Geschichten. Überall und Jederzeit

Kategorie: Frühlingsgefühle

Ohne Worte – Teil 2

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

So beginnt die Freundschaft zwischen Paula und Katja: Teil 1, lies los!

„Und was willst du?“
Katja starrte lange auf ihren Block, doch Paula erhielt keine Antwort.

Plötzlich stand ihre Mutter in Jörgs Café. Sie wirkte hektisch, ihr Mantel war ihr von einer Schulter gerutscht, ihre Augen waren weit und gerötet.
„Verdammt Paula, warum gehst du nicht an dein beschissenes Handy!“, brüllte sie beinahe und zog den Blick der zwei übrigen Gäste auf sich, doch das schien ihr völlig egal. Sie lief zu Paula, packte sie am Arm. „Dein Bruder ist im Krankenhaus, verdammt. Ich musste ihn allein lassen wegen dir, dein Vater ist noch unterwegs. Jetzt komm endlich!“

Paula verstand die Worte nicht gleich, wollte die verhassten Worte vielleicht auch nicht verstehen. Sie verstand auch nicht, wie ihre Mutter sie aus dem Café zerrte und in ihr Auto.
Erst als sie auf dem harten Stuhl saß in einem Raum voller harter Stühle, eingekeilt zwischen einer schwer atmenden alten Dame und einer dahinwelkenden Topfpflanze, da begriff sie, dass etwas passiert sein musste. Etwas Schlimmes. Etwas mit ihrem Bruder. Doch der lauteste Gedanke in ihr war der, dass sie sich nicht von Katja verabschiedet hatte. Was, wenn Katja schon heute umzog? Jetzt gerade? Warum zog sie überhaupt um? Und warum konnte sie nicht an ihren Bruder denken? War sie so ein schlechter Mensch?

„Dein Bruder wird wieder“, sagte ihr Vater. Er war irgendwann in der letzten halben Stunde gekommen und hatte den Platz mit der alten Dame getauscht. „Es war ein Autounfall. Er ist wohl bei Rot über die Straße gerannt. Wie Kinder das eben so tun.“
Als wäre sie kein Kind mehr, dachte Paula. Sie war immerhin erst vierzehn.
„Deine Mutter meinte, sie hätte dich nicht erreicht, Paula. Dafür haben wir dir aber das Smartphone geschenkt. Das war nicht leicht für uns. Es war teuer, verstehst du? Wir wollen dich erreichen können. Es wäre schön, wenn du das respektieren könntest.“
„Es ist kaputt. Tut mir leid.“
„Du hast es kaputt gemacht?“
Paula sagte nichts. Es waren schon zu viele gesprochene Worte gewesen. Worte, die weh taten. Worte, die nicht ausdrückten, wie sie sich fühlte. Sie wollte nicht über ein blödes Smartphone streiten. Sie wollte sich von Katja verabschieden und ihren Bruder sehen. Sie wollte zu Menschen, die sie verstanden.
„Es tut mir leid, Paula“, sagte ihr Vater und plötzlich griff er nach ihrer Hand. Das hatte er lange schon nicht mehr getan. „Das war nicht fair von mir. Erzählst du mir, was passiert ist?“
Sie überlegte. Aber nun waren so viele Worte gesprochen, auf ein paar mehr kam es auch nicht an.
„Ein Junge in der Schule ist drauf getreten. Ich wollte nicht… ich wusste, ihr könnt kein neues kaufen.“
„Wann war das?“
„Vor ein paar Wochen.“
„Aber… deine Musik, du hörst doch ständig Musik!“
Paula wunderte sich, dass das ihrem Vater tatsächlich aufgefallen war. Sie zuckte mit den Schultern.
„Warum dann die Kopfhörer?“
„Ihr streitet. Ich will nicht… wenn ich sie aufhabe, bin ich nicht da.“
Ihr Vater sagte nichts mehr, doch er hielt weiter ihre Hand. Irgendwann stieß ihre Mutter zu ihnen und dann durfte Paula endlich zu ihrem Bruder.

Katja zog zwei Wochen später nach Berlin. Sie hatten sich nur noch selten außerhalb der Schule gesehen. Ein Umzug schien viel Vorbereitung zu brauchen und Paula war oft im Krankenhaus gewesen. Ihr Bruder hatte einen komplizierten Beinbruch, doch er würde wieder gesund werden. Ihre Eltern stritten auf eine neue stille Art und beinahe wünschte Paula sich die Worte wieder zurück. All das Ungesagte, das im Raum stand und zwischen sie kroch, war kaum zu ertragen. Doch sie hatte ein neues Smartphone bekommen und die Musik würde nun eben die Stille füllen.

Paula war dabei, als Katja abfuhr. Sie beobachtete, wie die Mütter ihrer Freundn die letzten Kisten aus dem weißgetünchten Einfamilienhaus ins Auto brachten, ein Kombi, der in der Garageneinfahrt parkte. Einer Garage, die größer war als Paulas Wohnung.
„Wow“, sagte sie. „Habt ihr einen Pool im Garten?“
Katja verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.
„Warum haben wir uns nie bei dir getroffen? Ehrlich, wenn wir deinen Müttern nicht hätten begegnen wollen, hätten wir uns einfach in der Garage versteckt. Vermutlich ist da ein eigenes Land drin.“
Katja lachte. Dann zog sie ihre beiden Händen vor die Brust und machte eine Geste wie ein Schraubstock.
„Ja, zu viel Fürsorge ist auch anstrengend.“
Sie setzten sich auf den Bordstein und Katja verband ihr Smartphone mit Paulas Kopfhörern aus reiner Gewohnheit. Sie entschieden sich für Coldplay, die für sie beide auf Platz drei der besten Bands standen, ein guter Kompromiss. Sie mussten die Kopfhörer etwas schräg halten und ihre Gesichter ganz nah zueinander drehen, um beide etwas zu hören. Es lief „Fix you“ und Paula dachte an Katjas bevorstehende Operation.
„Ich weiß nicht, ob ich dich noch mag, wenn du sprechen kannst. Ich habs nicht so mit Worten“, sagte sie schließlich.
Katjas Hände blieben stumm. Doch dann spürte Paula den Kuss auf ihrer Wange.

3

Ohne Worte – Teil 1

von Jana, Lesezeit ca. 10 Min.

