Geschichten. Überall und Jederzeit

Kategorie: Schreibübung (Seite 1 von 2)

Photo by Pim Chu on Unsplash
von Jana, Lesezeit ca. 10 Min.

!Triggerwarnung für depressive Gedanken

Es gibt diese Tage, da ist die Welt um sie herum in bleiernes Grau getaucht. Farben, Geräusche, Wärme erreichen sie nur durch einen Filter, der ihnen jegliche Bedeutung nimmt. Jegliche Wirkung. Sie könnte mitten unter ihren Freunden sein, mit ihnen lachen, trinken, reden – und würde doch nichts spüren. Sie kann arbeiten, funktionieren, ein wertvoller Teil der Gesellschaft sein, aber sie ist es nicht wirklich. Sie spielt es. Die leere Hülle, die sie gerade durch den Tag bringt, gibt eine oscarreife Performance ihrer Selbst ab. Sie hasst es.

Lass dich nicht so gehen.

Reiß dich zusammen.

Manchmal versucht sie darüber zu sprechen, aber irgendwie kommen die Worte nicht an.

‚Du musst mehr unter Leute gehen`, sagen die Leute dann. ‚Ich habe gehört, laufen hilft total`, sagen die Läufer. ‚Du darfst dich nicht verkriechen`, sagen die Extrovertierten. ‚Du bist ja nicht wirklich krank`, sagen die Gesunden.

Manchmal wünscht sie sich, ihr würde an diesen Tagen ein Bein fehlen oder ein Arm. Damit es offensichtlich ist. Aber das ist es nicht. Und nein, sie will nicht laufen oder unter Leute. Sie will sich ihre Decke über den Kopf ziehen und die Welt draußen lassen.

Sie tut es, als sie endlich zu Hause ist. Die Decke hängt zwar nur über ihren Schultern, aber hier auf ihrem Sofa geht es ihr besser. Und gleichzeitig schlechter. Sie hat Hunger und Durst, doch sie kann sich nicht aufraffen, bis in die Küche zu gehen. Alle Energie, die vielleicht heute morgen noch da war, ist für die Performance draufgegangen. Also sitzt sie nur da, die Hände um Legolas geschlungen, eine selbstgenähte Stoffpuppe. Brauner und grüner Samt, abgenutzt und verblichen und eine körnige Füllung, die gegen schwache Nähte drückt, doch noch ist er heil und sie hält ihn in den Händen wie ein Rettungsseil.

Ihre Schwester hat ihn ihr geschenkt vor vielen Jahren, als es noch in Ordnung war, ein Fangirl zu sein. Als sie beide unsterblich in den unsterblichen Elbenprinzen verliebt waren und ihm trotzdem eine Zukunft mit dem Zwerg wünschten. Das selbstgemalte Comic-Heft muss noch in irgendeiner Kiste liegen. All ihre Fantasie hatten sie hineingesteckt in die Irrungen und Wirrungen zwischen Legolas und Gimli bis beide sich endlich ihre Liebe gestanden, heirateten und kleine Zwelblinge bekamen. Und jetzt? Jetzt hält sich ihre Schwester für erwachsen und behauptet, Fandom sei ein Ableger indischer Mythologie und nicht erstrebenswert. Vielleicht hat sie recht.

Ein lauter Knall dringt aus dem Hausflur. Sie erschrickt, presst Legolas zusammen und spürt, wie die Puppe nachgibt. Ein Strom kleiner Perlen dringt aus dem Stoff, fällt auf Sofa, Boden, Tisch.

Wieder ein Knall.

„DU ELENDES ARSCHLOCH!“, keift eine schrille Frauenstimme. „DU HURENSOHN!“

„Ach, sei staad!“, brüllt ein Mann zurück, „Mid dir red i gar ned, du voglwuide Britschn!“

„Scheißkerl!“

Wieder ein Knall und endlich wird es still. Sie spürt die Taubheit in ihrem rechten Arm, das Zittern ihrer Hand, ihr Atem geht schneller. Sie mag es nicht, wenn geschrien wird, aber das sie etwas spürt, ist ein gutes Zeichen.

Sie besieht sich Legolas` Reste. Die gerissene Naht ist ausgefranzt, der Stoff so dünn und abgenutzt, dass eine Reparatur wohl zum Scheitern verurteilt ist. Die Globuli aus seinem Innern haben sich auf Erkundungsreise gemacht, in die Schale mit dem Dominosteinen, die hart wie Kieselsteine sind. Um den Kerzenstumpf, der Docht im getrockneten Wachs ertrunken, die Dekozweige ebenfalls trocken und braun. Über den restlichen Tisch, die Packung Taschentücher umfließend, auf den Boden, wo sie vom Teppich daran gehindert wurden in jede Ecke des Zimmers zu rollen. Sie stellt sich vor, wie sie aufsteht, in die Küche geht und den Staubsauger holt. Weiß schon, welches Bein sie als erstes auf den Boden setzt. Doch dann bleibt sie doch liegen. Sie hat Hunger, doch um sich an die Dominosteine zu wagen, müsste sie Tee kochen, um sie einzuweichen. Sie umfasst die Reste von Legolas noch fester. Sie fühlt sich so schwer, keine Sackkarre könnte sie jetzt bewegen.

Das Telefon klingelt. Sie rührt sich nicht vom Fleck. Vielleicht ist es ihre Schwester, die von ihrem neuen Job erzählen will. Vielleicht ihre Mutter, die doch angeblich immer spürt, wenn es ihren Töchtern nicht gut geht. Vielleicht ihr Vater, der ihr ein Buch empfehlen will, das er gelesen hat. Vielleicht Luisa, die immer noch ihren Toaster hat. Oder Max, der ihr einen Film ausleihen wollte. Sie wird nicht rangehen können, aber vielleicht bringt die Stimme auf dem Anrufbeantworter sie dazu, aufzustehen. Sie überlegt sich, was sie gerne hören würde, was sie dazu bringen könnte, sich zu bewegen.

„Ihr Anruf kann zurzeit nicht angenommen werden, bitte hinterlassen sie eine Nachricht nach dem Signalton.“

Piep.

 

 

Der Text ist im Rahmen einer Schreibübung entstanden, die folgende Vorgaben hatte: Geschichte mit Wörtern: Globuli, Kerzenstumpf, Dominostein, Sackkarre, Comic-Heft, vogelwild

Photo by Maria Oswalt on Unsplash
von Jana, Lesezeit ca. 7 Min

Für den ersten Teil, die Vorgeschichte von Carmen, klickt Ihr hier.

„Es geht um die Zukunft unserer Welten!“

Die Worte unseres Anführers hallten immer noch laut und schneidend in meinem Kopf. Zusammen mit den wenig hilfreichen Ratschlägen wie „Du musst es schaffen!“ und „Wenn du scheiterst, werden wir alle vergehen.“ Als wüsste ich nicht, wie ernst die Lage war. Als hätte ich nicht erlebt, wie unsere Welten zuerst gerettet wurden und dann doch nach und nach vergangen sind. Weil wir feststellen mussten, dass wir ohne die Riesen nicht leben können. Dass ohne die Riesen das Universum kalt und leer geworden ist und wir im Nichts hängen, ohne Ziel, ohne Perspektive und wir langsam selbst zu Nichts werden.

Ich zupfte nervös an meinem Tarnanzug. Ich hatte meine Welt verlassen müssen, um diesen Auftrag auszuführen. Es war nicht schlimm, sie würde bestehen bleiben, wie alle unsere Welten seit Max Oberon und Clarice Stapleton das neue unzerstörbare Polymer entwickelt hatten. Doch wenn ich erfolgreich wäre, dann hätte ich keine Welt mehr, zu der ich zurückkommen konnte. Diesen Gedanken versuchte ich zu verdrängen, während ich die mit Platanen gesäumte Straße entlang in Richtung des Parks schwebte. Die Sonne schien, Vögel zwitscherten und von irgendwoher drang Lachen an mein Ohr. Ich verstand, warum die alten Riesen manchmal vom Frühling sprachen, den es längst nicht mehr gab. Die Sonne in unserer Zeit ließ zu jeder Jahreszeit die Haut der Riesen verkohlen. Sie lebten jetzt unterirdisch und sie starben. Bald würde es keinen von ihnen mehr geben.

