von Carmen, Lesezeit ca. 5 Minuten

Der Großonkel wird 80. Ein stolzes Alter und doch ist er das Nesthäkchen. Der kleine Bruder, der nur „unser Günter“ heißt, wenn seine großen Schwestern, darunter meine Oma, 92, ihn meinen.
Heute vormittag habe ich meine Großmutter abgeholt, sie und ihren Rollstuhl eingepackt, und bin eine Stunde lang in die Gegend ihrer Kindheit gefahren.

Die Weinberge, die Bauernhöfe, der Fluss – zu allem hatte sie eine Geschichte zu erzählen.
Diese Kellerei hat einige der Weinberge unserer Familie, meiner Urgroßeltern, aufgekauft.
Dieser Bauernhof, ein windschiefes Gebäude, das aussieht, als hätte es seit Jahren niemand mehr betreten, gehörte einer Familie, deren Söhne im Krieg alle gefallen sind.
Überhaupt der Krieg. Für meine Oma ist er allgegenwärtig. Seine Folgen sind allgegenwärtig – Bauernhöfe, die nicht mehr betrieben worden sind, Familien, die entzweit wurden, Männer und Söhne, deren Verbleib unbekannt ist. Menschen, die sich neu orientieren mussten, denen nichts anderes übrigblieb, als zu improvisieren.
Zwischen den alten Gebäuden, an denen wir vorbeifahren, stehen die neuen Häuser, architektonische, anachronistische Meisterwerke, wunderschön an sich, Landschaftsverschandelungen im Gesamtkonzept.

Wir erreichen eine Gaststätte, wohl ebenso alt wie das Geburtstagskind, gute bürgerliche Küche. Viel Fleisch, viel regionales Gemüse, deftig, herzhaft, lecker. 30 Leute sind eingeladen, namentlich kenne ich eine Handvoll. Von den Geschwistern gibt es noch drei. Vor zwei Jahren waren es noch sechs, fünf Schwestern und unser Günter. Mit Ausnahme des Nesthäkchens sind und waren alle über 85.
Langlebige Gene.

Nun feiert der Jüngste und wünscht sich, in 10 Jahren seinen 90. auch mit seinen verbliebenen Schwestern feiern zu dürfen. Doch die winken ab. Durchhalten, die 100 knacken, nur um dem kleinen Bruder einen Gefallen zu tun. Darauf haben beide nun wirklich keine Lust. Müdigkeit schleicht sich ein.

Die Luft hier drin ist verbraucht, 4 Gänge gut bürgerliches Essen sind dabei, verdaut zu werden. Kaffee ist nirgendwo in Sicht. Meine Konzentration fängt an zu schwinden und ich setze mich etwas abseits, um in Ruhe schreiben zu können.
Die Tanten, Nichten, Großneffen, Schwiegerkinder, Adoptivkinder und Verwandte, für die es schon keine Bezeichnung mehr gibt, unterhalten sich angeregt. Langsam bleiben die Namen haften, langsam kann ich mir merken, wer wer ist. Wir sehen uns so selten – Geburtstage und Beerdigungen. Mit Mitte 20 ist meine Oma ausgewandert. Nicht weit weg, aber weit genug. Der Besuch bei den Geschwistern wurde zum Tagesausflug, zum Wochenendausflug, zur Rarität. Einen Führerschein besaß meine Oma nie, mein Opa ist früh krank geworden – wieder einmal die Altlasten des Krieges – und hat sie früh zur Witwe gemacht. Mein Vater arbeitete. Wer hätte sie fahren können?

Zuerst wollte meine Oma nicht auf diese Party. Zu alt sei sie, zu anstrengend die Feier. Und dann die Sache mit dem Rollstuhl und den WCs – bis zuletzt war nicht sicher, ob es behindertengerechte Toiletten gibt. Die Angst, mit heruntergelassener Hose nicht mehr aufstehen zu können. Doch gleichzeitig gibt es nicht mehr so viele Möglichkeiten, die Familie zu sehen. Geburtstage und Beerdigungen. Die Gelegenheit bei Schopfe packen. Und so hat sie mir, ihrer Fahrerin, ihre Zweifel nicht mitgeteilt, nur meinem Vater hat sie sie erzählt.

Seitdem wir hier sind, lacht sie unentwegt. Unterhält sich mit jedem, der sich zu ihr hinunterbeugt. Erzählt mit Lachtränen in den Augen, wie ich mich auf dem Hinweg verfahren habe, von unserer „Reise nach Jerusalem“, wie wir auf einmal hinter dem Friedhof des Nachbarorts festhingen. Nunja, ich kenne die Gegend nicht und das Navi wohl auch nicht.

Am Ende schreibe ich in Ruhe meinen Text. So viele fremde Freunde überfordern. Unser Günter setzt sich zu mir. Ich sehe die Lachfältchen um seine Augen. Er raunt mir zu, dass er sich vom Dessert-Buffet, das noch nicht eröffnet ist, eine Kanne Kaffee stibitzt hat. Wir verstehen uns.

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