schreck. Sie hatte Hans komplett vergessen!
„HANS! Mein Gott, Hans!“ Ihr wurde eiskalt. Er war doch noch ein Teenager, ein Kind. Blutjung. Unschuldig. Alle waren sie draußen, alle Gäste saßen auf der Straße. Es konnte nicht sein…
„Hans! Um Gottes Willen! Wo bist du? So sag doch was!“
Plötzlich tauchte eine rußgeschwärzte Person im Durchgang zwischen Schutt und Ziegelsteinen auf. Hans. Unter seinem Arm erkannte Betty den großen Putzbottich der Bar.
„Ich bin hier, Boss.“
Mit einem Aufschrei rannte sie zu ihm und drückte den Jungen fest an ihre Brust. Der Bottich fiel mit einem metallischen Scheppern zu Boden.
„Gott sei Dank ist dir nichts passiert! Wo warst du denn bloß! Das hätte ich mir nie verziehen, wenn dir was passiert wär.“ Erneut liefen Betty die Tränen über die Wangen.
„Keine Sorge, Boss. Ich hab mich um das Feuer gekümmert. Ist jetzt aus.“
Betty löste sich aus der Umarmung und schaute den Jungen an.
„Was?! Wie ‚ist jetzt aus‘? Worum hast du dich gekümmert?“ Hans hätte chinesisch reden können, das hätte Betty in diesem Moment ebenso wenig verstanden.
„Ihr ward mit dem Typen im Fenster beschäftigt, da dachte ich, ich versuchs mal mit dem Putzeimer, Boss.“
Betty sah ein, dass sie unter Schock stehen musste. Ihr junger Kollege sagte Worte, aber die ergaben keinerlei Sinn. Da sie nicht wusste, was sie tun oder sagen sollte, starrte sie Hans einfach weiter an, bis eine Feuerwehrfrau auf sie zukam:
„Sie sind die Besitzerin der Bar, oder? Der Brand ist soweit gelöscht, da mussten wir nicht mehr viel tun. Ihr junger Kollege hier hat mit dem Eimer ganze Arbeit geleistet und die Umgebung des Brandes schön feucht gehalten. Dadurch blieben die isolierten Flammen klein genug, und konnten nicht auf die weiter weg stehenden Tische übergreifen. Die Möbel, die Feuer fingen, waren ja Gott sei Dank schnell verbrannt. Nur der Rauch hätte Ihnen gefährlich werden können. Sie sind alle noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Aber lassen Sie sich auf jeden Fall nachher noch im Krankenhaus auf Rauchvergiftung hin untersuchen. Sicher ist sicher.
Ich denke, alles in allem entstand der größte Schaden durch das Loch in der Wand. Dadurch ist das Gebäude vorerst nicht mehr betretbar. Ein Statiker wird sich die Sache die kommenden Tage anschauen, vermutlich muss das Gebäude abgerissen werden.“

Hans legte Betty einen Arm um die Schulter.
„Vielleicht setzt du dich besser kurz hin, Boss.“
Ohne Widerstand ließ sich Betty zur gegenüberliegenden Bordsteinkante führen und sank neben ihren Gästen nieder. Das schreiende Loch in der Wand der Bar ignorierte sie. Ihr Blick fiel auf ein unscheinbares Schild, das auf dem Bürgersteig lag. Leicht verrußt, aber intakt: 
Das Schmuckstück

Rauch auf der Straße
Photo by David Lee on unsplash

Über Zitronenfalter (1)

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

„Müller, Ernst Müller.“ Er streckte die schmale Hand aus, sein Händedruck war unangenehm weich. Er wirkte weder alt noch jung, noch irgendetwas, das sie mit einer Charaktereigenschaft verbunden hätte. Er schien nicht mal wirklich da zu sein. Mit der grauen Hose, dem grauen Hemd. Wie ein verwaschenes Foto aus einer längst vergangenen Zeit.

„Jo“, wiederholte sie. Sie hatte sich nur mit Vornamen vorgestellt, ein offensichtlicher Fauxpas, den sie nun nicht mehr zurücknehmen würde. Sie strich sich nervös über den kratzigen schwarzen Wollrock und unterdrückte die Versuchung, mit der Hand wieder an ihrem viel zu festen Pferdeschwanz zu zupfen. Ihre Füße in den hohen Schuhen schmerzten schon jetzt. Sie hätte auf Anja hören und dass mit der Verkleidung lassen sollen. Kein Job war es wert, dass sie sich folterte.