Als ich den Park erreichte, hatte ich keine Mühe, die Zielpersonen zu finden. Unser Anführer hatte mich alte Fotos studieren lassen, doch es wäre nicht nötig gewesen. Die Feier zum ersten Prototyp des neuartigen Polymers fand zentral auf einer großen Wiese statt. Vermeintlich wichtige Riesen standen am Rand und ihre kleineren Exemplare spielten in der Mitte.

Ich erkannte die neuartigen Welten, die wie meine unzerstörbar waren zwischen den herkömmlichen meiner Vorfahren. So zerbrechlich, so leicht zu zerstören. Sie alle waren noch dem Schlund unterworfen gewesen, der ihnen die Luft aussagte und sie nach und nach verschrumpeln ließ. Ein grausames Schicksal, zu dem ich sie nun wieder verurteilen würde. Doch die Gemeinschaft aller Welten hatte entschieden: Lieber ein kurzes Leben als eine ewige Existenz im Nichts eines leeren Universums. Denn es war die Herstellung dieses Polymers gewesen, die den Untergang der Riesen einläutete. Soweit wir es nachforschen konnten, wurde ein Gas bei der Herstellung ausgestoßen, das sich in der Luft mit Kohlendioxid zum schlimmsten Treibhausgas aller Zeiten vermischte und die Erderwärmung um ein Vielfaches beschleunigte.

Noch lachten die kleinen Exemplare und selbst Max und Clarice beobachteten, wie eine Riesin mit blauen Haaren und roter Nase auf einer Welt herumdrückte, um sie zu einem tierähnlichen Objekt umzuformen. Ich zuckte zusammen, solche Schmerzen, die eine zarte Welt empfinden musste, nur zur Freude einer quietschenden Bande Riesen. Ich konnte nicht hinsehen.

Max und Clarice applaudierten, dann mischten sie sich unter die Menge. Ich beobachtete Max, er griff nach einer der alten Welten und betrachtete sie, als würde er verstehen, was er in der Hand hielt. Doch er tat es nicht, würde es nie, denn ich war nicht hier, um ihn etwas zu lehren. Ich schwebte in seine Nähe, dann atmete ich tief durch. Ich musste nur seine Schläfe berühren, so konnte ich seine innere Zentrale stoppen. Von dieser Fähigkeit hatten wir lange nichts gewusst, doch seit wir ewig existierten, hatten wir vieles über die Riesen neu gelernt. Max sank zu Boden, doch ich hatte nicht sorgfältig geplant. Die Welt in seiner Hand wurde unter ihm zerquetscht und zerplatzte. Ich hatte sie zerstört.

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von Carmen 

Dieser Text entstand während des Schreibkurses „Schreib es auf“ im Rahmen der digitalen „Theater Pur“-Veranstaltung der Jugendbildungsstätte Waldmünchen. 
Die Vorgaben:
20 Minuten schreiben
Ein (grüner) Luftballon
überlegen, aus welcher Perspektive wir den Text angehen

Jana und Carmen haben sich im Anschluss an die Übung überlegt, was passiert, wenn sie die beiden, nicht miteinander abgesprochenen Texte, zusammen in ein Erzähl-Universum packen. Herausgekommen ist die folgende Fortsetzungsgeschichte.  Carmens Text macht den Anfang.
Janas Text folgt Donnerstag, 02.12.2021.


Ich bewache den Schlund.
Das Universum ist unruhig heute, durch den Schlund dringen viele Geräusche. Ich höre die große Glocke. Unbekannte Riesen betreten das Universum, sie diskutieren untereinander.
„Beeil dich, Max, der Testlauf beginnt in zwanzig Minuten!“, höre ich eine relativ helle Stimme.
„Wie kann ich helfen?“ Diese Stimme kenne ich, das ist unser Riese. Ihn kann man viel öfter hören, als alle anderen zusammen.

Ich blende das Gespräch aus. Das ist es nicht, das mir Sorgen bereitet, sondern es ist der Schlund selbst. Obwohl wir ihn so fest verschlossen halten, wie nur möglich, schluckt er in letzter Zeit mehr und mehr Luft, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen können.
Seien wir ehrlich, unsere Welt stirbt.

Die Wachposten an den Spiegelflächen berichten Ähnliches. Die Spiegel sind Orte, an der die Wand zum Universum am dünnsten ist. Einst waren sie so glatt und klar, dass wir von dort das ganze weite Universum beobachten konnten: wie es an uns vorbeischwebte, wie sich die anderen Welten um uns drehten. Was für wundersame, unerklärliche Wunder wir beobachten durften.

Einmal habe ich sogar gesehen, wie eine neue Welt entstand: unser Riese – größer und mächtiger, als alle anderen Riesen – nahm von seinem Atem und schenkte ihn dieser neuen Welt. Sie wuchs und wuchs. Fasziniert hingen wir an unseren Spiegeln und beobachteten dieses unfassbare Ereignis. Als unser Riese fertig war, schloss er den Schlund, damit der geschenkte Atem nicht entweichen konnte.
Es war magisch.

Aber meist sehen wir nur, wie die Welten zu Ende gehen. Manche plötzlich mit einem großen Knall, manche siechen einfach vor sich hin, bis sie vergessen sind. So wie wir.

Nach und nach haben sich die Spiegel zusammengezogen, sind schrumpelig geworden und stumpf. Wir sind erblindet, als hätten wir das Recht verloren, die Wunder des Universums zu sehen. Ich weiß, dass es neben uns noch unendlich viele weitere Welten gibt, doch sehen können wir sie schon lange nicht mehr. Schuld ist der Schlund und sein Hunger nach Luft. Er saugt sie aus unser Welt, als würde sie ihm gehören und wir können rein gar nichts dagegen unternehmen.

Die Alten sagen, dass wir nichts tun können – so ist der Lauf der Welt. Der Riese hat es so gemacht, dass die Spiegel uns zeigen, dass unser Weg vorgezeichnet ist. Es ist wichtig, sagen die Alten, dass wir verstehen, was mit uns passiert. Das lehrt uns Demut.

Demut! Ernsthaft?
Was hab ich davon? Ich habe gesehen, wie eine Welt entsteht: ich will keine Demut, ich will neuen Atem.
So etwas gab es noch nie, sagen die Alten, ich würde mich verrennen.
Ich bin nicht bereit, das zu akzeptieren. Wir brauchen neuen Atem.

Die Riesen diskutieren immer noch. Sie sprechen über Ballons – das ist ihr Wort für Welten. Unser Riese scheint aufgebracht:

„Verarschen können Sie sich selbst! Wie meinen Sie das, unzerstörbare Ballons?“
„Wir arbeiten an einem Polymer, durch das Ballons wie diese für immer die Form behalten. Wir brauchen … sagen wir mal zwei Dutzend Ballons für unsere Experimente. In zwanzig Minuten beginnt unsere Kick-Off Party im Park. Drücken Sie uns die Daumen.“
Unser Riese scheint nachzugeben: „Na, wenn Sie meinen…“

Ich horche auf. „Für immer die Form behalten“? Das klingt doch, wie „für immer existieren“, oder etwa nicht?
Ist die Luft schon so dünn geworden, dass ich anfange zu halluzinieren?
Wir mussten da hin, unbedingt. Unsere einzige Chance.

Ohne nachzudenken oder die Alten um Erlaubnis zu bitten, öffne ich den Schlund wieder. Mit einem Quietschen entweicht die wertvolle Luft und schiebt unsere Welt an den anderen vorbei, direkt in die Hände unseres Riesen, der uns an den Unbekannten weiterreicht.

 


Wollt ihr wissen, wie die Geschichte weitergeht?
Wollt ihr wissen, wie Jana die Vorgaben interpretierte?
Fortsetzung findet ihr hier.

