Geschichten. Überall und Jederzeit

Kategorie: Gedankensplitter (Seite 2 von 2)

Wortspiele, die Zweite

Ein neu zusammengesetztes Wort, fünf Minuten Zeit, zwei Texte:

Gesamtunterrock

Der Gesamtunterrock ist das neueste Werk des Designers Karl Feldlager und soll die Modewelt revolutionieren. Der „Unterrock für Alle und Alles“ kleidet nicht nur Damen, Herren und Kinder jeder Größe und Statur. Nein! Dank revolutionärer Stretchtechnik kann der Unterrock auch als Zelt oder Sofabezug hergenommen werden. Integrierte Knöpfe und Bänder machen ihn zur Handtasche. Feuerfest kann er auch als Bratbeutel genommen werden. Unzerstörbar ersetzt er sogar zerplatzte Reifen. Ein Ballonflug ist geplant!

Warum dann als Unterrock vermarkten? Nun, erklärte Karl Feldlager. Er wollte zeigen, dass man den Dingen mehr Tiefe geben muss. Auch die kleinen Dinge im Leben können große Bedeutung haben.

von Jana

95,7 – Gesamtunter-Rock-Radio. Die Radiostation für die wahren Musikfreunde. Nein, wir bringen kein Hard-Rock, kein Roll-Rock, kein Classic Rock.
Wir gehen tiefer, dorthin, wo es schmerzt! Man sagt, die Musik heilt alle Wunden? Mit Musik überwindet man schwierige Zeiten? Dann habt ihr noch nie Gesamtunter-Rock gehört.

Bei uns geht es um den Sinn in der Musik. Wir geben Euch einen Sinn. Einen Sinn im Leben. Im Sein. Hört zu. Hört hin. Ihr werdet nie wieder derselbe Mensch sein. Versprochen!
Nur hier bei 95,7 – Gesamtunter-Rock-Radio.

Von Carmen

Mehr Wortspiele gibt es hier.

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Schreibübung – der auktoriale Erzähler

von Carmen

Übung 1

Vorgabe:
Einen Text schreiben mit einer auktorialen Erzählsituation, der Auskunft gibt über eine Person, die sich in einem Park aufhält und dort etwas ungewöhnliches tut.
Zeit 25 Minuten

Fragen:
Was will diese Person?
Wie geht es ihr?
Was tut sie?

Da saß Claudia nun auf ihrer Picknickdecke, völlig allein und bis auf die Haut durchnässt. Mit verbissenem Blick konzentrierte sie sich auf die blaue Luftballon-Schlange in ihren Händen, die aufgrund dieses wolkenbruchartigen Regens ganz sicher niemals aufgepumpt werden würde.

Es war eine Verzweiflungstat gewesen, als Claudia mit Picknickdecke, Luftpumpe und einer Tüte Luftballon-Schlangen aufgebrochen war, um – wie sie sagte – im Park ein paar Kindern ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern nach dieser dunklen Zeit des Zuhause-Herumsitzens. In Wahrheit ging es ihr natürlich nicht darum, die Kinder glücklich zu machen. Nein, sie brauchte das Lachen der Kinder, um ihre eigene Einsamkeit, die sie in den eigenen vier Wänden fast in den Wahnsinn getrieben hatte, für einen kurzen Moment vergessen zu können. Die schwarz gefärbten Wolken, unheilschwanger über den Park wachend, ignorierte sie. Was sie nicht sah, war nicht da. Die Logik einer Fünfjährigen, die wir alle kennen und aus der wir alle irgendwann herauswachsen.

Aber Claudia lief auf dem Zahnfleisch, sie brauchte etwas Normalität, jetzt!, sofort!, und flüchtete sich in die wohltuenden, einfachen, kindlichen Denkweisen, die bei uns Erwachsenen so selten funktionieren.
Und so finden wir Claudia auf der Picknickdecke im Park, sich mit letzter Kraft an der naiven Logik festhaltend. Einen Regen, den sie ignorierte, würde gleich aufhören. Die Kinder würden kommen und begeistert Luftballon-Hunde, -Mäuse, Häschen und -Blumen verlangen. Sie würden entzückt kreischen, wenn sie ein Tierchen ergattern konnten und gleich ein weiteres verlangen, lügen und behaupten, es sei fürs Geschwisterchen zuhause obwohl sie es selbst behalten wollten und Claudia würde die Luftballons gar nicht so schnell aufpumpen oder drehen können. Einige würden im Eifer des Gefechts platzen, die Kinder würden erschrecken und dann wieder lachen.
Aber es sollte nicht so sein. Es regnete noch bis spät in die Nacht an jenem Tag. Claudia blieb stark und versuchte ganze 45 Minuten, diese erste blaue Luftballon-Schlange aufzupumpen, doch dann gab sie doch nach und irgendwann mischte sich der Regen mit Claudias Tränen.

Übung 2

Vorgabe:
Den Text aus Übung 1 umschreiben in einer anderen Variante der
auktorialen Erzählsituation.

Gewählte Situation: Der ausschweifende Erzähler

Da saß Claudia nun auf ihrer Picknickdecke, der rot karrierten, die sie sich damals an einem helleren, besseren Tag in diesem kleinen bunten Laden mit der klingelnden Tür in der Schillerstraße gekauft hatte, direkt gegenüber der Wohnung ihres Freundes Max, der nun ihr Ex-Freund war. Immer mal wieder wollte sie zurückgehen in diesen Laden und hat es doch nicht getan, so wie sie grundsätzlich kaum vor die Tür ging, weil sie ja dann hätte ihm begegnen können. Dabei war Max doch schon seit mehreren Monaten umgezogen.
Doch Claudia hatte sich abgekapselt und die gemeinsamen Freunde ausgeschlossen, die Max kannten und an Max erinnerten. Sie hatte Geburtstage und Grillparties verpasst, nichts mitbekommen von Ollis Unfall, der in der Folge seinen Job bei der Rückversicherung aufgegeben hatte und Hausmann geworden war.
Dabei hätte ein Anruf genügt. Wusstest du schon? Hast du gehört? Der Max, wart ihr nicht mal zusammen?
Was natürlich alle wussten und wo alle nur so taten, als ob sie es nicht wüssten, um der Tatsache keine Relevanz zu verleihen.