„Gut, Frau… Jo.“ Müller, Ernst Müller machte eine kaum wahrnehmbare Handbewegung, die Jo großzügig als Aufforderung interpretierte, ihm zu folgen.

Die langen, zwillingsgleichen Gänge waren nur spärlich beleuchtet. Nach mehreren Abzweigungen begann Jo sich zu fragen, wie sie sich jemals zurechtfinden sollte in diesem Reich aus grauem Linoleum und beige-braun-gestrichenen Türen, die ausnahmslos alle verschlossen waren. Ihr Begleiter ging in all dem Grau beinahe unter. Vielleicht war das der Trick. Ihr schauderte bei dem Gedanken.

„Wann lerne ich die anderen Kollegen kennen?“ Müller, Ernst Müller schaute sie irritiert über seine Schulter hinweg an.

„Der Abteilungsleiter wird Sie zu gegebener Zeit vorstellen. Sie wissen ja, Zitronenfalter!“

Zi… was? Nun, bestimmt war es nicht wichtig.

Sie gingen weiter, noch eine Abzweigung, eine Treppe nach oben und einen weiteren Gang entlang, bis sie schließlich vor einer Tür stehen blieben, die sich in nichts von den anderen unterschied. Dann entdeckte Jo das Schild. Die Nummer 345 und ihr Name standen darauf. Sie hatten den Nachnamen falsch geschrieben, wie üblich. Sie fragte sich, ob sie Müller, Ernst Müller darauf aufmerksam machen sollte. Vermutlich würde es ihn völlig aus der Fassung bringen.

„Ihr Büro“, erklärte er unnötigerweise und schloss die Tür auf.

Der Raum war so groß wie ein Handtuch und dunkel wie der Gang, aus dem sie kamen. Das einzige Fenster war vor Vernachlässigung blind. Sie fand den Lichtschalter und eine Neonröhre erwachte unter angestrengtem Flackern zum Leben. Sie erleuchtete einen Schreibtisch, der den Raum fast vollständig ausfüllte. Darauf stand ein Röhrenbildschirm; Tastatur und Aktenstapel schliefen unter einer Staubschicht von zwei Zentimetern. Doch Jo fiel vor allem ein seltsames Gerät neben dem antiken Bildschirm auf, das in diesem Moment anfing rot zu blinken.

„Was…?“, begann sie.

„Entschuldigen Sie die alte Ausrüstung“, sagte Müller, Ernst Müller. „Der Kollege von der IT kommt heute noch vorbei und Ende nächster Woche sollte auch das neue Telefon kommen. Materialausgabe ist immer mittwochs 8 Uhr im ersten Stock. Ich schlage vor, Sie lesen sich ein“, er deutete auf einen der verstaubten Stapel, „und wenn Sie Fragen haben, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.“

Nein, weiß ich nicht, dachte Jo, doch die Akten würde sie ohnehin nicht anfassen, bevor sie sich von irgendwoher eine Schutzausrüstung besorgt hatte.

„Was ist das?“, fragte sie und deutete auf die seltsame Maschine auf dem Schreibtisch.

„Ein Fernkopierer.“

„Ein…?“

„Fern.Ko.Pie.Rer. Ihre Generation nennt es möglicherweise Faxgerät.“

Ihre Generation nannte es E-Mail und verschickte damit Anhänge, ein Fax besaß vielleicht noch ihre Großmutter.

„Es blinkt“, stellte sie fest. Müller, Ernst Müller zuckte mit den Schultern.

„Es ist defekt. Seit der Kollege vor Ihnen uns verlassen hat, sendet es ständig Zahlenfolgen, niemand weiß, was sie bedeuten oder wer sie sendet.“ Als hätte das Fax auf diese Worte gewartet, begann plötzlich ein ohrenbetäubendes Fiepen und Rattern und wie in Zeitlupe schob sich ein bedrucktes Blatt Papier aus dem Gerät. Niemand rührte sich. Als es wieder still wurde, räusperte Müller, Ernst Müller sich. „Ignorieren Sie es einfach. Die IT kümmert sich darum.“

„Seit wann denn?“ Sie hatte die Frage, die die Staubschicht ihr in den Mund gelegt hatte, eigentlich nicht laut stellen wollen.