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von Jana, Lesezeit ca. 3 Minuten

Es ist nicht völlig dunkel im Innenbad. Licht scheint durch den Lüftungsschlitz in der Tür, genau wie durch den Rahmen. Die Tür schließt nicht komplett ab. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und ich kann das Innenleben meines Bads erkennen. Den Heizkörper, die Toilette, Waschbecken, Wäscheständer. Endlich auch den Block auf meinen Knien. Die Schrift vermutlich nie, auch später nicht im Hellen [Anmerkung: Doch, war überraschend gut zu lesen!]. Was wollte ich hiermit beweisen? Schreiben im Dunkeln?!
Dunkelheit ist gleich Unendlichkeit. Zumindest in meinem Kopf liegen diese zwei Begriffe so nah beieinander. (Liegt vermutlich an Star Trek.) Da ist so viel, was wir nicht sehen. Es macht Angst und doch auch nicht. In der Dunkelheit verschwinde ich selbst auch, zusammen mit den Sorgen und Schrecken. Zumindest in dieser Dunkelheit. Liegt es am Licht, das nur wenige Meter entfernt ist? Das Wissen, dass dort Leben und Alltag ist, während ich nur kurz Pause mache hinter dieser Tür. Eine Auszeit, eine Art innere Einkehr, denn wirklich sehen tue ich gerade ja nur mein Selbst (und ein Stück roten Teppich direkt unter dem Lüftungsschlitz).
Es gibt noch die andere, umfassendere Dunkelheit. Nachts habe ich mich noch nie sicher und neugierig für die Geheimnisse in den Schatten gefühlt, im Gegenteil. Nachts finden mich immer die Monster. Die Dämonen, die sich tagsüber in verborgenen Winkeln meines Kopfes verstecken. Aber auch da hilft das Schreiben. Sind die Ängste erstmal auf dem Papier, werden aus den Dämonen bellende Hunde und im Licht des Tages lästige Mücken. Zumindest meistens.
Es kommt eben doch darauf an, wie hell das Licht ist, das mich am Ende der Dunkelheit erwartet.

 

Hiermit endet die Reihe „Schreiben überall“ erstmal. Auf mittendrin.blog geht es natürlich weiter. Alles Neue erfahrt ihr auf Instagram! Stay tuned, stay safe.

von Jana, Lesezeit < 5 Minuten

„Wir schließen in dreißig Minuten.“ Wie oft sie diesen Satz schon gehört hat. Sie gibt immer die gleiche Antwort („Das macht nichts.“), reicht die Jahreskarte über den Tresen und bekommt sie mit dem Papierticket zurück. Dann an den restlichen Kassen vorbei, geradeaus und nach rechts. Die Sonderausstellung. Letzter Tag.
Sie hat geglaubt, sich lange genug darauf vorbereitet zu haben, auf das Loslassen und doch gibt ihr das rot leuchtende Hinweisschild einen Stich. Sie nickt der Aufsicht kurz zu, geht in die Räume. Im letzten Saal ist die Wand mit den Fotografien. Er ist leer, wie immer um diese Zeit und sie setzt sich auf die mittlere Bank. Von hier aus hat sie den besten Blick.
„Der Künstler begann mit Fotografien.“ Einmal war sie zu einer Führung hier gewesen. „Sie sehen eine Auswahl von Motiven seiner Heimatstadt. Man kann schon an diesen Fotos seinen außergewöhnlichen Blick für Perspektive erkennen. Wenn Sie genau hinsehen…“
Sie hat es sofort erkannt. Das windschiefe Dach, die schmale Regenrinne, die die Vorderfront in der Mitte teilt und auf der Rückseite der Walnussbaum, majestätisch und ausladend überragt er das Hexenhäuschen. So hatten sie es getauft, Hexenhäuschen. Wenn sie die Augen schließt, dringt der Geruch der Küche zu ihr, nach Äpfeln und Moder, tanzen Staubflocken vor ihren Augen im Sonnenlicht, das durch die blankgeputzten Scheiben fällt. Sie fühlt die Stille auf ihren Schultern, die in der guten Stube einzuhalten war, wo ihr Großvater mit der Pfeife im Sessel saß und vor sich hin dachte. Sie spürt das Gras unter ihren Fußsohlen, schmeckt die frisch geknackten Walnüsse auf der Zunge.
Wenn Sie genau hinsehen. Steht dort hinter dem Fenster im ersten Stock nicht jemand? Das Schlafzimmer ihrer Großeltern. Winkt die Person ihr nicht gerade zu? Vielleicht ihre Großmutter als junges Mädchen?
Vielleicht nur ein Schatten, eine optische Täuschung. Das Hexenhäuschen gibt es schon lange nicht mehr.
„Verzeihung, aber wir schließen jetzt.“ Sie hätte das Bild kaufen sollen, vielleicht war das sogar möglich. Oder wenigstens den Ausstellungskatalog, aber sie weiß, sie wird es nicht tun. Sie will die Erinnerungen nicht mitnehmen, zwölf Wochen Ausstellung waren genug.
„Ist gut, danke.“ Sie steht auf und fragt den Aufseher, welches Bild ihm am besten gefällt. Es ist ein Gemälde vom Meer.
„Ein Klassiker, ich weiß, aber es erinnert mich an zu Hause, verstehen Sie?“
Nur zu gut.

 

Diesen Text habe ich auch zu Hause fertig geschrieben. Ich hatte tatsächlich nur dreißig Minuten bis Schließung und habe in dieser Zeit lieber die Atmosphäre mehr auf mich wirken lassen.

von Carmen, Lesezeit ca. 5 Minuten

Der Großonkel wird 80. Ein stolzes Alter und doch ist er das Nesthäkchen. Der kleine Bruder, der nur „unser Günter“ heißt, wenn seine großen Schwestern, darunter meine Oma, 92, ihn meinen.
Heute vormittag habe ich meine Großmutter abgeholt, sie und ihren Rollstuhl eingepackt, und bin eine Stunde lang in die Gegend ihrer Kindheit gefahren.

Die Weinberge, die Bauernhöfe, der Fluss – zu allem hatte sie eine Geschichte zu erzählen.
Diese Kellerei hat einige der Weinberge unserer Familie, meiner Urgroßeltern, aufgekauft.
Dieser Bauernhof, ein windschiefes Gebäude, das aussieht, als hätte es seit Jahren niemand mehr betreten, gehörte einer Familie, deren Söhne im Krieg alle gefallen sind.
Überhaupt der Krieg. Für meine Oma ist er allgegenwärtig. Seine Folgen sind allgegenwärtig – Bauernhöfe, die nicht mehr betrieben worden sind, Familien, die entzweit wurden, Männer und Söhne, deren Verbleib unbekannt ist. Menschen, die sich neu orientieren mussten, denen nichts anderes übrigblieb, als zu improvisieren.
Zwischen den alten Gebäuden, an denen wir vorbeifahren, stehen die neuen Häuser, architektonische, anachronistische Meisterwerke, wunderschön an sich, Landschaftsverschandelungen im Gesamtkonzept.

Wir erreichen eine Gaststätte, wohl ebenso alt wie das Geburtstagskind, gute bürgerliche Küche. Viel Fleisch, viel regionales Gemüse, deftig, herzhaft, lecker. 30 Leute sind eingeladen, namentlich kenne ich eine Handvoll. Von den Geschwistern gibt es noch drei. Vor zwei Jahren waren es noch sechs, fünf Schwestern und unser Günter. Mit Ausnahme des Nesthäkchens sind und waren alle über 85.
Langlebige Gene.

Nun feiert der Jüngste und wünscht sich, in 10 Jahren seinen 90. auch mit seinen verbliebenen Schwestern feiern zu dürfen. Doch die winken ab. Durchhalten, die 100 knacken, nur um dem kleinen Bruder einen Gefallen zu tun. Darauf haben beide nun wirklich keine Lust. Müdigkeit schleicht sich ein.

Die Luft hier drin ist verbraucht, 4 Gänge gut bürgerliches Essen sind dabei, verdaut zu werden. Kaffee ist nirgendwo in Sicht. Meine Konzentration fängt an zu schwinden und ich setze mich etwas abseits, um in Ruhe schreiben zu können.
Die Tanten, Nichten, Großneffen, Schwiegerkinder, Adoptivkinder und Verwandte, für die es schon keine Bezeichnung mehr gibt, unterhalten sich angeregt. Langsam bleiben die Namen haften, langsam kann ich mir merken, wer wer ist. Wir sehen uns so selten – Geburtstage und Beerdigungen. Mit Mitte 20 ist meine Oma ausgewandert. Nicht weit weg, aber weit genug. Der Besuch bei den Geschwistern wurde zum Tagesausflug, zum Wochenendausflug, zur Rarität. Einen Führerschein besaß meine Oma nie, mein Opa ist früh krank geworden – wieder einmal die Altlasten des Krieges – und hat sie früh zur Witwe gemacht. Mein Vater arbeitete. Wer hätte sie fahren können?