Jemand stupste an ihre linke Schulter und Paula sah auf. Vor ihr stand die Neue aus der Parallelklasse, deren Namen sie nicht kannte. Aber sie war ihr schon aufgefallen, in den Gängen der Schule genau wie auf dem Schulhof. Es waren die schwarzen buschigen Haare, die herausstachen, obwohl das Mädchen kleiner war als die meisten, auch kleiner als Paula. Zudem trug sie immer die gleiche schwarze abgewetzte Lederjacke, die sie heute mit einem knallroten Schal kombiniert hatte, der fast noch ihre Nase bedeckte. Darüber blitzten schwarze, freche Augen Paula an und ein Lächeln schob sich jetzt knapp über den Rand des Schals.
Das Mädchen fuchtelte vor Paulas Gesicht und Paula nahm ihre Kopfhörer ab. Es lief keine Musik darauf, sie mochte es nur, wenn andere Leute dachten, sie würde von der Welt um sie herum nichts mitbekommen. Es machte sie selbst auf angenehme Art unsichtbar.
„Du kannst mit mir reden“, sagte Paula jetzt, „ich kann dich hören.“
Das Mädchen hielt inne und starrte sie einen Augenblick überrascht an, sagte jedoch nichts.
„Reden. Du kannst mit mir reden“, wiederholte sie.
Das Mädchen sagte noch immer nichts. Aber sie fing an zu lachen. Sie öffnete den Mund und schüttelte sich, was ihren ganzen Körper zum Vibrieren zu bringen schien. Es erinnerte Paula an einen alten Film, denn es gab keinen Ton. Nur einen komischen abgehackten Laut, wie bei einer Störung im Radio. Sender und Empfänger verpassten sich immer ganz knapp.
Als das Mädchen sich beruhigt hatte, holte es aus den Taschen seiner Lederjacke einen kleinen Block und einen Kugelschreiber und schrieb etwas auf. Mit großer theatralischer Geste riss sie den Zettel ab und reichte ihn Paula.
„Hallo, ich heiße Katja, mag die Farbe rot und Spaziergänge bei Nacht. Und ich bin stumm. Wie heißt du?“
„Ähm…“, machte Paula. Sie war viel zu perplex, um etwas zu sagen. Katja riss Augen und Mund auf und schien Paulas Gesichtsausdruck zu imitieren. Dann schüttelte sie sich wieder in stummen Lachen. Irgendwann lachte Paula mit. So wurden sie Freundinnen.

Paula mochte keine gesprochenen Worte. Reden war ihr zuwider. Reden führte zu schreien, zu schimpfen, Worte waren dazu da, andere zu verletzen. Das kannte sie von ihrem Zuhause, wo ihre Eltern sich pausenlos stritten. Und von der Schule, wo sie Namen bekam, die nicht zu ihr passten. „Lesbe“, riefen sie. „Freak“.
Deswegen hatte sie sich irgendwann die Kopfhörer besorgt, gebrauchte von einem anderen Mädchen. Am Anfang hatten die noch ihre Lieblingsmusik gespielt, auf voller Lautstärke natürlich, und tatsächlich all die Worte ausgeblendet. Doch dann war ein Junge aus ihrer Klasse auf ihr Smartphone getreten. Ein lautes Knacken, irreparabel. Seitdem war es schwieriger, die Worte nicht zu hören. Doch zumindest sprach nie jemand sie direkt an. Die Kopfhörer und der Blick auf den Boden machten sie unsichtbar.

Für Katja war sie nicht unsichtbar. Katja redete ununterbrochen mit ihr, auf die gute Art. Ihre Hände flatterten und immer lächelte sie dabei. Immer. Sie hatte schnell aufgegeben, ihre Worte aufzuschreiben. Sie hatte einfach erzählt und erzählt und Paula hatte gelernt zu folgen. Katja sprach keine klassische Gebärdensprache, zumindest nicht mit Paula, sondern benutzte alles, was ihr in die Finger kam. Stifte und Blöcke wurden zu Städten, Blumentöpfe zu Personen, Kleidungsstücke führten heimliche Liebesbeziehungen miteinander. Wenn etwas zu verworren war, dann deutete sie einfach auf ihre Haare, was Paula besonders komisch fand.
Katja fand immer einen Weg um sich auszudrücken. Und selbst als sie sich dann doch über etwas stritten, nämlich welche Band die bessere war, Placebo oder Linkin Park, schrien sie sich nicht an. Katja warf theatralisch ihre unfrisierbare Mähne in den Wind und erklärte gestenreich, dass sie sich darauf einigen würden uneinig zu sein. Und Paula zuckte mit den Schultern. Das hieß ja.

Wenn sie sich nach der Schule trafen, gingen sie in den Park, die Bibliothek oder das kleine Café am Planetarium. Jörg, der Betreiber ließ sie dort stundenlang sitzen, ohne dass sie etwas bestellen mussten und schmuggelte sie sogar ab und zu in eine der Vorführungen. Katja mochte tatsächlich nächtliche Spaziergänge, doch die waren mit drohendem Hausarrest verbunden. Da sie die Nacht liebte, weil sie die Sterne liebte, war das Planetarium die perfekte Lösung. Sie versuchte Paula ihre Liebe zu erklären. Die Unendlichkeit, sagte sie, und dass etwas so profanes und unromantisches wie große Gaskugeln Milliarden von Kilometern entfernt, den Menschen Hoffnung bringen konnten.
„Alles eine Frage der Perspektive“, schrieb sie auf einen Zettel. Bei manchen Sätzen wollte Katja ganz sicher gehen, dass sie verstanden wurde.

Sie trafen sich nie bei sich zu Hause. Paula hatte schnell klar gestellt, dass ihre Wohnung ein Kriegsschauplatz war, den sie versuchte zu meiden und zu dem sie ohnehin nur noch zurückkehrte, weil da ihr kleiner Bruder war, den sie nicht im Stich lassen konnte. Katja sprach nie von ihrer Familie und auch nicht von ihrer Vergangenheit. Es war das einzige Thema, zu dem Paula ihr nicht eine Geste entlocken konnte. Sie drängte ihre Freundin nicht, auch wenn sie gerne mehr gewusst hätte. Es war nicht Neugier. Sie machte sich Sorgen.

Als die Wochen vergingen, vergrößerten sich Paulas Sorgen. Immer öfter erwischte sie Katja dabei, wie sie traurig vor sich hinstarrte. Sie war nur noch schwer zum gestenreichen Geschichtenerzählen zu animieren, begnügte sich meist mit Nicken, Kopfschütteln und Schulterzucken. Und dann eines Tages holte sie wieder den Block und den Kugelschreiber hervor. Sie schien lange nach Worten zu suchen und als sie Paula endlich den Zettel reichte, standen nur drei darauf.
„Ich werde wegziehen.“
„Aber… wann? Und warum?“
Katja zuckte mit den Schultern, doch Paula konnte das nicht so einfach stehen lassen.
„Warum?“, wiederholte sie.
Katja nahm den Block und den Stift. Diesmal dauerte es noch länger ehe Paula endlich einen Zettel in den Händen hielt.
„Operation in Berlin. Spezialist.“
„Aber wegen einer Operation… da kommst du doch wieder, nicht wahr?“
Katja schüttelte den Kopf und schrieb wieder. „Meine Mütter wollen umziehen. Kein Ballast sagen sie.“
„Und was willst du?“
Katja starrte lange auf ihren Block, doch Paula erhielt keine Antwort.