„Drei Jahre… vielleicht auch fünf.“

„Oh…“

„Nun denn, einen guten Start!“

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Das Schmuckstück (Teil 1)

von Carmen, Lesezeit um 5 Minuten

„Sei so lieb und gib uns nochmal drei Doppelte, Betty.“
„Gibt es denn etwas zu feiern, Jakob?“, Betty wischte kurz mit dem Lappen über den Tresen, bevor sie drei Gläser mit einer goldenen Flüssigkeit vor Jakob abstellte.
„Ich bin Vater geworden! Ein Junge! Ein gesunder kleiner Junge.“ Die Freude, aber auch die Erleichterung, war dem jungen Mann anzusehen. „Nach dieser Runde muss ich dann auch wieder weg. Helene wartet schon. Es war keine einfache Geburt, ich will bei ihr sein, wenn sie wieder aufwacht. Hier. Der Rest ist für dich.“
Überrascht nahm Betty das großzügige Trinkgeld an.
Sie genoss den heutigen Abend in ihrer Bar, in ihrem Schmuckstück.

Nach langen Monaten der Renovierung war heute Neueröffnung und sie hatte den perfekten Abend geplant. Sogar ihre ehemalige Aushilfe, der 16-jährige Hans, hatte sich bereit erklärt, einzuspringen, damit alles reibungslos verlief. Betty hatte viel Herzblut in den Umbau gesteckt. Alles, was sie selbst erledigen konnte, hatte sie auch selbst getan. Nur das Nötigste wurde an Handwerker outgesourct. Sogar das kleine Fenster, das mit Buntglas eine Szene des römischen Gottes Bacchus darstellte, hatte sie eigenhändig eingebaut. Es war das einzige Fenster der Bar, was Betty eigentlich ganz gut fand – dadurch konnte kein Licht der Straße die schön schwummerige Atmosphäre im Raum zerstören. Die Holztische waren alle einzigartig – auf Flohmärkten zusammengetragen, genauso wie die Stühle. Keiner sah aus, wie der andere – einige robuster, an anderen blätterte bereits die Farbe ab, manche hatten drei Beine, es gab Hocker ohne Rückenlehne. Das verlieh ihrer Bar einen besonderen, heimeligen Charme.
Auch an der Getränkekarte hatte sie lange gefeilt, bis sie zufrieden war.

Ganz besonders hatte sie sich über die überwältigende Rückmeldung ihrer Gäste gefreut, alles lieb gewonnene Stammgäste:
Hier war Jakob, seit Jahren ein treuer Gast. Betty hatte um die schwierige Schwangerschaft seiner Frau Helene gewusst und war froh, dass alles gut ausgegangen war. Dort, in der hinteren Ecke, war die Mädelsrunde, die sich vor der Renovierung immer dienstagabends nach der Arbeit getroffen hatte, und probierte sich durch die neue Cocktailauswahl.

Pünktlich um halb neun ging die schwere Eisentür des Schmuckstücks auf und Susanne und Gerald traten ein, ein Paar mittlerweile um die 45. Wie immer betrat Susanne die Bar zuerst, elegant in einen Pelzmantel gekleidet mit passenden, braunen Pumps. Sie blickte sich kurz um und steuerte den einzig freien Tisch in der Nähe des Eingangs an. Gerald, der Gentleman, hatte ihr wie üblich die Tür aufgehalten und beeilte sich, ihr zum Tisch zu folgen, um ihr dort den Mantel abnehmen und den Stuhl zurecht zu schieben.

„Schön, dass ihr gekommen seid“, begrüßte Betty sie, als sie die Kerze am Tisch anzündete, „wie immer?“
„Ja, gerne. Vielen Dank für die Einladung“, entgegnete Susanne, während sie den Burberry-Schal auszog und ihn säuberlich neben sich hinlegte. „Wir freuen uns sehr auf den Abend.“
„Ein Aperol-Spritz, ein Weißbier!“, rief Betty Hans über die Schulter zu.
Doch gerade, als sich Betty umdrehte, stieß sie mit Hans zusammen, der das „wie immer“ bereits in dem Moment zubereitet hatte, in dem Susanne und Gerald in der Tür erschienen waren. Beide Gläser fielen mit lautem Klirren zu Boden. Betty verlor das Gleichgewicht und stützte sich am wackeligen Holztisch ab, wodurch die Kerze gefährlich ins Schwanken geriet und … kippte. Auf den ordentlich gefalteten Burberry-Schal. Der fing sofort an, wie Zunder zu brennen.