Da saß Claudia nun in ihrer selbst verschuldeten Einsamkeit auf ihrer Picknickdecke, auf der sich tiefe Pfützen bildeten, und konzentrierte sich auf die blaue Luftballonschlange. Sie hatte blau immer gemocht, blau wie die karibische See, blau wie der perfekte Himmel, nicht so wie heute, wo er so eine nebelverhangene, regentriefende graue Unfarbe trug, die Claudia an Maxens Augen erinnerte, trüb und traurig. Das hatte seinen Augen immer diese Tiefe gegeben, wie sie fand. In Wahrheit hatte Max hellbraune Augen gehabt und vielleicht war die Erinnerung an die falsche Farbe genauso wie der Fakt, dass Claudia trotz Liebeskummer und Starkregen mit der blauen Luftballonschlange im Park saß, ein erstes Zeichen dafür, dass sie auf einem guten Weg war.
Auch wenn sie es an diesem und an den folgenden Tagen nicht schaffte, aus dem Luftballon einen Elefanten zu drehen und am Abend wieder einmal weinend einschlief, so betrat sie doch am Ende der Woche den kleinen Laden mit der klingelnden Tür in der Schillerstraße, wo sie Yves begegnete, einem  ewigen Studenten mit blauen – wirklich blauen – Augen, der sich dort als Verkäufer etwas dazuverdiente, um sich das Ticket für das dreitägige Mittelalterfestival im Sommer leisten zu können. Dieses Mittelalterfestival, auf das ihn Claudia begleiten sollte. Aber das, meine Lieben, wird eine andere Geschichte.

 

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Wortspiele

Was machen Autorinnen, wenn sie nicht mehr weiter wissen? Ich puste mir ganz gerne den Kopf frei mit lustigen Schreibübungen. Hier mal ein paar Beispiele, was dabei so herauskommen kann. Die Übung habe ich in einem Kurs bei Julia Hagemann kennen- und liebengelernt. Viel Spaß!

Schreibübung – zwei zusammengesetzte Hauptwörter neu kombinieren, dann drauf los schreiben…
Wörter: Generalsekretär / Verkehrsknoten
neues Wort: Verkehrssekretär
Schreibzeit: 4 Minuten

Für Sigmund Igebert war es der größte Tag in seinem Leben. Er hätte nicht stolzer sein können. Jahrelang hatte er sich aufgeopfert, wichtigen und weniger wichtigen Menschen geschmeichelt und im wahrsten Sinne des Wortes die Schuhe geleckt. „Sei immer gründlich“, hatte seine Mutter ihm eingebläut. „Man kann nie wissen!“

Er wusste, es gab viele, die über ihn spotteten, doch er wusste auch, heute würde ihnen das Grinsen vergehen. Heute da er zum Verkehrssekretär ernannt werden würde. Ja, der Titel klang nicht wie General oder Major, aber tatsächlich bekleidete er ab heute eines der wichtigsten Ämter im Staat. Denn als Verkehrssekretär bestimmte er, wer im Land mit wem intim verkehren durfte. Die Zukunft der Bürger lag in seinen Händen, und ja, er würde sich rächen!

Schreibübung – zwei zusammengesetzte Hauptwörter neu kombinieren, dann drauf los schreiben…
Wörter: Stempelkissen / Spielregeln
neues Wort: Stempelregeln
Schreibzeit: 5 Minuten

Als Jo ihren neuen Job in der behördlichen Oberbehörde antrat, hatte sie damit gerechnet, dass vieles anders werden würde. Die behördliche Oberbehörde zur Überprüfung unterer Behörden war berühmt für ihre strengen Hierarchien, genau geregelten Dienstabläufe und ihre Detailversessenheit. Doch Jo glaubte, damit schon irgendwie fertig zu werden. Sie hielt sich für äußerst anpassungsfähig und die behördliche Oberbehörde zahlte gut.

Dann jedoch machte ihr Chef, Ernst Müller, sie mit den Stempelregeln vertraut.

„Regeln fürs Stempeln?“, sie musste sich verhört haben.

„Nun, natürlich. Sie wissen, gerade beim Stempeln kann es bei Unachtsamkeit zu einer hohen Ressourcenverschwendung und vielen Missverständnissen kommen. Doch keine Sorge, mein 23-Punkt-Plan wird jeden Fehler verhindern!

Punkt eins: Halten Sie in einem Aktenvermerk schriftlich fest, was genau Sie zu welchem Zweck stempeln wollen. Punkt 2:…“

Jo kündigte etwa eine Stunde später. Vorher ließ Ernst Müller sie nicht zu Wort kommen.


Du willst mehr über Jo und undurchsichtige Bürolabyrinthe erfahren?
Dann empfehle ich Dir „Über Zitronenfalter“. Lies los!

Lieber noch mehr mehr Wortspiele? Kommt sofort!

Morgens vor Corona…

von Jana, Lesezeit ca. 3 Minuten

Der Bus erreichte mit leichtem Schlingern die Haltestelle und bremste ab. Mühsam hatte sie sich bis zur Tür gedrängt, sah sich jetzt dem Pulk Pendler auf dem Gehsteig gegenüber.