Warum erhält Paula keine Antwort? Und können die beiden ihre neu gewonnene Freundschaft bewahren? Das erfahrt Ihr hier, lies weiter!

1

Im Regen der Kirschblütenblätter

von Jana, Lesezeit ca. 15 Minuten

Seit Generationen trennt der Spalt die Bewohner der Stadt, aber Anjan und Leila werden einen Weg finden, zusammen zu sein. Werden sie? Der Text ist 2013 entstanden, aber er passt in eine Zeit, in der wir uns mit Abstand begegnen sollen – körperlicher Abstand, nicht emotionaler!

Es ist nicht genau überliefert, wann es passierte, doch es muss vor langer Zeit gewesen sein. Selbst meine Großmutter kannte nur diese Stadt, zerrissen und verwundet. Sie erzählte mir einmal, dass ihre eigene Großmutter dabei war, als es passierte, doch ob man diese Geschichte glauben kann, weiß ich nicht.

Eines Tages jedoch war er da, einfach so. Über Nacht hatte der Spalt diese Stadt in zwei Hälften geteilt. Eine klaffende Wunde zwischen den Menschen, die am Vortag noch Nachbarn gewesen waren. Tief und breit hatte er sich in den Boden gegraben, zu breit, um übersprungen zu werden. Und auch die Worte, die auf der einen Seite gesprochen wurden, verflüchtigten sich im Wind, bevor sie auf der anderen gehört werden konnten.

Doch so tief die Wunde auch war, die Menschen gewöhnten sich schnell daran. Jede Seite lebte ihr Leben und ihre Bewohner vergaßen bald, dass die Leute auf der anderen Seite einst ihre Freunde gewesen waren. Wer nicht in seiner Nähe wohnte, vergaß bald sogar den Spalt selbst.

Wir jedoch lebten in einer der toten Straßen, so nannte man jene, die von dem Spalt durchschnitten waren. Seit meine Füße mich tragen konnten, lief ich jeden Morgen dorthin, setzte mich an den Rand und ließ mich von der schwarzen Tiefe in den Bann ziehen, bis mir schwindlig wurde. Dann legte ich mich auf den Rücken, die Augen geschlossen, bis mein Körper die Beständigkeit meiner kleinen Welt wieder spüren konnte. Danach wiederholte ich das Spiel, getrieben von der Faszination der Tiefe und der klammernden Furcht vor der Zerstörung, die so unmittelbar und endgültig vor meiner Haustür lag.

Eines Morgens stand er da, auf der anderen Seite. Anjan.

Natürlich hatte er mir seinen Namen nicht sagen können. Doch er malte die Buchstaben solange in die Luft, bis ich verstanden hatte. Und ich malte ihm meinen Namen, wieder und wieder, bis ich ihn von ihm in die Luft gezeichnet lesen konnte: Leila.

Er lächelte als ich nickte und ich lächelte zurück. Von da an sahen wir uns jeden Tag.

Anjan war ein begabter Zeichner. Seine Bilder erzählten mir sein Leben. Er hatte einen großen Bruder und einen Hund namens Billy. Seine Mutter backte den süßesten Kirschkuchen auf der anderen Seite und er fuhr gerne Fahrrad.

Ich brachte meine Bücher mit an den Spalt und spielte ihm aus den fremden Welten vor. Ich war ein Cowboy inmitten feindlicher Indianerstämme, Zauberer in einem mächtigen Königreich oder ich schlug mich als Abenteurer durch einen dichten Dschungel voller giftiger Tiere. Anjan hielt mich für eine große Schauspielerin und ich brachte ihn zum Lachen und zum Weinen.

Eines Tages hatte Anjan keinen Zeichenblock dabei, sondern eine Handvoll Kirschkerne. Ich beobachtete, wie er seine Hand über dem Spalt ausstreckte und sie alle in die Tiefe stürzen ließ. Ich verstand erst nicht, doch Anjan erklärte mir, dass aus einem dieser Kerne ein Baum wachsen würde, groß und kräftig. Seine Äste würden bis über den Spalt reichen und wir könnten an ihnen auf die andere Seite klettern. Es war die wunderbarste Idee, von der ich jemals gehört hatte.

Ich konnte es kaum abwarten und jeden Tag kniete ich nun Stunden vor dem Spalt, meinen Blick in die Tiefe gerichtet in der Hoffnung ein klein wenig Grün zu erhaschen. Doch es dauerte zwei Jahre und viele große Regen bis ich ihn eines Morgens erblickte – unseren Baum. Ich tanzte auf der Stelle und jubelte Anjan zu, der ebenfalls an den Rand trat und in die Tiefe hinabblickte. Als er wieder aufsah, lächelte er und er malte ein Bild von mir und sich selbst, wie wir gemeinsam tanzten.

An diesem Tag dachten wir uns tausend Dinge aus, die wir zusammen tun würden, wenn unser Baum erst groß genug war. Er wollte mir das Fahrrad fahren beibringen und ich überlegte, welches Buch ich ihm zuerst zeigen wollte. Am Ende stellten wir uns vor, ein Straßenfest zu veranstalten, auf dem meine und seine Nachbarn zusammen feiern würden. Zusammen. Die Vorstellung machte mich ganz schwindlig.

Jeden Tag beobachteten wir den Baum, doch er wuchs nicht annähernd schnell genug für unsere Pläne und nach und nach wurde mir bewusst, dass wir lange auf unseren gemeinsamen Tanz würden warten müssen.

Es war an einem Frühlingstag als Billy starb. Anjan brauchte kein Bild, um es mir zu erzählen. Ich sah es an der Traurigkeit in seinen Augen. Trotz unserer düsteren Stimmung strahlte unser Baum im weißen Kleid der Kirschblütenblätter und es kam uns beiden vor wie ein böser Streich. Der Wind trocknete Anjans Tränen und ließ die Kirschblütenblätter aufsteigen und tanzen bis sie müde wieder in den Spalt zurückfielen.

Ich beobachtete den weißen Aufstieg und Fall und war untröstlich. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass wir nicht unsterblich waren.