Zuerst wollte meine Oma nicht auf diese Party. Zu alt sei sie, zu anstrengend die Feier. Und dann die Sache mit dem Rollstuhl und den WCs – bis zuletzt war nicht sicher, ob es behindertengerechte Toiletten gibt. Die Angst, mit heruntergelassener Hose nicht mehr aufstehen zu können. Doch gleichzeitig gibt es nicht mehr so viele Möglichkeiten, die Familie zu sehen. Geburtstage und Beerdigungen. Die Gelegenheit bei Schopfe packen. Und so hat sie mir, ihrer Fahrerin, ihre Zweifel nicht mitgeteilt, nur meinem Vater hat sie sie erzählt.

Seitdem wir hier sind, lacht sie unentwegt. Unterhält sich mit jedem, der sich zu ihr hinunterbeugt. Erzählt mit Lachtränen in den Augen, wie ich mich auf dem Hinweg verfahren habe, von unserer „Reise nach Jerusalem“, wie wir auf einmal hinter dem Friedhof des Nachbarorts festhingen. Nunja, ich kenne die Gegend nicht und das Navi wohl auch nicht.

Am Ende schreibe ich in Ruhe meinen Text. So viele fremde Freunde überfordern. Unser Günter setzt sich zu mir. Ich sehe die Lachfältchen um seine Augen. Er raunt mir zu, dass er sich vom Dessert-Buffet, das noch nicht eröffnet ist, eine Kanne Kaffee stibitzt hat. Wir verstehen uns.

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von Jana, Lesezeit < 5 Min.

Freiheit ist Musik, laut und frei unter einem sich langsam verdunkelnden Himmel.
Menschen sind anders auf Festivals. Zugänglicher. Vielleicht liegt das aber auch an mir. Ich fühle mich dort immer daheim.
Ich bin dann in einem Garten hinter einer Villa und die ganze Welt der Musik öffnet sich für mich. Ich bin wieder 13, 14, 15, das Herz voller Schmerz und Verwirrung. Die Welt grausam und kalt, nur nicht hier. In diesem Garten ist die Welt für drei Tage in Ordnung. Trotz Dauerregen, brennender Sonne, müffelnden Toitois, halbgarem Döner und ab und an musikalischen Fernwelten.
Es ist ein wunderbarer Ort, für eine Weile bin ich sicher und aufgehoben. Zuhause warten Mitschüler, unter denen ich auffalle wie ein Panda in buntem Karomuster. Und wir wissen, was passiert, wenn man 13, 14, 15 ist und partout nicht dazupassen will.
Im Garten kennt man sich. Im Garten ist man einer von vielen.
Dieses Gefühl überkommt mich immer, wenn ich an ähnlichen Orten bin. Eine kleine Bühne, Himmel, ein bisschen Grün. Auch wenn es hier nur Sträucher sind, die sich tapfer gegen die städtische Versiegelung wehren. Bunte Lichter, buntes Graffiti und dieser Schlag Menschen, den man immer dort findet, wo gute Musik gespielt wird.
Man kennt sich, selbst wenn man sich noch nie gesehen hat.
Vielleicht bilde ich mir das alles aber auch nur ein. Auf jeden Fall bin ich jetzt hier und irgendwie auch dort. Und ganz bestimmt Daheim.

von Jana, Lesezeit ca. 5 Min.

Tom hasste die Höhe. Er liebte Geisterbahnen, doch in ein Riesenrad hätte er nie einen Fuß gesetzt. Sie dagegen schaute sehnsüchtig auf die Gondeln, die hoch in die Lüfte stiegen und egal wie klein oder albern das jeweilige Fahrgeschäft tatsächlich war, jedes Mal sprang ihr die Liedzeile in den Kopf. „Über den Wolken…“ Wenn sie wenigstens das hätte tun können. Die Ängste und Sorgen in die nächste Kabine packen und mitfahren lassen, wieder und wieder im Kreis. Noch vor der letzten Runde hätte sie sich davon gestohlen und sie dort gelassen. Doch Tom zog sie weiter.
Sie hasste Geisterbahnen. Sie konnte nicht verstehen, warum man sich freiwillig fürchten wollte. Er sagte, das wäre nur Spaß und sie müsste lockerer werden. Sie kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu. Er lachte und schoss ihr später einen Teddybären mit Herzstickerei. Er war niedlich und flauschig und nicht das, was sie wollte.
Sie steht allein vor dem Riesenrad, zögert. Es ist klein, voller bunter Leuchtdioden und alberner Bemalung. Soll sie wirklich? Die blondgelockte Frau im Kassenhäuschen winkt ihr auffordernd zu.
Das Rad setzt sich in Bewegung, sie mit ihm, hoch hinaus. Die Sonne blendet und im ersten Moment sieht sie nichts. Doch nach und nach gewöhnen sich die Augen an das Licht, werden die Häuser unter ihr kleiner, die Autos zu Spielzeugen, die Menschen zu Schachfiguren. Der Boden der Tatsachen schwindet. Sie will die Augen schließen, um den Moment zu genießen und schüttelt selbst den Kopf über sich. Nicht eine Sekunde wird sie verpassen. Nicht eine Sekunde Höhenflug. Als sie sich dem Boden nähert, schallt laute Musik zu ihr. „Somewhere over the rainbow“. Fast so schön wie über den Wolken.
Sie darf lange in der Kabine sitzen bleiben. Oben fällt das ihr das Atmen leichter. Oben fühlt sie sich beinahe frei.
Als sie aussteigt und die Türen sich hinter ihr schließen, sitzt der Teddybär mit Herzstickerei noch immer auf der Holzbank. Er wird einige Runden allein bleiben, bis er einen neuen Besitzer gefunden hat.
Bevor sie den Ausgang erreicht, dringt Frank Sinatra aus den Boxen. „I did it my way.“ Ganz genau.

 

Bei diesem Text habe ich minimal geschummelt: Idee und erste Sätze sind während der Riesenrad-Fahrt entstanden. Fertig geschrieben habe ich ihn dann an meinem Schreibtisch…

von Jana, Lesezeit < 5 Min.

Montags kauft niemand Möbel. Die sorgsam platzierten Dekogegenstände stauben ein, in den eingerichteten Muster-Wohnungen lebt heute kein Mensch. Verlassen liegt die Fundgrube da, ein Sammelsurium vergessener, leicht angeschlagener Möbelstücke, die niemand will. Heute nicht. Morgen nicht. Nie mehr.
Das rote Sofa in der Ecke sieht aus, als stünde es nicht erst seit gestern hier. Genau genommen sieht es nicht mal aus, als wäre es neu, eher so, als hätte es schon viele Leben begleitet, viele Besitzer getragen. Als hätte es Jeansstoff und Seidenkleider und müffelnde Socken ertragen, Hundehaare und verkippten Kakao. Setzte ich die Maske ab und röche daran, würde es nach gefärbten Stoff und Holzverkleidung riechen oder nach Wohnen, nach Leben?
Wie riecht Leben? Ein bisschen muffig vielleicht und nach den Blumen auf dem Tisch, nach angebratenen Zwiebeln, nach Seife, Waschmittel, nach Staub und Schweiß, nach dir und mir.
Ich habe Mitleid mit diesem Sofa, es ist für Menschen gemacht und nicht für diese dunkle Ecke am Ende des Möbelhauses, in die sich heute niemand außer mir verirrt. Wo es gespenstisch still ist, abgesehen von den halb verschluckten Tönen der ewig-nervigen Werbejingles, nur unterbrochen durch ein paar völlig überhörte Dauerhits.
Das ist kein Ort zum Bleiben. Doch ich kann es nicht mitnehmen.
Ich wünsche ihm eine Familie. Ich wünsche ihm das Leben oder die vielen Leben, nach denen es jetzt bereits aussieht. Ich wünsche ihm, dass jemand es betrachtet und nicht die ramponierten Stellen sieht, sondern die Schönheit darunter. Die Schönheit, die sagt: Ich bin kein Möbelstück, ich bin ein Stück Leben.

von Jana, Lesezeit < 5 min.

