von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

Als er endlich allein ist, nimmt er das Smartphone und scrollt durch die Kontakte, bis er ihren Namen liest. „Ines“. Simpel, ohne Herzchen, ohne Schnickschnack. Nur Ines. Wüsste sie es, es würde ihr nicht gefallen.

„Das ist … fantastisch“, hatte sie gesagt. Ja, er hatte die Pause bemerkt, auch die verkrampften Gesichtszüge, das starre, halbe Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. Augen, die ganz knapp seinem Blick auswichen. Die auf einen Punkt direkt neben seinem linken Ohr gerichtet waren. Er hatte es bemerkt und er hätte etwas sagen müssen. Nur, was hätte er sagen müssen?

Er braucht den Auftrag, er kann nicht „Nein“ sagen. Und wenn sich aus dem Auftrag ein langfristiger Job entwickelt, wird er ebenfalls nicht „Nein“ sagen können. Denn er braucht ein Einkommen, jeder Mensch braucht ein Einkommen. Und wenn die Agentur in Berlin sitzt und das heißt, er müsste umziehen, würde er umziehen. „Fotografieren kannst du überall.“ Mit diesem Satz hatte seine Mutter endlich nachgegeben, als er versucht hatte, ihre Unterstützung für seinen Berufswunsch zu bekommen. Und es stimmt, er kann seinen Job überall ausüben. Das bedeutet aber eben auch, dass er seinen Job überall ausüben muss. Laut Duden heißt „überall“ „an allen Orten“. Direkt dahinter steht: „Überall und nirgends zu Hause sein“ – vielleicht hätte Ines das lesen sollen, bevor….

„Ich freue mich für dich“, hatte sie gesagt, als er ihr beim Abendessen von dem Angebot erzählte. Ihr Gesichtsausdruck hatte alles gesagt, nur das nicht. Laut Duden bedeutet „freuen“ „voller Fröhlichkeit über etwas sein“. Fröhlichkeit verbindet er mit Lachen, mit Leichtigkeit, mit Tanzen. Ines hatte nur dagesessen, ihr Glas von der linken Seite des Tellers auf die rechte und wieder zurück geschoben. Dann hatte sie den Satz wiederholt, das Glas zurück auf die rechte Seite des Tellers geführt, es angehoben, einen Schluck getrunken und es zurückgestellt. Dann war sie aufgestanden und hatte das Zimmer verlassen. Als er sie nach dem Abwasch suchte, stellte er fest, dass sie auch die Wohnung verlassen hatte. Ohne Nachricht, ohne Abschied.

„Aber es ist eine fantastische Chance und sie sollte sich für dich freuen!“, hatte ihm Jörg mit Nachdruck versichert. Jörg hatte vermutlich Recht. Er hatte immer Recht.
Genau wie Andreas, der beinahe wortwörtlich das Gleiche sagte inklusive der Betonungen, so als hätte er Jörg auf Schallplatte und würde den Satz nur abspielen. Er sagt es nochmal, während er das Bettzeug bezieht, in dem Phillip diese Nacht auf dem Sofa schlafen wird, in Andreas` Wohnung, in Berlin.

Eine fantastische Chance. Fantastisch. Im Duden steht unter „fantastisch“ „von Illusionen beherrscht“ und weiter „außerhalb der Wirklichkeit“.
Er drückt auf den Namen ohne Herzchen, ohne Schnickschnack, nur „Ines“. Laut Duden ist Liebe eine starke Bindung an einen Menschen, zusätzlich „verbunden mit dem Wunsch nach Zusammensein“. Zweifaches Gebundensein. Kein Überall, ein Hier. Nach nur einem Klingeln legt er auf.

PS. Dieser Text ist in einem Schreibkurs zum Thema „Schreibzeit vs. Erzählzeit“ entstanden. Es ging darum möglichst viel mit der Zeit zu spielen, also dehnen, straffen, Rück- und Vorblenden…