Die Jahre vergingen und Anjan und ich sahen uns noch immer beinahe jeden Tag. Er kehrte die Straße auf seiner Seite, während ich in unserer Straße die Blumenkübel bepflanzte und pflegte. Wir schafften es fast immer zur gleichen Zeit fertig zu werden und dann setzten wir uns an die Kante des Spalts, baumelten mit den Füßen dem Abgrund entgegen und beobachteten unseren Baum. Die Tiefe hatte für mich längst ihren Reiz verloren. Vielleicht lag es daran, dass der Baum sie mit jedem Jahr mehr ausfüllte, dass sein Grün sich unaufhaltsam dem Licht entgegenstreckte. Er war schon fast bis zur Hälfte des Abgrunds gewachsen und Anjan und ich schmiedeten noch immer Pläne für unsere gemeinsame Zeit. Er würde mir Kirschkuchen backen, seine Mutter war letztes Jahr gestorben. Ich wollte ihm aus meinem Roman vorlesen, wollte, dass er die Worte hörte, in die ich die Geschichte kleidete, für die meine Schauspielkunst nicht ausreichte. Unsere Geschichte.

Es waren die Tage, an denen es uns nicht gelang, uns zu sehen, die mir zu schaffen machten. Der Spalt wirkte plötzlich viel breiter, beinahe unüberwindbar, wenn es niemanden gab, dem man auf der anderen Seite entgegen sehen konnte. An diesen Tagen zog sich mein Blick plötzlich wieder in die Tiefe, die dunkler war als sonst, ein unendlicher Schlund, der Anjans und meine Pläne mühelos verschluckte.

Und dann war Anjan plötzlich verschwunden. Drei Tage lang wartete ich vergeblich am Spalt, drei Tage, an denen mich die unerbittliche Tiefe verhöhnte. Am vierten Tag spiegelte der Himmel den Trübsinn meines Herzens und als ich den letzten Blumenkübel gegossen hatte, ging ich nach Hause ohne den Spalt eines Blickes zu würdigen.

Noch auf dem Heimweg begann der Tag sich unnatürlich schnell zu verdunkeln und ein tiefes drohendes Grollen begleitete meine letzten Schritte zum Haus.

Nur Minuten später hatte der Himmel sich pechschwarz gefärbt. Ein aufziehender Sturm ließ die Fensterscheiben klirren und der drohende Donner holte immer wieder zu mächtigen Schlägen aus. Für Sekunden wurde es taghell, dann versank die Welt wieder in Finsternis.

Ich stand am Fenster und sah zu, wie sich das Draußen dem Sturm beugte. Die Bäume vor meinem Fenster reckten dem Wind ihre Äste entgegen, der sich gedankenlos daran bediente. Blätter und Zweige wurden abgerissen und wirbelten davon. Es erinnerte mich an den Tanz der Kirschblütenblätter, nur ohne jede Leichtigkeit eines Traums, für den sie tanzen. Es war vielmehr der schlichte Lauf der Natur und plötzlich spürte ich etwas Kaltes tief in mir und für einen Augenblick war die Welt totenstill.

Ein heller Strahl und ein Krachen zerrissen den Moment, so laut, dass ich leise aufschrie. Ich wusste sofort, das etwas geschehen war, doch es dauerte eine Weile bis ich begriff, was sich verändert hatte. Die Dunkelheit war verschwunden und statt ihrer schimmerte eine diffuse Helligkeit durch mein Fenster.

Feuer.

Meine Füßen liefen den gewohnten Weg von allein, meine Augen mussten erst sehen, was mein Kopf sich wehrte zu verstehen, doch jedes Leugnen war zwecklos: Unser Baum stand in Flammen. Mit unstillbarem Hunger fraßen sie sich von Ast zu Ast und ließen von dem satten Grün nur Asche übrig.

„Hör auf!“, schrie ich, „hör auf!“

Der Wind riss an meinem Haar und meinem Kleid, der Donner grollte unversöhnlich und immer wieder tauchten Blitze das Schauspiel in schmerzhaft gleißendes Licht, doch nichts davon hielt mich zurück, mit dem Feuer zu streiten.

Ich schrie so laut ich konnte, übertönte die knisternden Flammen. Meine Wangen wurden nass und ich begriff, dass ich weinte. Die Tränen wurden mehr und mehr und endlich spürte ich sie auf den Armen und in meinem Nacken. Es regnete. Der Himmel weinte mit mir.

Der Regen ließ sich Zeit. Ich blieb bei unserem Baum, ignorierte die Nässe meines Kleides und die Kälte, die mit der Nacht kam. Als der Morgen sich zögernd zeigte, starrte ich ungläubig auf die schwarzen Stummel, die mir aus dem Spalt entgegen ragten.

´Er ist tot`, dachte ich. ´Unser Baum ist gestorben.` Und ich fragte mich, was nun aus uns werden würde. Und ob ich jemals wieder ohne Angst in die Tiefe würde schauen können.

Ich sah auf und erblickte Anjan auf der anderen Seite. Sein Augen sahen mich nicht, sie waren starr ins Leere gerichtet. Ich wusste nicht, ob er meinen Verrat gesehen hatte. Ich habe nie gewagt, danach zu fragen.

Am nächsten Tag ging ich nach der Arbeit wieder zum Spalt. Anjan war da und wir versuchten so zu tun, als wäre alles in Ordnung, als wäre unser Baum noch grün und lebendig und würde nur darauf warten uns eines Tages auf die andere Seite zu bringen. So war es auch am Tag darauf und an dem folgenden und dem danach. Und dann passierte es. Eines Tages sah ich Anjan schon von weitem am Spalt stehen und mir zu winken. Ich war noch auf der Mitte der Straße, doch ich ließ meine Arbeit stehen und lief zu ihm. Er deutete auf eine Stelle in der Mitte unseres Baumes, wo ein schwarzer Stumpf an die ehemals kräftigen Äste erinnerte. Ein grüner Schimmer wehrte sich gegen die Schwärze, die ihn umschlungen hatte und nur Tage später brach ein junger Zweig hervor.

Er würde leben, unser Baum würde wachsen und er wuchs schneller und grüner als je zuvor und doch hatten wir bereits verloren.

Mit jedem Zentimeter, den unser Baum dem Himmel entgegenkletterte, verrann Anjans und meine Zeit weiter, unwiederbringlich, wie durch ein zerbrochenes Stundenglas. Längst wussten wir beide, dass sie nicht reichen würde. Als die ersten Zweige den Rand des Spaltes berührten, noch viel zu schwach, um einen Menschen zu tragen, war mein Haar vollständig ergraut und Anjan brauchte einen Stock. Ich zog ihn auf, wie schlecht er würde damit tanzen können. Er lächelte ungetrübt und meinte, dass er mir ohnehin nur auf die Füße getreten wäre. Anjans Hand zitterte jetzt, wenn er seine Bilder malte und seine Striche verschwammen vor meinen schwächer-werdenden Augen.