Ja, natürlich, alle rein mit euch. Und bloß nicht auf Höflichkeit achten… oder Physik. Wo ein Körper ist, können auch mal fünf sein. Erklärt sich überhaupt nicht von selbst. Scheiß` Sci-Fi-Serien auf Netflix – Leute, das ist nicht das echte Leben! Ehrlich, aua! Ja, ich würde mich auch gerne sonstwohin beamen, könnt ihr mir glauben. War eigentliche eine bescheuerte Idee, alle alten Star Trek-Serien gleichzeitig anzufangen, einfach zu viele… genau. Wie dieser Haufen Idioten hier. Sch…! Erst aus-, dann einsteigen! Aus. Ein. Wie beim Atmen, aber das würdet ihr wahrscheinlich auch nicht hinbekommen, wenns nicht angeboren wäre. Da hat der komische Typ da ja nochmal Glück gehabt. Wie der Tod auf Latschen! Hat der überhaupt im letzten Monat geschlafen? Oder geduscht? Ekelhaft. Bloß nicht atmen… Schlafen! Bett! Das wär toll! Jetzt. Sofort. Ich muss endlich das Schlafzimmer streichen. Ist schon monatelang auf der To-Do-Liste. Nein, wenn du mir mit dem Kinderwagen über den Fuß fährst, geht es auch nicht schneller! Und bitte den Kaffee direkt über meine Jacke, heiß und fleckig, mein Lieblingsdesign. Design. Ja, Farben fürs Schlafzimmer – ist gar nicht so einfach. Malve? Rose? Irgendwas helles. Nicht zu viel. Mein Gott, hat der im Parfüm gebadet? Aber in dem seiner Oma.

Sie musste würgen. Sie fuhr die Ellenbogen aus und drückte sich durch die blind in den Bus drängende Menge. Endlich konnte sie wieder atmen.

Schreibübung zum Thema Gedankenstrom

Bus fahren in der Rushhour zu Corona-Zeiten? Fühlt sich so an: Morgens während Corona (1).

Der Duft von wilden Rosen

Erinnert ihr euch noch an unser Adventsspiel? Damals haben wir 
5  Wörter vorgeschlagen, um daraus eine Geschichte zu basteln.
Marienkäfer, Petersilienhochzeit, Luftpolsterfolie, Massenmörder, Platzhalter
Eine mögliche Geschichte geht so:

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

Ihr Lieben, das ist keine Kindergeschichte, sie steht mit Absicht in der Kategorie „Mord und Totschlag“…

 

Er war ein Künstler, ja, das war er. Er hatte Respekt vor seinen Werken. Jedes einzelne hatte er mit Bedacht erschaffen, jedes Detail wohl überlegt. Sie alle erzählten eine Geschichte, ihre Geschichte. Er hatte sie beobachtet, tage-, wochen-, monatelang. Hatte sie begleitet, überall hin, ihren Geruch eingeatmet, während er neben ihnen in der Bahn mit zur Arbeit fuhr. Hatte gesehen, wie ihr Adamsapfel sich bewegte, wenn sie tranken, hatte das kurze Dehnen der Haut bewundert, als er am Tisch neben ihnen saß. Er hetzte mit ihnen durch die Straßen, wandte sich auf dem Fußweg ab, wenn sie sich noch einmal umdrehten, die Tür schon in der einen, den Schlüssel in der anderen Hand. Sie sollten sich sicher fühlen. Sie sollten sich wohlfühlen. Er kümmerte sich um seine Werke. Er studierte ihre Gewohnheiten, ihre Kleidung, ihre Gesten, ihre Mimik – er studierte alles, denn er wollte, dass sie sich präsentieren konnten so, wie sie waren. Nie hätte er gewagt, ihnen eine Geschichte aufzuzwingen. Sie sollten sie selbst sein, präpariert für die Ewigkeit. Er wickelte sie behutsam in die Luftpolsterfolie, damit sie nicht zerstört wurden, wenn er sie ablegte. Er nahm sich Zeit, wenn er sie endlich ausstellte. Sie sollten ihre beste Seite zeigen, wenn sie gefunden wurden.

´Massenmörder in der Stadt!`

Sie hatten keine Ahnung, diese Dummschwätzer. Solch ein Wort, eine Beschimpfung. Er war ein Künstler, ja, das war er. Er schlachtete nicht wahllos ab, er erschuf etwas neues, besseres. Seine Werke waren dafür da, diese Welt besser zu machen, zu einem schöneren Ort.

Und dann traf er sie. Sein Meisterwerk, ja, das würde sie sein. Feuerrotes Haar, Sommersprossen, große blaue Augen. Ihre Hände, so feingliedrig, so sanft, nie könnten sie jemandem Schmerzen zufügen. Sie tanzte, wenn sie die Straße entlang ging, flatterte beinahe, ihre Hüfte immer in Bewegung, ihre Hände in Bewegung, wenn sie ihrer Freundin im Café etwas erzählte.

Sie roch nach wilden Rosen nach einem Sommerregen und sie lächelte ihn an, als sie sich in der Bahn zu ihm wandte. Sie lächelte. Ihn. An! Ihre Lippen würden weich auf seinen sein, sie würde nach Erdbeeren schmecken. Oh, wenn er diesen Geschmack doch nur bewahren konnte, aber er verflüchtigte sich. So schnell. Auch bei ihr. Sie hatte drei Leberflecke, klein, unscheinbar, genau über ihrem rechten Mundwinkel. Sie fielen kaum auf, doch er hatte sie gesehen. Er sah alles.