It`s quite perfect here. Er wirkt perfekt, mit sich im Reinen. Entspannt zurückgelehnt, träumend, die Augen geschlossen, sunday-morning-mood. Nichts muss, keine Termine, keine Verpflichtungen, nur sein. Ein Ruhepol, umgeben von hellen, schmucklosen Mauern, kühl gegen die Hitze des schwülen Sommers.
Die Stimmen der Besucher hallen durch die Gänge, zurückgeworfen von den nackten Mauern, vielfach verstärkt. Wie in einer Bahnhofshalle am Sonntagabend kurz vor Abfahrt des letzten Zuges, im Aufbruch befindlich zurück nach wer weiß wohin. Hektisch, eilig, alle müssen, niemand will. Streit und Zorn und Abschiedsschmerz.
Ihn kümmert das alles nicht. Nicht die Welt, nicht ihr Schmerz. Ein Monument aus Stein. Blind, taub und schön. Makellos.
Er ist nicht allein. Sie tanzt um ihn herum, unablässig, Runde für Runde, eine eifersüchtige Beschützerin. Nur wovor? Die Welt kann ihm nichts anhaben. Und ich, ich sitze nur hier, beobachtend, neidisch auf seine gelassene Ignoranz, von der ich so gerne etwas abhaben möchte. Von der Haut aus Stein, von dem nach innen gerichteten Blick, auf ewig der Welt entrückt.
Der nächste Schwall von Stimmen, eine unaufhaltsame Welle Lärm und Hektik und Aufbruch. So fehl an diesem Ort.
Und wieder eine Runde der Beschützerin, die fragenden, ungeduldigen Blicke, die mich treffen. Was tut sie da?
Immer noch innehalten. Immer noch beobachten.
Und dann ehrfürchtig unter der strahlenden Kuppel die Erkenntnis: Du bleibst hier, für immer. Fern von dieser Welt in deinem kleinen Kosmos, blind und taub für uns. Der immer gleiche Raum, nur du, sonst nichts. Ich kann gehen, kommen und gehen wie die hallenden Stimmen, nur Besucher in deinem Stückchen Ewigkeit.
It´s quite perfect here. Doch bist du glücklich?
Ich jedenfalls gehe. Zurück in die schwüle Hitze des Sommers.

Der Text entstand im Rahmen eines Schreibexperiments „Schreiben überall“, das der Frage nachgeht, ob und wie sich der Ort, an dem man schreibt, auf den Text auswirkt.

Stille

von Jana, Lesezeit ca. 3 Minuten

Der Text ist nicht wirklich eine Fortsetzung zu dem Text letzter Woche, ich hatte aber diesen Martin beim Schreiben im Kopf. (Tut mir leid, Martin!)

Stille, hatte Martin einmal gesagt, sei einfach nur das Gegenteil von Lärm. Er sagte das, um seine Verwirrung zum Ausdruck zu bringen, darüber, dass Menschen der Stille eine schon fast mystische Bedeutung andichten. Heilende Kräfte, eine Quelle der Energie, sich selbst finden und den eigenen Weg – all das soll die Stille bewirken können, dabei, fand Martin, war die Stille eben doch nur das: Das Gegenteil von Lärm.
„Wenn ich mich unbedingt selbst finden will“, ergänzte er, „dann kann ich das auch umgeben von Presslufthämmern. Es geht um Konzentration, weiter nichts.“ Aber für Martin war Stille auch kein besonders häufiger Zustand. Wenn er nicht redete, den stetigem Gedankenstrom in seinem Kopf nicht nach außen trug, dann hörte er Musik und wenn er keine Musik hörte, dann lauschte er auf seien Umgebung. Für Martin waren Geräusche das Leben, Lärm war nur ein Ausdruck intensiven Lebens. Vielleicht verachtete er die Stille nur, weil er sie nicht kannte.
Ohne ihn ist es seltsam still in der Wohnung und Birgit weiß nicht, wohin mit sich. Sie braucht Geräusche, braucht Lärm um sich, doch was immer sie tut, die Musik aufdrehen, mit den Tellern klappern, Staub saugen – nichts verdrängt die Stille. Als wäre sie ein schwarzes Loch, das alle Geräusche verschluckt. Als wäre sie viel mehr als nur das Gegenteil von Lärm. Als wäre Stille nicht nur die Abwesenheit von Geräuschen, sondern auch von Leben.
Und genau das ist sie ja auch, jetzt und hier, in der Zeit ohne Martin. Die Stille ist nicht einfach nur still, sie schreit und brüllt und tobt.
„Du hast dich geirrt“, flüstert sie in den leeren Raum. „Stille ist nicht das Gegenteil von Lärm. Sie ist die Steigerung. Sie ist so laut, dass wir davon taub geworden sind. Ich bin davon taub geworden. Oder ich wünschte es.“
Sie wünschte es, doch noch kann sie die Worte, die die Stille schreit überdeutlich hören. Zwei sind es und sie erzählen eine ganze Geschichte. ´Du fehlst`, sagen sie. Du fehlst.

Aufwärm-Schreibübung zum titelgebenden Wort

Mit diesem Text verabschiede ich mich in die Sommerpause. Voraussichtlich ab September geht es weiter mit der Donnerstagsgeschichte! Auf diesem Blog wird es aber nicht still, wir melden uns über den Sommer. Folgt uns gerne auf Instagram um nichts zu verpassen!

Trennungsschmerz

Photo by Annie Spratt on Unsplash
von Jana, Lesezeit ca. 3 Minuten

Sonne, Mond, Sterne, der Urknall, Gasriesen, schwarze Löcher, ein großer Knall. Sirenengeheul, Sturmböen, Platzregen, Donnergrollen, ich am Fenster, der Regen prasselt auf die Straße unter mir, als wolle er sie fortspülen. Der nasse Schleier, nur einen Meter von mir entfernt, kühlt mein Gesicht. Tränen, ich will nicht weinen. Nicht für dich. Keine Träne. Ich will dich nicht hassen. Nicht, wenn es so weh tut, das zu tun. Vergessen will ich. Dich und die Zeit mit dir. Retrograde Amnesie. Heißt es so? Einfach ein Stück aus dem Leben ausschneiden, in ein schwarzes Loch werfen, ein Wurmloch, irgendwann, irgendwo taucht es wieder auf, vielleicht kann es jemand gebrauchen. Denn es war ja nicht alles schlecht, ist es doch nie. Aber schlecht genug. Schlecht genug für eine Trennung, einen Streit, ein pathetisches vorhersehbares zerbrochenes Glas und noch pathetischere Tränen im Angesicht eines Wolkenbruchs. Gott, waren wir gewöhnlich. Das Dummchen und der Held, deine Socken auf dem Boden, meine – ja, was? Wo war ich in dieser beschissenen Zeit? Ich kann mich nicht erinnern. Die Amnesie wirkt bereits. Ich schreie, beschimpfe unsichtbare Gestalten vor dem Fenster. Keiner hört mich, die Feuerwehr fährt mit Sirenengeheul vorbei. Nicht mal das. Der Regen hat aufgehört. Am Horizont ein Regenbogen. Ich zerbreche noch ein paar Gläser, ein Geschenk deiner Mutter, dann gehe ich ins Bett.