Wir sahen uns nicht mehr jeden Tag, besonders im Winter erwiesen sich Eis und Schnee für Anjans Beine als unüberwindbares Hindernis. Meine Augen wurden schlechter und trotz der bald schon fingerdicken Gläser, konnte ich seinen Geschichten immer schwerer folgen. Ich fürchtete den Tag, an dem seine Gesichtszüge für mich unlesbar werden würden und Lächeln und Trauern das gleiche Bild wären.

Der Winter war hart und zäh in diesem Jahr. Und als er besiegt schien und das erste Grün an den Zweigspitzen unseres Baums schimmerte, kehrte er mit vernichtender Grausamkeit zurück. Ich beweinte die erfrorenen Knospen und starrte in den undurchdringlichen Nebel, der sich über dem Spalt zusammengezogen hatte. Ich wusste, dass Anjan auf der anderen Seite stand, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte. Doch ich hätte gern gewusst, ob seine Augen mich noch ausmachen konnten. So also würde es bald sein, wenn die Welt um mich endgültig im Nebel meiner blinden Augen verschwand.

Es war einige Nächte später, als ich das Rufen hörte. Obwohl ich seine Stimme nie vernommen hatte, wusste ich, dass es Anjan war. Sie war hell und klar wie ein sonniger Wintertag, der einem den Frühling verspricht. Schwerfällig trugen mich meine Beine zum Spalt und da sah ich ihn. Überrascht über die Kraft meiner Augen erblickte ich seine von einer einzelnen Straßenlaterne erleuchtete Gestalt auf der anderen Seite. Er sah gut aus, viel jünger als ich ihn zuletzt in Erinnerung hatte. Sein Stock fehlte und er wippte auf seinen Fußspitzen auf und ab.

„Ich komme jetzt zu dir, Leila“, rief er und trat leichtfüßig bis vor an den Rand.

„Nein, Anjan, pass auf!“ Ich konnte kaum hinsehen, als seine Füße einen der kleineren Äste betraten. Ich war mir sicher, er würde nachgeben. Doch er hielt sein Gewicht und Anjan kletterte weiter und weiter. Immer wieder fürchtete ich, die Äste brechen zu sehen und wie Anjan in die Tiefe stürzte, doch am Ende hechtete er sich mit einem Sprung auf meine Seite. Und da war er. Ein junger strahlender Anjan, das Abbild eines wunderbaren Traumes.

„Darf ich bitten?“, flüsterte er und griff nach meiner Hand. Seine Haut auf meiner war warm und rau, genau so, wie ich sie mir immer vorgestellt hatte. Ich nickte, Worte hatten wir nie gebraucht.

Und plötzlich war es Tag, ein warmer, duftender Frühlingstag. Der Wind durchwirbelte mein Haar und schüttelte die Äste unseres Baumes.

Und dann tanzten wir im Regen der Kirschblütenblätter.

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1

Pendeln (Eine Liebesgeschichte)

Lesezeit ca. 4 Minuten

Ihr Lieben, heute ist Karfreitag und ich weiß, dass viele von Euch eigentlich über Ostern zu ihrer Familie gefahren wären (so wie ich) und es aufgrund der aktuellen Lage nicht können. Ich habe lange überlegt, welche Geschichte ich heute poste, denn ich fand, keine wird dem Anlass gerecht. Diese ist jetzt ein Kompromiss, ein Erfahrungsbericht aus vielen Jahren als Pendler und der Grund, warum ich Bahnhöfe gleichzeitig hasse und liebe.

Ich wünsche Euch trotz allem ein frohes Osterfest. Ruft Eure Lieben an, skypt mit ihnen und bleibt gesund!

Pendeln

„Ich will eine Liebesgeschichte schreiben!“, erwidere ich skeptisch, doch er zuckt nur mit den Schultern.

„Glaub mir, du findest nirgendwo eine bessere Inspiration dafür“, beharrt er. Und so folge ich ihm aus der überfüllten S-Bahn in den Hauptbahnhof. Im Schieben und Drängen zwischen verschwitzten Menschen und Hindernissen in Form von Koffern spüre ich nichts von der romantischen Stimmung, die ich mir für meine Liebesgeschichte erhofft hatte. Doch er nimmt mich an die Hand und zieht mich weiter bis wir schließlich in der Eingangshalle stehen. Es ist Freitagabend, er sagt, das wäre die beste Zeit und jetzt weiß ich, was er meint.

Die Passagiere, die aus den Zügen steigen, verrenken die Köpfe bis sich ein Strahlen in ihre Gesichter stiehlt. Sie beginnen zu laufen, nur sie selbst scheinen das Ziel zu kennen und dann fallen sich Menschen in die Arme. Küsse werden verteilt – flüchtige Freundschaftsküsse und innige Küsse von Liebenden. Ich beobachte komplizierte Handschlagsrituale von Freunden, verfolge kurze und lange Umarmungen, manche so fest, dass sie wehtun müssen. Und überall sehe ich Lächeln. Freude. Echte Freude.

„Das ist schön, so schön! Danke!“, sage ich und er nickt.

„Du musst aber auch am Sonntag herkommen“, murmelt er dann. Seine Miene ist plötzlich ernst.

„Warum?“

„Weil sie sich dann verabschieden.“

„Oh nein“, wehre ich ab, „das ist mir zu traurig!“

Er mustert mich mit einem seltsamen Blick.

„Aber es gehört zum Lieben dazu.“

Trilogie des Liebens – Teil 2

von Gastautorin Verena Zelger

Wie begann nochmal die Geschichte zwischen Silke und Tom?
Lies nach! Hier geht’s zu Teil 1.

Silke

Alleine hat sich Silke niemals gefühlt. Sie war sich selbst immer genug. Und kam doch mal Einsamkeit über sie, dann hat sie sich wen gesucht. Einen Franz, Peter oder Andi. Doch jetzt, all die Franzes, Peters, Andis & Co., die helfen nicht gegen dieses Gefühl, gegen das unerfüllte Lieben auf Distanz.