„Mein Marienkäfer“, flüsterte er. Und er probierte den Namen aus, wenn er nachts wach lag.

Nach ihr war nichts mehr wie bisher. Er hatte sein Meisterwerk vollbracht, die nachkamen waren nur noch Kopien, billige Platzhalter für die eine. Er begriff es erst jetzt. Dass er sein Leben lang auf sie gewartet, auf sie hingearbeitet hatte. Und nun war sie fort, ausgestellt, von anderen begafft und analysiert. Er hatte sie verloren. Er hatte sie verraten. Nichts würde mehr so sein wie bisher.

Er wurde nachlässig. Er beobachtete nicht mehr so genau. Er blieb stehen, wenn sie sich an der Tür umwandten. Und dann passierte es.

„Monster endlich gefasst! Tötete seine eigene Frau nach über 12 Jahren Ehe! So machte die Petersilienhochzeit aus einem Ehemann einen Massenmörder!“

Sie waren noch immer Dummköpfe. Gruben in seiner Vergangenheit. Holten etwas hervor, eine Feier, einen Unfall, einen Tod. Sie hatten keine Ahnung. Sie war es nicht gewesen. Sie war nicht die gewesen, die sein Leben bestimmt hatte.

„Mein Marienkäfer!“ Ganz sicher flatterte sie noch immer, tanzte über die Straßen, ihr Duft nach wilden Rosen wie eine Spur für ihn ausgelegt.

„Ich komme zu dir“, flüsterte er, während er aus zerrissenen Bettlaken eine Schlinge bastelte.


Die gleichen 5 Wörter, aber eine ganz andere Geschichte?
Dann lest Carmens „Familienabend“.

Der Besuch der launischen Dame

von Carmen, Lesezeit ungf. 2 Minuten

Dieser Text entstand am Freitag, 27.03.2020, in dieser Zeit, in der wir alle das Wort Quarantäne rückwärts buchstabieren konnten und bereits jeden rauen Fleck an der gegenüberliegenden Zimmerwand durchanalysiert hatten. (Notiz an mich selbst: Sollte nach Enätnarauq gestrichen werden. Dringend).
Dieser Text entstand als 10-Minuten-Aufwärmübung. Regeln: Alles aufschreiben, sehen, wohin der Stift mich führt, auf Assoziationen eingehen und sich treiben lassen. Nicht aufhören, Grammatik-, Orthographie- und Stilregeln existieren nicht. So oder so ähnlich rät uns Doris Dörrie in den Schreibprozess zu starten. Es kommen immer wieder verblüffende Ergebnisse dabei heraus.
Viel Spaß beim Lesen.

Mich besucht derzeit immer öfter eine Bekannte aus der guten alten Zeit. Eine Herumtreiberin, die immer mal hier und dort und überall ist und eigentlich nirgendwo ganz. Wir haben uns nie so besonders gut verstanden, meist war sie mir egal. Denn ich war meist nur hier. Hier in meiner Wohnung, oder hier auf der Arbeit. Orte, die sie nicht interessieren.
Habe ich mich mal auf einen Besuch von ihr vorbereitet, kam sie nicht. Dann wiederum klingelte sie Sturm, als es mir so gar nicht passte. Wegschicken konnte man sie nie, wenn sie da war, war sie da und blieb, bis sie keine Lust mehr hatte. Und das konnte dauern. Tage, Wochen, manchmal sogar Monate.
Meine Bekannte ist eine launische Person, das wisst ihr besser als ich. Sie kommt und geht, wie es ihr passt, heute temperamentvoll, morgen apathisch, dann wieder mit viel Geduld und an anderen Tagen war sie so gestresst, dass ich regelrecht gegen sie ankämpfen musste, um mich durchzusetzen. Wehmütig erinnere ich mich an diese Zeit.
Wen interessieren heute noch ihre Launen? Ich bin in meinen vier Wänden, geschützt und zugedeckt. Ich kann auf sie verzichten als launische Begleiterin, ich verzichte auf ihre singende Herbststimme, ich verzichte auf ihr freundliches Lächeln im Frühling.
Ich komme mir vor, als befänden wir uns im Krankenhaus auf der Intensivstation und betrachteten uns durch eine schützende – trennende – Glaswand. Durch das Glas sehe ich, wie sie sich gerade fühlt. Ich interpretiere es aus den flatternden Flaggen. Ich erkenne sie an den Knospen des Baumes und am Reif, der frühmorgens das Gras umhüllt.
Die Erfahrung im Umgang mit ihr sagt mir, dass ich mir heute besser einen Mantel anziehen sollte, wenn ich das Haus verlasse. Dass ich besser nicht die Handschuhe vergesse, wenn ich mich aufs Rad schwinge. Dass ich vorsorglich schon einmal die Mütze zu den Laufsachen packen sollte, will ich nicht mit hochroten Ohren von der Joggingrunde zurückkehren.
Ich ignoriere die Erfahrung, sie ist obsolet. Die Handschuhe nehme ich trotzdem. Ich betrachte meine Bekannte durch die Intensivscheibe und freue mich, dass sie mich besucht hat.
Und ich verspreche ihr, dass wir uns in Zukunft öfter sehen werden.

Nun, wie steht ihr zu der launischen Dame? Habt ihr sie erkannt?
Schreibt mir Eure Meinung als Kommentar unter diesen Text oder an mich persönlich unter carmen[at]mittendrin.blog.
Alles Liebe und bleibt gesund!