Aufwärm-Schreibübung zum Stichwort „Lärm“

Erinnerung

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

Dieser Text war eine Aufwärmübung und ich habe mich von zwei Sätzen aus Christoph Ransmayrs „Die letzte Welt“ inspirieren lassen:
„Und Echo kannte viele Geheimnisse der eisernen Stadt, […].“
„Nun senkte sich der Blick, wandte sich ab, dorthin, wo eine Frau an eine Tür gelehnt stand.“


Er war wie einer von vielen in diese Stadt gekommen – ohne Habseligkeiten, ohne Bleibe, ohne Erinnerung an eine Zeit davor. Natürlich hatte es ein Leben davor gegeben. Ein Leben außerhalb dieser rußgeschwärzten Mauern, dieses stinkenden, erdrückenden Daseins, ohne eine Ahnung von Sonnenlicht, klarer Luft und der Weite schneebedeckter Felder. Doch dieses Leben, dieses Davor, war zu schmerzhaft, als das Echo wagte, sich daran zu erinnern. Und deswegen hatte er das Davor abgestreift wie einen abgetragenen Mantel, hatte alles aus seinen Erinnerungen gelöscht, auch das kleinste Fitzelchen von Andenken vergraben, wortwörtlich, in einer schlammigen Kuhle am Wegesrand, bevor er seinen Fuß in diese Stadt gesetzt hatte. Nur seinen Namen hatte er behalten und er bereute es immer häufiger. Denn sein Name war mittlerweile bekannt in der Stadt unter den Leuten, besonders den armen Schluckern, die auf Straßenecken hockten und auf den Gehsteigen vor den Tavernen, in der Hoffnung, zu Ladenschluss etwas abzukommen. Einen halben Becher Wein, ein übrig gelassenes Stück Brot. Diese Menschen waren es, die Echos Namen nunmehr kannten und sie trugen ihn weiter und weiter durch die Straßen der Verlierer. Auch die Dirnen kannten ihn und sie riefen ihn, wenn er an ihnen vorbeiging. Riefen ihn mit ihren kehligen, kratzigen Stimmen, aber manchmal auch lieblich und sanft, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Und dann war es wie ein Windhauch an seiner Wange, wie zarte kühle Finger, die seinen Nacken entlang streiften, wie der Duft von Rosen. Dann war es, dass er bereute, seinen Namen behalten zu haben, denn die Erinnerung verschluckte ihn plötzlich wie ein unergründliches schwarzes Loch.

 

Wortspiele, die nächste

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

Aus zwei zusammengesetzten Wörtern wird ein neues Wort, dann 15 Minuten Schreibzeit. Heute: Aus Trockenhaube und Stauwarnung wird die…

Stauhaube

Erinnern Sie sich noch? Bevor unsere Mobilität gänzlich von dem öffentlichen Nah- und Fernverkehr übernommen wurde, gab es Automobile, mit denen Menschen in der Regel einzeln von A nach B fuhren. Etwa 2,5 m breit und 4 bis 5 m lang waren diese Automobile und hundert, nein tausende waren davon zu den Stoßzeiten in unseren Städten unterwegs. In der Urlaubssaison standen sie Stoßstange an Stoßstange auf den Autobahnen von Berlin bis an die Ostsee und von München bis Tirol. Stau nannte man das und es war äußerst beliebt: Menschen verbrachten durchschnittlich 120 Stunden eines Lebensjahres in diesen Staus. Musestunden, die sie sich nun zurückholen können!
Simon Backenthaler, selbsternannter Virtual-Reality-Gott, hat sie erfunden: Die Stauhaube! Einfach aufsetzen und Sie sind mittendrin im größten Stau Ihres Lebens.
Und Sie dürfen mitbestimmen: In welchem Auto möchten Sie Ihren Stau verbringen? Ist Sommer oder Winter? Sind Sie allein oder haben Sie drei quengelnde Kinder auf der Rückbank oder Streit mit ihrer Frau auf dem Beifahrersitz? Funktioniert die Klimaanlage? Fahren Sie Automatik oder mit antikem Schaltknüppel, Sie wissen schon: Der Krampf im linken Bein von stundenlangem Stop & Go? Haben Sie Musik dabei und wenn ja, mögen Sie sie?
Auch ihre Umgebung können Sie beeinflussen: Steht vor Ihnen ein Bus, ein Porsche oder ein Trabant? Staut es sich im Tunnel oder genießen Sie die Aussicht am Brenner in den Österreichischen Alpen?
Dank der kopfumschließenden Haube können Sie während Ihrer gewonnenen Zeit die würzigen Abgase stehender Autos riechen, genau wie den herben Duft in der Hitze schmelzenden Asphalts! Auf Knopfdruck wird Ihr Vordermann aktiv und erläutert Ihnen laut und gestenreich seine Gedanken zu Ihrer gemeinsamen misslichen Lage. Aber schließen Sie nicht zu feste Freundschaften, das alles ist nur Virtual Reality und Sie müssen bald wieder zurück… oder auch nicht, denn mal ehrlich: Ist Ihr echtes Leben nicht auch nur ein ewiger Stillstand? Und da können Sie sich nicht mal die Umgebung aussuchen…

 

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Wiedersehen

von Jana, Lesezeit < 5 Minuten

Ich erkannte ihn schon von Weitem. Es war drei Monate her, aber es hätten auch dreißig Jahre sein können, er hatte sich kaum verändert. Diesselbe gebeugte Haltung („Mortimer, verdammt, sitz gerade!“), das zur Seite gestellte Bein, weil ihn das beim Warten angeblich eleganter wirken ließ. Der schlabbrige Pulli, das chaotische zur Seite stehende Haar, denn es sollte nicht zu elegant wirken. Er trug jetzt eine Brille, runde Gläser, silbernes Metallgestell. Als ich näher kam, sah ich die Schlieren darauf. Wie konnte er überhaupt etwas da durch sehen?
„Hey Mort“, begrüßte ich ihn und er lächelte schwach.
„Hey Sis.“
Er tat nicht dergleichen, also ging ich auf ihn zu, schlang die Arme um ihn und drückte ihn an mich. Er schnaufte.
„Hey, ganz ruhig, heftiges Umarmen im Eingangsbereich verboten!“
„Sagt wer?“
„Sage ich, du machst meine ganze Inszenierung kaputt!“
„Die da wäre?“
„Na, der unnahbare, exzentrische, aber unglaublich erfolgreiche Schriftsteller aus New York!“
„Du hast etwas veröffentlicht?“
„Nein, aber das spielt doch keine Rolle! Bitte, lass mich nicht auffliegen!“
Ich lachte, aber würde ihm den Gefallen tun. Ich war genau so ungern hier wie er. Aber es war unmöglich nicht hier zu sein, beim sechzigsten Geburtstag unseres Vaters, ein wohl inszeniertes Spektakel für Verwandschaft, Freunde, Geschäftspartner und den halben Ort. Die einflussreiche Hälfte natürlich.
Ich rechnete nicht damit, dass Mortimer zu seiner Karriere befragt werden würde, zumindest nicht von unserem Vater, dem einzigen hier, für den er diese Inszenierung aufgebaut hatte. Unser Vater hatte eines Nachmittags erklärt, die Fähigkeiten seines Sohnes, irgendetwas aus seinem Leben zu machen, würden in eine Streichholzschachtel passen. Danach hatten die beiden nicht mehr miteinander gesprochen.
Dabei konnte mein Vater gut sprechen. Er tat es gerade wieder, das Glas Champagner in der Hand, vielen Menschen zuprostend, nur nicht seinen eigenen Kindern. Ich fragte mich, ob er uns überhaupt eingeladen hatte oder ob wir das allein unserer Mutter zu verdanken hatten. Mortimer zermalmte Erdnüsse, die als Deko auf dem Tisch lagen.
„Das oder ich erschlage ihn“, murmelte er auf meinen fragenden Blick hin.
„Vergiss ihn doch mal“, erwiderte ich. Er war nicht wichtig. Nicht für mich, nicht für Mortimer, doch mein kleiner Bruder schüttelte den Kopf.
„Es geht nicht mit ihm und nicht ohne ihn“, erklärte er bitter.
Es war die Geschichte seines Lebens und sie würde sich erst Jahre später umschreiben.

Schreibübung – Text inspiriert von Buchtiteln
Erdnüsse. Totschlagen (Ruth Schweikert); Was in die Streichholzschachtel passte (Walle Sayer); Heftiges Umarmen im Eingangsbereich der Pension verboten (Mamen Sanchez)

Ines, ohne Herzchen

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

Als er endlich allein ist, nimmt er das Smartphone und scrollt durch die Kontakte, bis er ihren Namen liest. „Ines“. Simpel, ohne Herzchen, ohne Schnickschnack. Nur Ines. Wüsste sie es, es würde ihr nicht gefallen.