Nach monateandauerndem Selbstversuch ohne ihn, den Tom, da liebt sie ihn noch immer. Auf Weltreise ist sie, allein, erkundet Land um Land, per Auto, Bus, Zug und Flug. Ihre Freunde sagen, wiederholt: Der Tom, der hat dich doch vergessen. Sicher ist er längst verlobt mit einer Summer, Britney oder gar einer Amber. Doch Silke, sie glaubt: Der Tom, so schnell, vergisst sie nicht. In der Mongolei, in der Nähe des Khövgöl Sees, da besucht sie ein Rentiervolk. Sie trifft auf eine Schamanin, die in einer Zeremonie einen Ahnen, Großväterchen, anruft. Und Silke, sie bittet um Rat. In Trance verfallen ist sie, die Nomadin, und Großväterchen, er spricht durch sie: „Jeder Schritt ist vorbestimmt, höre gut zu und deute die Zeichen.“

Jeden Tag der Woche träumt Silke von Tom. Er könne es nicht mehr lange ertragen, ohne sie, ja, die Silke, zu sein. Die Träume weisen ihr einen Weg. Zurück in die Stadt will sie, nach Ulan Batar. Und dann nach Chicago fliegen, den Tom wieder sehen. Den Plänen folgen Taten, so ist sie, die Silke und so kennt man sie. Sie bucht ein Ticket in seine Stadt. Überraschen will sie ihn, den Tom, der immer noch der Ihre ist.

Am Flughafen von Ulan Batar sieht sie sich um. Ihre Reise um die Welt, die ist erstmal vorbei. Vielleicht wird sie von jetzt an nicht alleine wandeln, sondern mit Tom. Sesshaft werden, mit ihm, dem Geliebten, oder mit ihm die Welt erkunden.

Vom alten Leben verabschieden, so leicht ist das nicht. Doch Silke, sie weiß genau wofür. Für sie und ihn. Für Silke und Tom. Auf nach Chicago, in seine Stadt.

Tom

Chicago. Grau, verregnet. Düster und matt. Farbig und lustig, so fehlt sie ihm. Hier in der Stadt, ist er scheinbar zu Haus‘. Er fühlt den Regen mehr denn je, ein Schleier, so grau, wie grauer Star. Ohne sie, die Silke, fühlt er sich allein.

Die Summers, Britneys, Ambers, sie kommen und geh‘n. Kaum rein zur Tür, schon wieder draußen. Toms Mutter, bei der er nun wieder wohnt, sie rollt mit den Augen. „Lass ihn doch machen“, so sein Vater. „Das geht doch sicher wieder vorbei.“

Nachts fühlt er sich traurig, einsam, krank. Die Summers, Britneys, Ambers, sie können nichts tun, gegen Leere, Kummer, gegen Sehnsucht, nach ihr, nach Silke, nach seiner Frau.

Da schreibt er einen Brief in ihr Wohnheim, an sie, die Silke, die er so vermisst. Ein paar Wochen später kommt der Brief zurück – unzustellbar. Der Stempel so rot wie die Augen von Tom.

Silke

In Chicago, am Flughafen, steigt sie in den Bus. Sie läuft zur Adresse, die er ihr gab – damals, als er Deutschland verließ und Silke zurück blieb und danach auch weg wollte, so wie er. Sich nicht vorstellen konnte, warum er eingestiegen war, in das Flugzeug, und es zuließ, dass sie auseinander gerissen, voneinander getrennt wurden. Und aus Trotz nicht die USA wählte auf ihrer Weltreise, sondern Maui, Thailand, Bali, Indonesien, Australien, Neuseeland, Japan, China, Korea, die Mongolei. Versucht ihn zu vergessen, wird von ihm verfolgt.

Silke steht vor dem Haus von Toms Eltern und sie klingelt und stellt sich ihr vor, der Frau, die Tom geboren hat. Bridget hebt die Schultern, und lässt sie wieder fallen. Tom, der ist weg, auf der Suche nach ihr, nach Silke, der Frau, die er liebt.

Bridget bittet Silke ins Haus. Dort, da umarmen sie sich. Sie essen und trinken, sie lachen und weinen. Sie unterhalten sich, und verstehn‘ sich gut. Und Silke, die bleibt in Chicago, eine Weile und schreibt eine Karte an ihre Mutter, nach Dreitausendseelendorf. Vielleicht ist Tom bei ihr. Wo sonst sollte er sein?

Tom

Drei Jahreszeiten lang hält er, Tom, durch. Im Sommer, da macht er sich auf, nach Europa, nach Dreitausendseelendorf. Dort hält sich Silke sicher nicht auf. Das weiß Tom, fährt trotzdem hin. Es sieht dort aus wie vor einem Jahr. Doch für ihn, Tom, fühlt‘s sich anders an, ohne sie, die Silke, ohne sie. Er macht sich auf und er sucht nach Silkes Mutters Haus und er findet es. Er findet sie. Sie blickt erstaunt, verwirrt. Umarmt ihn, führt ihn ins Haus. Und bringt eine Karte, die war von der Silke. Maui. Die letzte, die die Mutter bekommen hat, zwei Monate ist es schon her. Silke, die Seine, auf Weltreise. Ein Schmunzeln huscht über Toms Gesicht.

Tom, er bleibt ein paar Tage lang. Dreitausendseelendorf, die Verbindung zu ihr. Ihr Kinderzimmer, das er bewohnt. Sechs Tage sind um, da klingelt es. Tom, der ist allein zu Haus. Geht zur Tür, halb wach, frischer Kaffee in seiner Hand. Die Postbotin bringt einen Brief und eine Postkarte. Das Bild – Chicago, seine Stadt. Tom dreht sie um, die Karte, sieht Silkes Schrift. Seine Augen flackern, sein Körper hüpft. Er liest die Karte aufmerksam. Dort ist sie, und er ist hier. Er hier, in Dreitausendseelendorf, sie dort, in seiner Stadt.

Das Schicksal, es ist nicht synchron.

Wie endet die Geschichte von Silke und Tom? Hier geht’s zu Teil 3.

Trilogie des Liebens – Teil 3

Was?!? Die ersten zwei Teile verpasst?
Den Anfang von Silke und Tom gibt es
hier (Teil 1) und hier (Teil 2).

von Gastautorin Verena Zelger 

Silke und Tom

Tom, der kann es kaum erwarten. Läuft auf und ab, geht raus in den Garten und wieder ins Haus. Wartet, bis die Mutter kommt. Doch Elke, die Mutter ist noch unterwegs, sie ist einkaufen für den Abend, will ihm ein schönes Abendessen bereiten, ihm, dem Tom, der ihre Tochter so sehr liebt.