Morgens früh um sechs

von Carmen, Lesezeit 1-2 Minuten

Mit halb geschlossenen Augen greift sie in die Spülmaschine, nimmt eine benutzte Tasse heraus und stellt sie neben die Kaffeemaschine, wo der hoffentlich wach machende Kaffee gemütlich durchtröpfelt. Sie muss wach werden. Es gibt einen Grund, weswegen sie nicht mehr in ihrem Bett liegt. Einen wichtigen Grund! Und zwar … Fest versucht sie sich zu konzentrieren und presst hierfür sogar die Augenlider zusammen. Den Schlaf irgendwie vertreiben – die Nacht ist einfach zu kurz gewesen. Sie muss gähnen. Ausgiebig.

Unter der Dusche schläft sie fast im Stehen wieder ein. Wieder zurück in der Küche, mit einem Handtuch um die noch feuchten Haare, hat sie schon wieder vergessen, was sie nicht vergessen wollte. Warum nochmal musste sie sich eben so feste konzentrieren? Vielleicht fällt es ihr nach dem Kaffee wieder ein. Als sie den frischen Kaffee in die bereit stehende Tasse gießen will, stellt sie verwundert fest, dass diese nicht besonders sauber ist. Kopfschüttelnd stellt sie die Tasse zurück in den Schrank und nimmt sich eine neue heraus. Wenns ihr doch bloß wieder einfiele.

Erdbeerschnee

von Carmen, Lesezeit 1-2 Minuten

„Wie Erdbeerschnee“, erklärte ich noch dem Polizisten, „genau so sieht es aus!“ Appetitlich rot hat es tatsächlich ausgesehen, richtig zum reinbeißen. Manche Stellen waren heller, doch je näher man zur Leiche hinschaute, desto dunkler wurde die Farbe. Den Polizisten hat meine Beschreibung freilich nicht interessiert, er hatte sich längst selbst ein Bild gemacht.
Den toten Körper des älteren Nachbarn mit seiner für alle Ewigkeit verzerrten Fratze hatte ich mich nicht mehr getraut, anzuschauen. Ein kurzer Blick hatte genügt und es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich sehe das Bild immer noch, wenn ich die Augen schließe.
Ich versuchte, mich auf den Schnee zu konzentrieren. Am Morgen hatte er noch so wundervoll silbern geglitzert. Friedlich, unberührt, edel. Man hatte den Drang, sich hineinzuwerfen und darin einzutauchen. Ich musste an Schneeengel denken. Tja.

Als ich später Herrn Hofmann gefunden hatte, lag er nicht so, wie Schneeengel gewöhnlich liegen. Der Schnee hatte dafür aber auch die falsche Farbe. Er war nicht göttlich silbern, sondern fruchtig rot. So wie die süßen Erdbeeren, die mir Herr Hofmann immer aus seinem Garten mitgebracht hatte. Das wird er jetzt wohl nicht mehr tun, fiel mir ein. Erdbeerschnee. Herr Hofmann lag in Erdbeerschnee. Wie passend, dachte ich, aber das sagte ich lieber nicht dem Polizisten. Der hätte das wohl nicht verstanden.

Schmetterling und Reißzwecke

von Carmen

Da war er nun. Eine Unmöglichkeit. Sie war überzeugt gewesen, dass die Zeiten vorbei seien. Dass sie Gefühle überwunden hätte. Gefühle waren für Menschen, die damit umgehen konnten. Nicht für sie.

Da war er nun. So anders. So außerhalb ihrer Welt. So unerreichbar. So eine wahnsinnig präsente Reißzwecke, die in jedem ihrer Gedanken steckte. Bei der Einkaufsliste, beim Gespräch mit anderen, beim Einschlafen, beim Sport – sie sah sein Gesicht, seine Augen, seine Schuhe. Warum ausgerechnet seine Schuhe?
Sie, die harmlose, die naive, die unsichere. Sie hatte nie Reserven aufgebaut, auf die sie hätte zurückgreifen können. Und doch beschloss sie, ihre Comfort-Zone zu verlassen und ihre Fühler nach ihm auszustrecken. Wie ein zerbrechlicher Schmetterling war sie ab nun dem Wetter ausgesetzt. Ein bisschen falsches Timing, eine kleine, falsche Bewegung, ein sanfter Windstoß und sie würde davongetragen. Doch daran dachte die Naive nicht, nur an ihre Reißzwecke, ausschließlich an ihre Reißzwecke. Flatternd, taumelnd, tollpatschig kämpfte sie sich in seine Nähe.
Erschöpft, ohne Schutz, zart stand sie schlussendlich vor ihm.
Er sah sie an. Und sah sie nicht.
Und ein leiser Windhauch wehte.

1

Hallo Freiheit!

von Jana, Lesezeit > 5 Min.

„Ja bitte?“

„Ja hallo? Ist da die Freiheit?“

„Mmh…“

„Ja, also wissen Sie, ich soll über Sie schreiben und da dachte ich…“

„Tun Sie`s nicht!“

„Äh… wie bitte?“

„Schreiben! Schreiben Sie nicht über mich!“

„Aber warum denn nicht?“

„Weil über mich schon so viel geschrieben wurde und die Hälfte davon ist Blödsinn und ich habe wirklich keine Lust mehr, diesen ganzen Quatsch immer zu lesen!“

„Ja, aber… na ja, deswegen rufe ich ja an, ich dachte, Sie könnten mir erzählen, wie Sie das so sehen. Also, was Sie für wichtig erachten. An sich selbst, meine ich.“

„Pah! Das haben die anderen auch immer behauptet. Und mich in den Himmel gelobt, wie wichtig ich doch sei für den Menschen und die Gesellschaft. Die Retterin der Unterdrückten, die Sprengerin der Ketten – lassen Sie mich in Ruhe! Probieren Sie es bei der Hoffnung – obwohl, die ist wahrscheinlich zu beschäftigt, der Hass neuerdings ja auch. Vielleicht hilft Ihnen der Glauben weiter. Der hat zwar auch viel zu tun, aber der debattiert zu gerne.“