„Das ist … fantastisch“, hatte sie gesagt. Ja, er hatte die Pause bemerkt, auch die verkrampften Gesichtszüge, das starre, halbe Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. Augen, die ganz knapp seinem Blick auswichen. Die auf einen Punkt direkt neben seinem linken Ohr gerichtet waren. Er hatte es bemerkt und er hätte etwas sagen müssen. Nur, was hätte er sagen müssen?

Er braucht den Auftrag, er kann nicht „Nein“ sagen. Und wenn sich aus dem Auftrag ein langfristiger Job entwickelt, wird er ebenfalls nicht „Nein“ sagen können. Denn er braucht ein Einkommen, jeder Mensch braucht ein Einkommen. Und wenn die Agentur in Berlin sitzt und das heißt, er müsste umziehen, würde er umziehen. „Fotografieren kannst du überall.“ Mit diesem Satz hatte seine Mutter endlich nachgegeben, als er versucht hatte, ihre Unterstützung für seinen Berufswunsch zu bekommen. Und es stimmt, er kann seinen Job überall ausüben. Das bedeutet aber eben auch, dass er seinen Job überall ausüben muss. Laut Duden heißt „überall“ „an allen Orten“. Direkt dahinter steht: „Überall und nirgends zu Hause sein“ – vielleicht hätte Ines das lesen sollen, bevor….

„Ich freue mich für dich“, hatte sie gesagt, als er ihr beim Abendessen von dem Angebot erzählte. Ihr Gesichtsausdruck hatte alles gesagt, nur das nicht. Laut Duden bedeutet „freuen“ „voller Fröhlichkeit über etwas sein“. Fröhlichkeit verbindet er mit Lachen, mit Leichtigkeit, mit Tanzen. Ines hatte nur dagesessen, ihr Glas von der linken Seite des Tellers auf die rechte und wieder zurück geschoben. Dann hatte sie den Satz wiederholt, das Glas zurück auf die rechte Seite des Tellers geführt, es angehoben, einen Schluck getrunken und es zurückgestellt. Dann war sie aufgestanden und hatte das Zimmer verlassen. Als er sie nach dem Abwasch suchte, stellte er fest, dass sie auch die Wohnung verlassen hatte. Ohne Nachricht, ohne Abschied.

„Aber es ist eine fantastische Chance und sie sollte sich für dich freuen!“, hatte ihm Jörg mit Nachdruck versichert. Jörg hatte vermutlich Recht. Er hatte immer Recht.
Genau wie Andreas, der beinahe wortwörtlich das Gleiche sagte inklusive der Betonungen, so als hätte er Jörg auf Schallplatte und würde den Satz nur abspielen. Er sagt es nochmal, während er das Bettzeug bezieht, in dem Phillip diese Nacht auf dem Sofa schlafen wird, in Andreas` Wohnung, in Berlin.

Eine fantastische Chance. Fantastisch. Im Duden steht unter „fantastisch“ „von Illusionen beherrscht“ und weiter „außerhalb der Wirklichkeit“.
Er drückt auf den Namen ohne Herzchen, ohne Schnickschnack, nur „Ines“. Laut Duden ist Liebe eine starke Bindung an einen Menschen, zusätzlich „verbunden mit dem Wunsch nach Zusammensein“. Zweifaches Gebundensein. Kein Überall, ein Hier. Nach nur einem Klingeln legt er auf.

PS. Dieser Text ist in einem Schreibkurs zum Thema „Schreibzeit vs. Erzählzeit“ entstanden. Es ging darum möglichst viel mit der Zeit zu spielen, also dehnen, straffen, Rück- und Vorblenden…

Heimkehr

von Jana, Lesezeit ca. 2 Minuten

Er war zu lange nicht mehr hier gewesen. Die niedrigen grauen Häuser, gedrängt und zerknittert wie ein zusammengeknülltes Taschentuch. Weggeworfen. Vergessen mit all ihren Erinnerungen. War da etwas gewesen? Etwas, das „gut“ sagte? Etwas, das nach Kindheit schmeckte? Nach Geborgenheit roch? Sich wie Ankommen anfühlte? Vertraut im Inneren nachhallte? Nein, nichts.
Keine Szene, die ein Lächeln in sein Gesicht zauberte. Auch keine, die Schmerz, Verzweiflung oder Wut mit sich brachte.
Könnte er nur hier oben stehen, auf die verlassene, weggeworfene Heimat eines Mannes schauen, der er selbst gewesen war und seine Wut hinausschreien: Laut, roh, verzweifelt.
Könnte er mit heraufbeschworenen Bildern glücklicher Tage den sterbenden Heimstätten Leben einhauchen, nur für einen sinnlosen, vergänglichen Moment.
Alles wäre besser als dieses Nichts, das sie einander spiegelten und das sich fortsetzte, bis ein Abgrund in einen anderen schaute. Selbst Schmerz wäre besser. Nein, nicht besser. Anders. Echter. Klarer. Fassbarer. Ein fassbarer Schmerz, ein Stachel, den er benennen und herausziehen könnte.
Er starrte in den Abgrund, der Abgrund starrte zurück. Ein zusammengeknülltes Taschentuch ohne strategische Bedeutung. Er wandte sich um.
„Brennt es nieder!“, befahl er.

P.S. Dieser Text ist entstanden, während ich „White Noise White Heat“ von Elbow in Dauerschleife gehört habe.

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Freude

von Jana, Lesezeit ca. 2 Minuten

Freude schöner Götterfunken. Freue dich, Christkind kommt bald. Oh, welche Freude zu diesem herrlichen Anlass. Freude. Freude fühlt sich beim Sprechen komisch an. („Eu“ erinnert mich gerade an „oink, oink“.) Man muss den Mund verziehen und die Zunge fest an die oberen, hinteren Zähne pressen, um sich ausreichend freuen zu können. Dafür braucht es Spannung, regelrecht Anspannung.

Es heißt ja, Texte, die viele „i“ innehaben lesen sich leichter – in Freude ist kein „i“. (In freudig immerhin.) In „happy“ ist ein „i“, wenigstens beim Sprechen. Die Zunge geht auch an die oberen Zähne, aber mit weniger Anstrengung, mehr so bereit sein als voller Einsatz. Außerdem dürfen die Lippen putzige Ploppgeräusche machen.

Glücklich funktioniert ebenso. Zuerst bildet der Mund einen Kelch, in dem aller Ärger, alle Spannung auf einmal nach unten in die Tiefen des Rachens purzeln. Die Lippen spitzen sich als wollten sie jemanden küssen. Und im zweiten Akt, dem „lich“, verzieht sich die ganze Partie zu einem Lächeln. (Ich hoffe, ihr probiert das gerade aus und lächelt euren Bildschirm an!)

Glücklich. Freude. Vielleicht braucht es die Freude für die großen Anlässe. Dann, wenn so viel Tamtam drumherum ist, dass man automatisch angespannt ist. Dann freut man sich erstmal, schüttelt Hände und nickt und dann abends, wenn man zu Hause ist, lässt man sich auf sein Sofa und in die Arme eines lieben Menschen fallen, lächelt – und ist glücklich.

P.S.: Eine liebe Freundin merkte an, dass in Freude sehr wohl ein „i“ ist, lautmalerisch ist es ja eine „froide“. Da war der Text allerdings schon fertig. Und es ist ja kein echtes „i“, also… bis nächste Woche!

Schreibübung – der auktoriale Erzähler

von Carmen

Übung 1

Vorgabe:
Einen Text schreiben mit einer auktorialen Erzählsituation, der Auskunft gibt über eine Person, die sich in einem Park aufhält und dort etwas ungewöhnliches tut.
Zeit 25 Minuten

Fragen:
Was will diese Person?
Wie geht es ihr?
Was tut sie?

Da saß Claudia nun auf ihrer Picknickdecke, völlig allein und bis auf die Haut durchnässt. Mit verbissenem Blick konzentrierte sie sich auf die blaue Luftballon-Schlange in ihren Händen, die aufgrund dieses wolkenbruchartigen Regens ganz sicher niemals aufgepumpt werden würde.