Brennender Tisch
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Erschrocken sprang Susanne nach hinten und stieß dadurch sowohl Tisch als auch Holzstuhl um.
„Du Tollpatsch, kannst du nicht aufpassen?!“, herrschte Betty den erstarrten Hans an, selbst komplett überfordert. Gerald ergriff die Initiative und versuchte, den brennenden Schal auszutreten. Doch das Feuer war schon zu groß und fand in dem alten, trockenen Tisch und dem dürren Stuhl ein gefundenes Fressen. In Sekunden loderte es so hoch, dass den Vieren der Weg zur Eingangstür abgeschnitten war.

Mittlerweile war das Feuer bei den anderen Gästen nicht unbemerkt geblieben – doch auch die hatten keine Möglichkeiten mehr, zur Tür zu gelangen. Die Leute fingen an, durcheinander zu rufen.
„Wo ist der Feuerlöscher?“, schrie jemand. Betty lief es eiskalt den Rücken hinunter: den hatte sie bei den ganzen Vorbereitungen komplett vergessen. Einen Feuerlöscher gab es nicht.
„Wir müssen hier raus!“
„Helene, der kleine Tobi, oh Gott, der kleine Tobi wird nie erfahren, wer ich bin. Ich will raus, Helene, ich will raus.“
„Zum Fenster!“

Susanne erreichte das Fenster zuerst und fing an, wie wild daran zu zerren.
„Es öffnet nach außen, du musst es nach außen hin öffnen!“, schrie Gerald, während er sie gleichzeitig wegstieß. Susanne stürzte zu Boden und schrie auf, doch Gerald ignorierte sie. Der Rauch wurde immer dichter. Bettys Augen tränten, der Hals kratzte unerträglich.
„Das Fenster klemmt. Ich. Kann. Es. Nicht. Öffnen.“, keuchte Gerald.
„Spinnst du?! Du darfst auf keinen Fall das Fenster öffnen, wenn es brennt. Das weiß jedes Kind.“ Eine der Frauen aus der Mädelsrunde versuchte, Gerald wegzuziehen. Doch Gerald schob wie mühelos von sich: „Siehst du einen anderen Ausweg? Nein??? Du kannst gerne hier drin bleiben, aber ich gehe. Wenn. Es. Nur. Endlich. Aufginge!“ Damit lehnte er sich mit aller Kraft gegen das Fenster, das sich keinen Millimeter bewegte.
„Dann zerschlag es, du Idiot! Jetzt mach schon!“ Ein großgewachsener Mann aus Jakobs Freundeskreis zerrte Gerald vom Fenster weg, während Jakob mittlerweile apathisch an der Wand zusammengesackt war.
„Mein Sohn, mein kleiner süßer Tobi.“ Betty ahnte die Tränen auf seinen Wangen mehr, als sie sie noch sehen konnte.
Hinter sich hörte Betty ein metallenes Scheppern und schweres Keuchen. Ein Klirren lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn. Bacchus war in tausend Stücke zersprungen.
Mit einem Ruck hievte sich der Hüne nach oben und versuchte, dem beißenden Qualm zu entkommen. Tief atmete er ein, während er versuchte, seinen massigen Körper durch die enge Öffnung zu ziehen.

„Oh Gott, helft mir. Ich stecke fest!“

Hier geht es zu Teil 2 der Geschichte. Lies los!

Abendstille

von Jana, Lesezeit ca. 5 Min. 

Sie betrachtete ihn durch die Terrassentür. Er hatte sich an das Spalier gelehnt, das obligatorische Glas Rotwein in der Hand. Der Mond stand in seinem Rücken und beleuchtete den Kranz lichten Haares. Er starrte vor sich hin, alles und nichts sehend, tiefe Falten um seinen Mund zeichneten sich im farblosen Mondlicht ab. Zum ersten Mal fand sie, dass er alt wirkte. Alt und müde. Sie wusste nicht, ob das die Sache leichter oder schwerer machen würde.