„Nein, ich möchte Sie. Sehen Sie sich doch nur mal die Nachrichten an. Hongkong, Syrien, Mittelmeer – ich glaube, die Freiheit ist wichtiger denn je, verstehen Sie?“

„Die Freiheit von was?“

„Na, von Menschen. Dass Menschen in Freiheit leben können, reisen können, ihren Beruf frei wählen, ihr Denken, ihren Glauben.“

„Tja, aber wenn Mensch A seine Freiheit hat, behauptet B, dass seine dadurch eingeschränkt wird. Den Knoten können Sie nicht lösen.“

„Aber ist das denn so? Wie definieren Sie denn Freiheit?“

„Wie ich mich selbst definiere?“

„Ja, genau.“

„Ist das Ihr Ernst? Hören Sie, ich habe eine sehr genaue Vorstellung davon, was Freiheit ist und sein sollte, aber ich bezweifle sehr stark, dass Sie die hören wollen, Sie Sozialromantikerin! Freies Leben, freies Reisen und wahrscheinlich auch noch ein freies Bildungssystem, nein, ganz sicher nicht! Sie verklären mich zu irgendetwas, was die Welt retten soll, Frieden und Freiheit für alle, aber dabei vergessen Sie, dass die Menschen zwar alle laut nach mir schreien, wenn sie mich aber haben, absolut nichts mit mir anfangen können.

Die Freiheit zu leben wird ganz schnell die Freiheit zu herrschen, zu beherrschen und schon ist die Freiheit dahin. Freiheit kann sich nie über das Außen definieren. Wenn Sie Freiheit in Dingen oder Umständen suchen, dann suchen sie falsch – allerdings sind sie dabei immerhin nicht allein.“

„[…]“

„Sind Sie noch dran?“

„Ja, ich… Entschuldigung, was kam nochmal nach „zu tun und zu lassen“?“

„Mmhpf!“

„Wissen Sie, dieser Text ist wirklich wichtig für mich. Nicht nur wegen dem Kurs und so, sondern auch, na ja, Freiheit, das ist für mich mehr als eine Sehnsucht nach irgendetwas. Es ist dieses Gefühl, verstehen Sie? Dieses Gefühl, dass da noch mehr ist in dieser Welt. Dass all die Konventionen und Regeln, die mein Leben bestimmen, einfach nur ein Schleier sind über dem wahren Leben. Und wenn ich diesen Schleier zerreiße, dann.. ja, dann bin ich angekommen. Wissen Sie, ich dachte immer, das kommt, wenn ich mal erwachsen bin und mein Leben lebe. Aber jetzt bin ich erwachsen und..“

„Lassen Sie mich raten, Sie haben als junges Mädchen zu Westernhagens „Freiheit“ um den Plattenspieler getanzt?“

„Zu „Keine Macht für Niemand“ auch.“

Ein Seufzen. „Na gut, ausnahmsweise. Ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis und Sie entscheiden selbst, ob Sie darüber schreiben oder nicht, in Ordnung?“

„In Ordnung!“

„Dieser Schleier, den Sie zerreißen wollen, der ist nicht vor Ihrer Nase, der ist in Ihnen drin. Sie könnten allen Konventionen entfliehen. Alle Regeln und Verpflichtungen hinter sich lassen. Sie könnten mit einem VW-Bus in die Wildnis fahren, und dort mit Eichhörnchen eine WG gründen, Sie würden diesen Schleier mitnehmen. Sie würden unfrei sein in dieser Freiheit. Freiheit finden Sie nur an einem Ort und das ist Ihr Kopf!“

„Mein Kopf?“

„Ihr Kopf! Und vielleicht noch ein bisschen in Ihrem Bauch und Ihrer Seele, je nachdem, wie ganzheitlich Sie diesen Mist betrachten wollen. Aber sie ist definitiv nicht da draußen und Sie finden sie definitiv nicht am Telefon.“

„Oh, aber… ich spreche doch mit Ihnen, oder?“

„Schätzchen, wenn ich die Freiheit wäre (und ich sage nicht, dass ich es nicht bin), dann hätte ich wohl die Freiheit, zu behaupten, dass ich bin, wer immer ich gerne sein möchte, nicht wahr?“

„Ähm…“

„Viel Glück mit Ihrem Text! Apropos, das Glück! Das sollten Sie unbedingt auch mal anrufen, hat sich aber schon wieder rar gemacht, so eine verdammt flüchtige Angelegenheit, na ja…“

Eine Schreibübung zur Personifikation abstrakter Begriffe

Drachentöterin

von Jana, Lesezeit ca. 5 Min.

„Papa, wenn ich groß bin, möchte ich Schwertkämpferin werden.“
Thomas sieht überrascht vom Tischdecken auf, hin zu dem großen Teppich in der Mitte des Wohnzimmers, der aktuell große Ähnlichkeit mit der Barbie-Produkte-Ausstellung im hiesigen Spielzeugladen hat. Zwischen Barbie-Haus, Barbie-Auto, diversen Puppen und Bergen von Barbie-Kleidern sitzt die sechsjährige Sara und verpasst Barbie Nr. 17 mit blauem Edding eine neue Haarfarbe. Alles normal eigentlich. Er wirft einen Blick auf die große Schwester, doch Kati grinst ihn nur breit an. Sie liegt auf dem Sofa und aus ihren Kopfhörern dringt Rockmusik, die verdächtig nach ACDC klingt. Er hat offensichtlich wenigstens bei einer von beiden etwas richtig gemacht.
„Aha“, stellt er neutral fest, „und wie kommst du darauf?“
„Wir haben heute im Kindergarten einen Film darüber gesehen.“
„Über Schwertkämpfer?“ Im letzten Film, der seiner Tochter gefallen hat, ging es noch um ein flauschiges Einhorn. Allerdings spielte auch ein Superschurke mit, wenn er sich richtig erinnert.