Es war eine Verzweiflungstat gewesen, als Claudia mit Picknickdecke, Luftpumpe und einer Tüte Luftballon-Schlangen aufgebrochen war, um – wie sie sagte – im Park ein paar Kindern ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern nach dieser dunklen Zeit des Zuhause-Herumsitzens. In Wahrheit ging es ihr natürlich nicht darum, die Kinder glücklich zu machen. Nein, sie brauchte das Lachen der Kinder, um ihre eigene Einsamkeit, die sie in den eigenen vier Wänden fast in den Wahnsinn getrieben hatte, für einen kurzen Moment vergessen zu können. Die schwarz gefärbten Wolken, unheilschwanger über den Park wachend, ignorierte sie. Was sie nicht sah, war nicht da. Die Logik einer Fünfjährigen, die wir alle kennen und aus der wir alle irgendwann herauswachsen.

Aber Claudia lief auf dem Zahnfleisch, sie brauchte etwas Normalität, jetzt!, sofort!, und flüchtete sich in die wohltuenden, einfachen, kindlichen Denkweisen, die bei uns Erwachsenen so selten funktionieren.
Und so finden wir Claudia auf der Picknickdecke im Park, sich mit letzter Kraft an der naiven Logik festhaltend. Einen Regen, den sie ignorierte, würde gleich aufhören. Die Kinder würden kommen und begeistert Luftballon-Hunde, -Mäuse, Häschen und -Blumen verlangen. Sie würden entzückt kreischen, wenn sie ein Tierchen ergattern konnten und gleich ein weiteres verlangen, lügen und behaupten, es sei fürs Geschwisterchen zuhause obwohl sie es selbst behalten wollten und Claudia würde die Luftballons gar nicht so schnell aufpumpen oder drehen können. Einige würden im Eifer des Gefechts platzen, die Kinder würden erschrecken und dann wieder lachen.
Aber es sollte nicht so sein. Es regnete noch bis spät in die Nacht an jenem Tag. Claudia blieb stark und versuchte ganze 45 Minuten, diese erste blaue Luftballon-Schlange aufzupumpen, doch dann gab sie doch nach und irgendwann mischte sich der Regen mit Claudias Tränen.

Übung 2

Vorgabe:
Den Text aus Übung 1 umschreiben in einer anderen Variante der
auktorialen Erzählsituation.

Gewählte Situation: Der ausschweifende Erzähler

Da saß Claudia nun auf ihrer Picknickdecke, der rot karrierten, die sie sich damals an einem helleren, besseren Tag in diesem kleinen bunten Laden mit der klingelnden Tür in der Schillerstraße gekauft hatte, direkt gegenüber der Wohnung ihres Freundes Max, der nun ihr Ex-Freund war. Immer mal wieder wollte sie zurückgehen in diesen Laden und hat es doch nicht getan, so wie sie grundsätzlich kaum vor die Tür ging, weil sie ja dann hätte ihm begegnen können. Dabei war Max doch schon seit mehreren Monaten umgezogen.
Doch Claudia hatte sich abgekapselt und die gemeinsamen Freunde ausgeschlossen, die Max kannten und an Max erinnerten. Sie hatte Geburtstage und Grillparties verpasst, nichts mitbekommen von Ollis Unfall, der in der Folge seinen Job bei der Rückversicherung aufgegeben hatte und Hausmann geworden war.
Dabei hätte ein Anruf genügt. Wusstest du schon? Hast du gehört? Der Max, wart ihr nicht mal zusammen?
Was natürlich alle wussten und wo alle nur so taten, als ob sie es nicht wüssten, um der Tatsache keine Relevanz zu verleihen.

Da saß Claudia nun in ihrer selbst verschuldeten Einsamkeit auf ihrer Picknickdecke, auf der sich tiefe Pfützen bildeten, und konzentrierte sich auf die blaue Luftballonschlange. Sie hatte blau immer gemocht, blau wie die karibische See, blau wie der perfekte Himmel, nicht so wie heute, wo er so eine nebelverhangene, regentriefende graue Unfarbe trug, die Claudia an Maxens Augen erinnerte, trüb und traurig. Das hatte seinen Augen immer diese Tiefe gegeben, wie sie fand. In Wahrheit hatte Max hellbraune Augen gehabt und vielleicht war die Erinnerung an die falsche Farbe genauso wie der Fakt, dass Claudia trotz Liebeskummer und Starkregen mit der blauen Luftballonschlange im Park saß, ein erstes Zeichen dafür, dass sie auf einem guten Weg war.
Auch wenn sie es an diesem und an den folgenden Tagen nicht schaffte, aus dem Luftballon einen Elefanten zu drehen und am Abend wieder einmal weinend einschlief, so betrat sie doch am Ende der Woche den kleinen Laden mit der klingelnden Tür in der Schillerstraße, wo sie Yves begegnete, einem  ewigen Studenten mit blauen – wirklich blauen – Augen, der sich dort als Verkäufer etwas dazuverdiente, um sich das Ticket für das dreitägige Mittelalterfestival im Sommer leisten zu können. Dieses Mittelalterfestival, auf das ihn Claudia begleiten sollte. Aber das, meine Lieben, wird eine andere Geschichte.

 

2

Wortspiele

Was machen Autorinnen, wenn sie nicht mehr weiter wissen? Ich puste mir ganz gerne den Kopf frei mit lustigen Schreibübungen. Hier mal ein paar Beispiele, was dabei so herauskommen kann. Die Übung habe ich in einem Kurs bei Julia Hagemann kennen- und liebengelernt. Viel Spaß!

Schreibübung – zwei zusammengesetzte Hauptwörter neu kombinieren, dann drauf los schreiben…
Wörter: Generalsekretär / Verkehrsknoten
neues Wort: Verkehrssekretär
Schreibzeit: 4 Minuten

Für Sigmund Igebert war es der größte Tag in seinem Leben. Er hätte nicht stolzer sein können. Jahrelang hatte er sich aufgeopfert, wichtigen und weniger wichtigen Menschen geschmeichelt und im wahrsten Sinne des Wortes die Schuhe geleckt. „Sei immer gründlich“, hatte seine Mutter ihm eingebläut. „Man kann nie wissen!“

Er wusste, es gab viele, die über ihn spotteten, doch er wusste auch, heute würde ihnen das Grinsen vergehen. Heute da er zum Verkehrssekretär ernannt werden würde. Ja, der Titel klang nicht wie General oder Major, aber tatsächlich bekleidete er ab heute eines der wichtigsten Ämter im Staat. Denn als Verkehrssekretär bestimmte er, wer im Land mit wem intim verkehren durfte. Die Zukunft der Bürger lag in seinen Händen, und ja, er würde sich rächen!

Schreibübung – zwei zusammengesetzte Hauptwörter neu kombinieren, dann drauf los schreiben…
Wörter: Stempelkissen / Spielregeln
neues Wort: Stempelregeln
Schreibzeit: 5 Minuten

Als Jo ihren neuen Job in der behördlichen Oberbehörde antrat, hatte sie damit gerechnet, dass vieles anders werden würde. Die behördliche Oberbehörde zur Überprüfung unterer Behörden war berühmt für ihre strengen Hierarchien, genau geregelten Dienstabläufe und ihre Detailversessenheit. Doch Jo glaubte, damit schon irgendwie fertig zu werden. Sie hielt sich für äußerst anpassungsfähig und die behördliche Oberbehörde zahlte gut.

Dann jedoch machte ihr Chef, Ernst Müller, sie mit den Stempelregeln vertraut.

„Regeln fürs Stempeln?“, sie musste sich verhört haben.

„Nun, natürlich. Sie wissen, gerade beim Stempeln kann es bei Unachtsamkeit zu einer hohen Ressourcenverschwendung und vielen Missverständnissen kommen. Doch keine Sorge, mein 23-Punkt-Plan wird jeden Fehler verhindern!

Punkt eins: Halten Sie in einem Aktenvermerk schriftlich fest, was genau Sie zu welchem Zweck stempeln wollen. Punkt 2:…“

Jo kündigte etwa eine Stunde später. Vorher ließ Ernst Müller sie nicht zu Wort kommen.


Du willst mehr über Jo und undurchsichtige Bürolabyrinthe erfahren?
Dann empfehle ich Dir „Über Zitronenfalter“. Lies los!

Lieber noch mehr mehr Wortspiele? Kommt sofort!

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