von Jana, Lesezeit ca. 8 Minuten

Der Abend war ruhig im Bella, nur die üblichen Gäste, die längst zum Inventar gehörten, waren da. Vicky kannte ihre Namen und Geschichten auswendig, ihre Geburtstage, die Geburtstage ihrer Kinder, die Hochzeitstage. Manches hatte man ihr erzählt, manches hatte sie aufgeschnappt und manches beobachtet.
„Nicht träumen, arbeiten!“, zischte Giovanni hinter ihr und Vicky ließ vor Schreck beinahe das Glas fallen, das sie poliert hatte. Als sie es abstellte, glänzte es wie ein teurer Brillant.
„Schon gut“, murmelte sie und ließ einen weiteren Blick durch den Raum gleiten, diesmal auf Gläser und Teller gerichtet. Markus` und Elsas waren leer. Das junge Ehepaar kam jeden Sonntag und sie aßen immer das Tagesgericht und tranken dazu den billigsten Rotwein, obwohl er ihnen nicht schmeckte. Vicky erkannte den leichten Zug von Ekel um den Mund bei den ersten Schlucken, bis sie sich an die unangenehmen Geschmack gewöhnt hatten. Trotzdem blieben sie bei ihrer Wahl.
Manchmal, wenn Elsa auf der Toilette war, starrte Markus minutenlang ins Leere und dann legte er plötzlich den Kopf für einige Sekunden auf den Tisch, zuckte wieder hoch, rieb sich über das Gesicht und wenn Elsa zurückkam, lächelte er ihr entgegen. Er schien aufrichtig bemüht bei diesem Lächeln.
Vicky griff nach der Flasche Freixenet Tinto und steuerte auf den Tisch zu.
„Wollt ihr noch etwas trinken?“, fragte sie und wartete bis beide die Köpfe schüttelten. Dann wartete sie, bis Markus Elsa gefragt hatte, ob sie noch etwas essen wollen und Elsa – wie jeden Sonntag – verneinte, weil sie satt sei, aber nächste Woche würde sie ganz sicher das Tiramisu probieren.
Vicky erklärte dann höflich, das sei eine gute Idee und Elsa lächelte und sie lächelte und Markus lächelte und Vicky würde nicht im Traum einfallen, darauf hinzuweisen, dass sie diese Komödie ja nun wirklich nicht jeden Sonntag Abend spielen müssten. Denn mit Komödien kannte sie sich aus. Ein Theater geht bankrott, wenn es das beliebteste Stück nicht mehr aufführen kann. Und wenn das Theater schließt, stehen die Schauspieler auf der Straße.
„Bringst du uns die Rechnung?“, fragte Markus und Vicky stellte sich vor, wie sie in die Küche ging, zwei große Stück Tiramisu auf Teller drapierte und mit der Rechnung zu den beiden brachte und „Geht aufs Haus!“ sagen würde. Aber Giovanni war ein Geizhals und überprüfte jede Rechnung und jeden Bestand zwei Mal. Und sie konnte es sich nicht leisten, auf Lohn zu verzichten.
Manchmal stellte sich Vicky auch vor, dass sie, wenn Elsa auf der Toilette war, zu Markus gehen würde und ihm ein paar Dinge sagen würde. Zum Beispiel, dass sie wusste, dass Elsa seit einem halben Jahr jeden Sonntag Abend das gleiche schwarze Kleid trug. Dass dieses Kleid sehr gut gepflegt wurde. Dass es einen Grund hatte, dass Elsa sich kein neues Kleid kaufte. Dass Elsa es wusste. Aber Vicky ging nicht zu Markus und sie sagte nichts, nicht ihm gegenüber und auch sonst niemandem gegenüber, denn Vicky wusste, dass man manche Dinge nicht laut aussprach, denn dann passierten schlimme Dinge.
„Die Karte ist nicht von Papa. Das ist deine Schrift.“
„Du hast gar nichts zum Mittag gegessen. Und auch nicht zum Frühstück.“
„Du warst nicht beim Vorstellungsgespräch. Ich habe dich im Park gesehen.“
„Ich habe die Flaschen unter der Spüle gefunden.“
Die Teller klapperten laut, als sie sie zusammenräumte und aus den Augenwinkeln bemerkte sie den scharfen Blick von Giovanni. Er sähe alles, erklärte er immer, dabei sah er eigentlich gar nichts. Sie setzte die Füße extra fest auf den Boden auf, als sie in die Küche ging.
„Tisch 7 will zahlen“, rief sie und ärgerte sich über den schrillen Klang ihrer Stimme.

P.S.: Dieser Text ist eine Übung zum Figuren entwickeln gewesen. In meiner ersten Vorstellung war Vicky deutlich extrovertierter und hatte eigentlich nicht unbedingt viel Interesse an ihren Mitmenschen. Sie hat mich mit diesem Text sehr überrascht. Aber für den Text, den ich mit ihr schreiben will, passt diese Vicky eigentlich viel besser…