„Nein, nicht so richtig. Aber der Prinz hat die Prinzessin vor dem Drachen gerettet, weil er voll gut mit dem Schwert umgehen konnte. Ich will auch mit dem Schwert kämpfen und Prinzen retten können. Oder Prinzessinnen.“

Kati gibt ein schnaubendes Geräusch von sich, was ihre kleine Schwester huldvoll ignoriert.
„Aber hättest du keine Angst vor so einem großen Drachen?“, fragt Thomas und Sara legt den Edding zur Seite (offen natürlich, aber der Teppich ist anthrazitfarben, er ist seiner Mutter für immer dafür dankbar) und schüttelt vehement den Kopf.
„Nö, ich habe ja dann ein riesiges Schwert, da hat doch der Drache Angst vor mir.“

Kati nickt im Takt der Musik und grinst weiter vor sich hin.

Durch das angekippte Küchenfenster hört Thomas das Knirschen von Schnee. Luisa ist heimgekommen, lässt jedoch die Vordertür links liegen und schleicht sich am Haus vorbei zur Terrasse. Sie klopft an die große Scheibe der Terrassentür und als sie die Aufmerksamkeit von ihnen allen hat, zieht sie wilde Fratzen. Sara quiekt vor Freude und Kati verdreht die Augen. Luisa scheint damit völlig zufrieden. Sie winkt Thomas zu, er solle nach draußen kommen.
Er hat eigentlich keine Lust auf die Kälte, doch Luisa hüpft auf und ab, rudert weiter mit den Armen und er gibt auf. Er schlüpft in den Mantel und stapft in den Vorgarten.
In der Einfahrt steht ein Wagen, der nicht ihm gehört. Und auch nicht Luisa. Es ist auch nicht wirklich ein Auto, sondern eher ein kleiner Panzer. Die Scheinwerfer sind noch an. Das seltsame neue Licht, das Autos jetzt haben, taucht den niederrieselnden Schneeflockentanz in einen mystischen Silberschein.

„Was ist das?“, fragt Thomas. Luisa hüpft noch immer auf und ab.

„Mercedes, G-Klasse“, erklärt sie stolz und atemlos.

„Willst du in den Krieg ziehen?“

„Nein, aber wir wollten doch morgen in die Berge und es liegt doch Schnee und Matthias schuldete mir noch einen Gefallen. Er gehört das ganze Wochenende uns!“

„Aha.“

Luisa knufft ihn in den Arm. „Ach, komm schon, Thomas, sieh es als Geburtstagsgeschenk!“

„Ich habe im Juli Geburtstag.“ Außerdem besitzt er nicht mal einen Führerschein.

„Ich meine doch meinen!“

„Du hast im September.“

„Eben!“

Thomas schüttelt den Kopf. Er kann Luisas Faszination keinesfalls nachvollziehen, aber er wird ihr nicht den Spaß verderben.

„Sara will Drachen töten, wenn sie groß ist“, sagt er schließlich und Luisa strahlt ihn an.

„Unsere Tochter!“, verkündet sie stolz und dann fällt sie ihm um den Hals und küsst ihn. Es ertönt ein leises Piepen und die Scheinwerfer gehen aus.

Luisa nimmt seine Hand und sie gehen zurück zum Haus. Hinter der hohen Terrassentür, aus der warmes Licht in den Vorgarten fällt, erkennt Thomas Sara, die gerade mit Edding etwas auf die Scheibe malt, das einem Drachen verdammt ähnlich sieht.

´Vielleicht besteht doch noch Hoffnung für das arme Tier`, denkt er.

Übung: Geschichte, in der folgende Wörter vorkommen mussten:

Rockmusik, Silberschein, Schwertkämpfer, Schneeknirschen, Flockentanz, flauschig

Ich bin die Hässlichkeit

von Carmen, Lesezeit ca. 5 Min.

Tu mir den Gefallen und denke spontan an etwas Hässliches…

Jetzt würde mich natürlich interessieren, was dir eingefallen ist.
Ist es etwas essbares, wie ein schleimiger, bräunlich-stinkender Spinatbrei?
Ist es eine Person, eine alte Hexe mit krummem Buckel, Höckernase, langen, knochigen Fingern, einer furchtbar schrillen Stimme, bei der dir die Haare zu Berge stehen und einem dermaßen irren Blick, dass du erleichtert bist, ihr niemals außerhalb eines Märchens zu begegnen?
Ist es eine Müllhalde, ein Plattenbau, das Armenviertel von Neu Delhi?
Oder ist es ein Gegenstand? Dieser eine kotzgrüne Rock mit der leuchtend rosa Schleife oder dieser Pulli, bei dem man sich fragen muss, ob dem Designer die Nähmaschine ausgerutscht ist.
Oder vielleicht hast du auch nur an Donald Trump gedacht. Ihn habe ich wirklich ganz besonders gesegnet.

Denn ich bin die Hässlichkeit. Ich bin vieles und viele sind ich.