Die Zeit vergeht nicht, und Tom, der schaut auf die Uhr, immer wieder. Nach ein paar Stunden, da hört er den Schlüssel in der Tür und er rennt hin und öffnet sie. Und Elke, die steht da mit ihren vollen Einkaufstüten und sie sieht die Postkarte in Toms Hand und seine Aufregung und dann lächelt sie. Und sie stellt ihre Einkaufstüten ab, mitten im Flur, nimmt die Postkarte und liest. Führt dann den Tom zum Telefon und sagt:

„Na los!“

Er wählt und plötzlich, da weiß er nicht, was er sagen soll, wenn er mit ihr spricht, mit Silke, die er fast ein Jahr nicht gesehen hat. Warten… Rufzeichen, einmal, zweimal, klingeln, ins Leere? Da geht seine Mutter ran:

„Hello?“

„Mum, it’s me!“

Ihr Sohn, der ruft sie niemals an.

„Wait, Tom, she’s already here.“

Silke, sie nimmt das Telefon, ganz aufgeregt, und dennoch klar. Schweigend halten sie die Hörer in ihren Händen, an ihre Ohren.

„Hi“, flüstert er, ihr Tom.

„Hi“, sagt sie, seine Silke.

Erleichtert sind sie, die beiden Mütter. Seelig sind sie, Silke und Tom.

Ein romantisches Rendez-Vous

von Carmen, Lesezeit ungf. 2 Minuten

Christian hatte einen Plan, als er mich heute zum Mittagessen abholte, das sah ich ihm an, als ich ihm die Tür öffnete. Fünfmal hatte er geklingelt, in schneller Folge. Die Vorfreude strahlte förmlich aus ihm heraus. Ganz traditionell hielt er mir einen bunten Tulpenstrauß entgegen. Lächelnd begrüßte ich ihn mit einem Kuss, nahm die Blumen entgegen und hielt die Luft an, während ich sie – weit von mir gestreckt – schnell auf den Balkon brachte. Ich nahm mir vor, das Thema während des Mittagessens kurz anzusprechen. Ich griff nach meiner Tasche und ließ mich von Christian zum Wagen führen. Auf die Jacke verzichtete ich, bei diesen frühlingshaften Temperaturen würde ich sie nicht benötigen.
Christian hatte mir bei unserem letzten Treffen erzählt, dass er einen sehr romantischen Ort kenne, den er mir unbedingt – UNBEDINGT – zeigen müsse. Vielleicht das sich drehende Restaurant oben im Fernsehturm? Die Rooftop-Bar im Zentrum, von wo aus man einen wundervollen Blick auf die Kirchtürme hatte und die Berge im Hintergrund sah? Ich war gespannt.

Christian war der Squash-Partner eines Arbeitskollegen, das erste Mal begegnete ich ihm vor zwei Wochen bei einem gemeinsamen Mittagessen in der Kantine. Es hatte sofort gefunkt, wir haben die Nummern getauscht und uns seitdem zweimal getroffen. Ich hatte ein gutes Gefühl, was ihn betraf. Er schien ein kreativer Mann zu sein und ich LIEBE Überraschungen. Ein weiteres Detail, das mir gut gefiel. Meine Vorfreude darauf, zu erfahren, was er für uns plante, war wohl ebenso groß, wie seine Vorfreude auf meine Reaktion.

Nach kurzer Fahrt bogen wir auf einen Parkplatz ab, er stieg aus und öffnete mir die Tür. So langsam schwante mir, wo wir waren. Direkt vor uns war der Eingang zum botanischen Garten. Er wollte doch nicht etwa…? Noch hatte ich Hoffnung. Der Garten war eher klein und hatte keinerlei Möglichkeiten, sich etwas zu essen zu besorgen. Zudem war er sowieso noch geschlossen – die Saison startete erst in einer Woche. Vielleicht war es nur ein kurzer Zwischenstopp? Verwirrt blickte ich ihn an, während er vielsagend den Kofferraum öffnete und einen großen Strohkorb entnahm. Eine Flasche Wein konnte ich von meinem Standort aus erkennen. Ich bekam große Augen, Panik stieg in mir auf.
„Um diese Jahreszeit gibt es hier die schönste Blumenwiese, die du dir vorstellen kannst. Alle möglichen Pflanzen blühen gerade. Mein Nachbar ist hier der Landschaftsarchitekt.“ Und die nächsten Worte sang er sogar triumphierend, während er ein kreditkartengroßes Plastikteil aus seiner Hosentasche hervorholte: „Er gab mir den Schlüssel.“ Er sah mir in die Augen: „Was hältst du von einem Picknick?“
„NICHTS!“, dachte ich, „rein gar nichts halte ich davon.“ Was sollte ich ihm jetzt sagen? Dass ich richtig panisch war? Etwas in meinem Kopf setzte aus. Ich starrte Christian fassungslos an. Mein Date deutete meine Wortlosigkeit als Überwältigung, nahm meinen Arm und führte mich zur Wiese.
Er hatte recht: es war die schönste Wiese, die ich jemals gesehen hatte. Alle möglichen Blumen blühten in den wildesten Farben. Käfer, Schmetterlinge, Hummeln und Bienen stürzten sich ins Getümmel ohne sich von uns gestört zu fühlen. Das pure, saftige Ballett des Lebens tanzte vor unseren Augen. Und dazu passend: Pollen!
Langsam aber sicher sah ich nichts mehr, meine Nase war komplett zu, die Augen tränten. Mein Gesicht und mein Hals schwollen an, ich fühlte, wie sich meine Wangen erhitzten. Der Atem ging nur noch singend ein und aus.
Endlich drehte sich Christian zu mir um, um zu sehen, was ich von seiner Überraschung hielt.
„Bitte“, flüsterte ich, „kannst du mich ins Krankenhaus fahren?“

Schmetterling und Reißzwecke

von Carmen

Da war er nun. Eine Unmöglichkeit. Sie war überzeugt gewesen, dass die Zeiten vorbei seien. Dass sie Gefühle überwunden hätte. Gefühle waren für Menschen, die damit umgehen konnten. Nicht für sie.

Da war er nun. So anders. So außerhalb ihrer Welt. So unerreichbar. So eine wahnsinnig präsente Reißzwecke, die in jedem ihrer Gedanken steckte. Bei der Einkaufsliste, beim Gespräch mit anderen, beim Einschlafen, beim Sport – sie sah sein Gesicht, seine Augen, seine Schuhe. Warum ausgerechnet seine Schuhe?
Sie, die harmlose, die naive, die unsichere. Sie hatte nie Reserven aufgebaut, auf die sie hätte zurückgreifen können. Und doch beschloss sie, ihre Comfort-Zone zu verlassen und ihre Fühler nach ihm auszustrecken. Wie ein zerbrechlicher Schmetterling war sie ab nun dem Wetter ausgesetzt. Ein bisschen falsches Timing, eine kleine, falsche Bewegung, ein sanfter Windstoß und sie würde davongetragen. Doch daran dachte die Naive nicht, nur an ihre Reißzwecke, ausschließlich an ihre Reißzwecke. Flatternd, taumelnd, tollpatschig kämpfte sie sich in seine Nähe.
Erschöpft, ohne Schutz, zart stand sie schlussendlich vor ihm.
Er sah sie an. Und sah sie nicht.
Und ein leiser Windhauch wehte.