Sie schlüpfte aus ihrem Kleid, ließ es achtlos zu Boden fallen, dann ihren Slip und den BH. Sie überlegte ihr Haar zu öffnen, sie wusste, er mochte das. Doch noch ging es nicht darum. Sie ließ es zusammen gebunden und trat nach draußen.

Das Geräusch der Tür ließ ihn aufblicken, sein Mund verzog sich zu einem Lächeln.

„Guten Abend“, sagte sie.

„Du bist schön“, sagte er und streckte die freie Hand aus. Sie nahm sie und führte ihn vom Spalier weg zu einer Bank aus schwarzem Marmor am Rand der Terrasse. Der Stein war noch aufgeheizt von der Hitze des Tages. Sie befürchtete nicht, gesehen zu werden, nicht mal im Licht des Vollmondes. Das Haus lag soweit abseits der Stadt, dass die nächsten Nachbarn zu Fuß eine halbe Stunde entfernt wohnten. Deswegen trafen sie sich hier, immer hier, wo sie ungestört waren. Nur sie beide und die Liebe zwischen ihnen.

Sie konnte sich ihn beim besten Willen nicht in ihrer Studenten-WG vorstellen. Ein Saftglas mit Sangria in der Hand am Küchentresen lehnend, der voll mit Stapeln schmutzigen Geschirrs war, während Leo auf dem Boden hockend Gitarre spielte und traurige Lieder sang. Sie musste lachen.

„Was ist?“, fragte er, doch sie verriet es nicht. Er mochte es nicht, wenn er das Gefühl hatte, nicht mehr jung zu sein. Sie nahm das Weinglas, doch dann dachte sie wieder daran, warum sie hier war. Sie roch den fruchtigen Duft und stellte es auf dem Boden ab. Er zog ihre Hände in seinen Schoß, lehnte sich vor.

„Ich bin schwanger“, sagte sie, bevor er sie küssen konnte.

Er erstarrte, lehnte sich zurück, starrte weiter. Es war sicher selten vorgekommen, dass der Professor eine Situation so ratlos betrachtet hatte.

„Ich…“, begann er.

„Nicht du. Ich bin schwanger. Von dir, falls das in Frage stehen sollte.“

„Tut es nicht.“

Tat es doch. Es schmerzte sie, doch sie kannte ihn. Vielleicht verbot ihm sein Stolz gerade, darüber nachzudenken, wie viele Verehrer sie tatsächlich hatte, doch das würde er. In Kürze. Es war ein fruchtloses Unterfangen, sie hatte ihn nicht betrogen, warum sollte sie?

„Dann ist ja alles gut“, sagte sie.

Er nickte. „Du bekommst es nicht.“

Was? Nein, nein, das kam nicht in Frage, das konnte er nicht verlangen. Sie wollte das Kind. Sie musste.

„Wenn es das Geld ist, kein Problem. Ich zahle es dir. Doch du kannst es nicht bekommen, das ist ja wohl klar.“

Klar? Was war daran klar? Sie liebte ihn und er sie. Die Studentin und der Professor. Ein bisschen wie aus einem Kitschroman. Herzschmerz vorprogrammiert, aber eben auch das Happy End. Das musste er doch sehen! Er musste!

„Denk doch nur an dich, deine Karriere. Du kannst es zu etwas bringen. Aber doch nicht, wenn du…“

„Du willst es nicht?“, fragte sie.

„Nein, nein! Warum auch? Ich habe drei Kinder. Gott sei Dank sind die erwachsen! Wieso sollte ich mir das noch einmal antun?“

Wieso sollte er? Eine gute Frage.

„Du willst es nicht“, murmelte sie. Er hatte weitergesprochen, doch sie hörte ihm nicht mehr zu. Er wollte nicht. Nicht das Kind, nicht sie. Sie sprang auf, sie konnte nicht sitzen bleiben, nicht hier bleiben. Er folgte ihr, griff nach ihr, wollte sie festhalten, doch auch das war eine Lüge. Er wollte sie nicht. Sie stieß ihn mit aller Kraft von sich und er schlug mit dem Kopf an die steinerne Bank, bevor er mit einem seltsamen dumpfen Laut auf dem Boden aufkam und still liegen blieb.

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