Häufig denkt man, ich sei abstoßend, widerwärtig. Hassenswert sogar – daher kommt mein Name: Hässlichkeit – hassenswert…
Dabei bin das nicht ich, sondern mein Job. Mein Job ist es, dich zu warnen. Ich bin multilingual, international, global.
Du siehst eine Müllhalde – krankheitserregend, Vergiftungsgefahr, Verletzungsmöglichkeiten. Ich sage dir in jeder Sprache, die du verstehst: Geh weiter! Hier ist es gefährlich!
Eine Betonwüste in der Vorstadt: Geh weiter! Hier wirst du unterfordert und zu Tode gelangweilt dahinvegetieren.
Donald Trump: Renn!

Aber du wirst nicht laufen. Die Menschen laufen selten wenn sie mich sehen. Du bleibst stehen und starrst. Du widersetzt dich meinem Gebot. Ich stoße dich ab und du kommst näher, bleibst stehen, mitten auf der Autobahn. Ich schreie, laut und überdeutlich: „Geh weg, hier ist der Tod! Gefahr! Hopphopp! Schleich dich!“ Du versuchst, ein Selfie mit dem Unfallopfer zu schießen.
„Sooo ein hässlicher Unfall“, wirst du später genussvoll erzählen, „und dieses ganze Blut!“

Das ist das frustrierende. Meine Aufgabe ist es, dich zu warnen. Dir zu zeigen, wo es nicht sicher ist, weil Krankheit, Tod, soziale Ausgrenzung oder andere – nun ja hässliche – Dinge dich erwarten. Deine Aufgabe scheint es zu sein, dich gerade dann fasziniert nähern zu wollen.

Das liegt vielleicht an einem Geheimnis, das kaum jemand von mir kennt. Oder wusstest du, dass ich ein Zwillingskind bin? Meine Schwester ist die Schönheit, fast alles, was wir tun, tun wir gemeinsam. Sie ist meine größte Inspiration. Häufig ahmen wir uns sogar gegenseitig nach, ihre Ideale mache ich mir dann zu Eigen. Dann werden sie langweilig und abstoßend. Würdest du heute noch eine weiß gepuderte Perücke tragen wollen?
Gleichzeitig musst du dich mir nur oft genug widersetzen, bis dir etwas so vertraut vorkommt, dass ich nicht mehr wirke. Dann hat sie zugeschlagen. Wenn du jeden Tag mit diesem einen lieben Menschen redest, dass du nach einer Weile die ganzen schiefen Zähne, die seine Zahnlücken unterbrechen, überhaupt nicht mehr wahrnimmst. „Innere Schönheit“ argumentierst du dann.
Wie wahrscheinlich alle Geschwister streiten wir auch ab und an. Wenn dann so richtig die Fetzen fliegen, ist es ein Fall von Hassliebe. Für dich bedeutet das: Du kannst nicht mit. Du kannst nicht ohne.

Schlussendlich ist das Paradoxe an mir, dass ich, so sehr ich mich auch anstrenge, dich nie wirklich abstoßen kann.
Ich interessiere dich, ich bewege dich. Ich bin das Prickeln auf deiner Kopfhaut und das Jucken an deiner Oberlippe, wenn du dir vor Ekel die Nase rümpfen musst. Ich bin die Hexe, ohne die ‚Hänsel und Gretel‘ niemals zu Weltruhm gekommen wären. Ich bin der Frosch in jedem König. Ich bin das Streben in dir, dich zu verbessern. Ich bin der Wunsch, weg von diesem Ort. Was wäre der Ehrgeiz ohne mich? Wüsstest du, von was du träumen solltest, wäre nicht ich?
Ich bin der Motor der Welt.

Denn ich bin die Hässlichkeit. Ich bin Alles. Und Alle sind ich.

Eine Schreibübung zur Personifikation abstrakter Begriffe

Knoten

Ja, da war ich ein klein wenig erkältet, als ich diesen Text eingelesen habe. 😉

von Carmen, Lesezeit <5 Min.

Sie stoppte außer Atem, hockte sich hin und band sich die Schnürsenkel neu.

Knoten sind schon faszinierend. So ein einfacher Knoten mit zwei Schleifen kann jedes Kind. Naja, vielleicht nicht jedes Kind und … naja, vielleicht hat jetzt auch nicht jedes Kind die gleiche Technik wie ich, aber hey, so einfach und der Schuh hält. Tie the knot, sagt man das nicht so? Also im Englischen? Für Heiraten. Zusammenbinden, festbinden, zusammen, was zusammen gehört. Symbolisch jetzt, nicht in echt. Nur gespielt. Fesselspiele? Zusammen, was zusammen gehört, zusammen. Wären sie nun ohne Knoten getrennt? Kein Knoten, keine Heirat, unverheiratet, auseinander, nicht zusammen, auseinander, getrennt? Braucht es den Knoten, die Fessel, den Bund, die Schleifen? Ohne kann ich nicht laufen, Schuh offen, Schnürsenkel am Boden, Stolpergefahr. Ein Paar Schnürsenkel, ein Paar, das Paar ohne Knoten, Stolpergefahr, Achtung! Zubinden, zusammen, was zusammen gehört. Stolpere nicht über das Paar, liebes Paar. Jedes Kind kennt einen Knoten, sah schon offene Knoten, im Kindergarten lernt man Knoten. Seemänner kennen Knoten, leicht zu lösende, schwierige, komplizierte Knoten. Auf der ganzen Welt gibt es Knoten, alle kennen Knoten, alle kennen Knoten, alle. Kinder lernen keine Seemannsknoten im Kindergarten. Sie würden sich verknoten, verlieren, zu kompliziert. Fesselspiele im Kindergarten?
Denk doch nicht sowas! Hörst du wohl auf!

Augenrollend stand sie auf, sprang zweimal auf der Stelle und setzte ihre Joggingrunde fort.

Eine Übung zum Bewusstseinsstrom

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