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Trilogie des Liebens – Teil 1

von Gastautorin Verena Zelger

Silke und Tom trafen sich zum ersten Mal in der Wohnheimbar. Der Raum war ganz in schwarz gehalten. Schwarze Räume waren damals ein Ausdruck jugendlicher Auflehnung gegen den Staat, die Eltern, gegen das Sein. Die 80er. 

Wild und ungestüm fühlten sich Silke und Tom, als sie abstürzten. Als sie am selben Abend ihres Kennenlernens in sein Zimmer verschwanden und miteinander schliefen. Als sie sich am nächsten Tag verstohlen trennten. Silke sich raus schlich aus dem Zimmer und sich ein bisschen ordinär fühlte, hemmungslos. Und feststellte, dass sie diese Seite an sich mochte. Und Tom in seinem Zimmer zufrieden weiter schlief und erkannte, dass er Deutschland mochte. Und die Deutschen.

Silke und Tom sahen sich eine Woche später wieder in der Bar. Und unterhielten sich. Und Silke erkannte, dass Tom ein guter Kerl war, wie man sagte. Und Tom erkannte, dass Silke sein Typ war. Da verabredeten sie sich und gingen raus, auf einen Spaziergang und setzten sich in den Park ins Gras und redeten und erkannten, dass sie sich mochten.

Sie erzähten sich viel, Silke und Tom. Tom erzählte Silke von Chicago, der Stadt, in der er geboren wurde, in der er studierte und wohin er in fünf Monaten zurückkehren würde. Und Silke erzählte Tom von ihrer Mutter, von ihrem Kater und dem 3.000 Seelendorf, aus dem sie kam und in dem sie nie wieder leben wollte.

Ein Treffen folgte auf das nächste und eines Tages, zwei Monate waren nun um, da entschieden Silke und Tom, sie wären ein Paar, von nun an. Und Silke war glücklich und lehnte sich an Tom. Und Tom umarmte Silke und fühlte sich frei.

„Tom?“

„Ja?“

„Liebst du mich?“

„Yes, darling, I love you.“

Tom fuhr mit Silke nach 3.000 Seelendorf und war begeistert. Und sie war begeistert, dass er begeistert war. Ihre Mutter war begeistert, dass beide begeistert waren. Das ganze Dorf war überrascht und aufgeregt, ein Amerikaner und eine von uns, das war ungewöhnlich. Die Silke war ja immer schon eine gewesen, die raus wollte in die Welt.

Deswegen studierte sie. Sie hatte ihren eigenen Kopf. Einen Kopf, der Tom gefiel.

Sie fuhren zurück nach Leipzig. Tom spürte es, und trotzdem fragte er:

„Do you love me?“

„Ja, ich liebe dich!“

Und während sie es genossen zu wissen, dass sie sich liebten – denn das taten sie – vergingen die Monate, einer nach dem anderen. Und da sie sich liebten und die Zeit gern miteinander verbrachten, vergingen die Monate schnell.

„Wer sagt, dass du zurück musst?“

Tom wollte etwas sagen, doch was, das wusste er nicht.

„Bleib“, sagte sie, während sie mit ihm zum Flughafen fuhr.

Er stieg in das Flugzeug, Airbus A310, seit drei Monaten in Betrieb. Das wusste er, der Ingenieur. Silke interessierte sich nicht für den Flugzeugtypen, sondern für den Einen, der gleich auf 8A Platz nehmen würde. Sie schaute zu, wie das Flugzeug abhob und er sich von ihr entfernte.

„Bye“, flüsterte sie.

Wie geht es weiter mit Silke und Tom?
Hier geht es zu Teil 2.

Anne liebt Paul

von Jana, Lesezeit < 5 Min.

„Anne liebt Paul“ – so hatte es in verschnörkelten roten Buchstaben an der grau-gestrichenen Trennwand in der Mädchentoilette gestanden, zwischen anderen Sprüchen, manche klug, manche eklig und manche wenig kreativ wie „Mathe ist doof.“.

„Paul liebt Anne“ hatte auch jemand an die schmutzigen Fliesen in der Jungentoilette geschrieben in einer krakeligen Schrift, die aber ebenso wenig zuzuordnen war, wie die verschnörkelten Buchstaben, obwohl die ganze Schule rätselte, wer das Geheimnis ausgeplaudert hatte.

Das Geheimnis – oder war es nur ein Gerücht? Eine Erfindung?

Anne und Paul kannten sich schon ihr ganzes Leben lang. Sie wohnten in der gleichen Straße, nur zwei Häuser voneinander entfernt, ihre Eltern waren befreundet. Das führte zu Begegnungen, an die man sich nicht mal mehr halb so gern erinnerte, wenn man erst in der Pubertät war.

Paul hatte Anne in den geblümten Kleidchen gesehen, in die ihre Mutter sie früher gezwängt hatte. Anne wusste, dass Paul Stützräder an seinem Fahrrad hatte bis er sechs Jahre alt gewesen war – ein Jahr länger als sie selbst. Natürlich hatten beide auch gemeinsam Kirschen im Nachbargarten geklaut. Doch diese Verbundenheit hielt nicht mehr an, wenn man dreizehn wurde und es plötzlich cool war, Mädchen blöd oder Jungs kindisch zu finden.

„Anne liebt Paul“ – Anne fand, dass Paul großartig war, wenn er ihrer Nachbarin, der alten Frau Schneider, die Einkäufe nach Hause trug – doch er würde sie umbringen, wenn sie das jemandem erzählte.

„Paul liebt Anne“ – Paul fand, dass Anne am hübschesten aussah, wenn sie mit verstrubbelten Haaren und ungeschminkt ihrer Mutter bei der Gartenarbeit half – doch sie würde ihn für immer hassen, wenn sie wüsste, dass er sie so gesehen hatte.

„Anne liebt Paul“, „Paul liebt Anne“ – beide hätten sich eher die Zunge abgebissen als zuzugeben, dass in diesen Schmierereien vielleicht ein ganz kleiner Funken Wahrheit steckte.

 

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