Geschichten. Überall und Jederzeit

Autor: Jana (Seite 1 von 3)

Zerknülltes Papier
Photo by Richard Dykes on Unsplash

Die kleine Kolumne über die Tücken des (Roman-) Schreibens

von Jana, Lesezeit < 10 Minuten

Kapitel 5 – Was komisch klingt, kann weg.

Es diskutieren die Autorin (A) und zwei ihrer Romanfiguren: Eleonore (E) und Damian (D), Eltern der Hauptfigur Jule. Die beiden haben sich scheiden lassen, als Jule fünf war (mittlerweile ist sie Mitte zwanzig). Eleonore war zwischenzeitlich noch drei weitere Male verheiratet.

„Draußen blendet mich die Sonne, doch die Wärme tut mir gut. Ich atme tief ein, um den Schwindel zu vertreiben. Mein Magen knurrt und ich muss mich der Tatsache stellen, dass ich etwas essen sollte. Dann müsste ich Dr. Jacobi auch nicht allzu sehr bezüglich meiner Essgewohnheiten anlügen.
In einem Café auf dem Weg hole ich mir ein belegtes Brötchen, einen Kakao und noch eine Flasche Wasser. Ich esse und trinke im Gehen, denn ich möchte vermeiden, mich zu setzen und nachzudenken. In den letzten zwei Tagen hatte ich einen Nervenzusammenbruch, habe meine tote Geliebte gesehen und geträumt, ich könne an einem Ort im Zeitstrom die Vergangenheit ändern. Ich bin kein Experte, aber ich habe nicht das Gefühl, dass es mir gut geht.“

A: Also ich hasse diesen Absatz. Beide Absätze, um genau zu sein.
E: Das finde ich beruhigend. Sie sind auch furchtbar.
A: Herzlichen Dank auch.
E: Ich bin nur ehrlich!
D: Ja, El, das bist du, aber ich glaube, die Autorin meint, sie hätte gerne einen konstruktiven Beitrag.
E: Bitte, tue dir keinen Zwang an!
D: Ich finde, beide Absätze wirken völlig verkrampft. Aber ich finde auch, dass das an dieser Stelle gar nicht unglaubwürdig ist. Jule steht gerade völlig unter Spannung, kann sich aber nicht damit auseinandersetzen, weil sie zu Jacobi muss. Dem soll sie eigentlich alles anvertrauen, kann es aber selbst noch gar nicht in Worte fassen. Sie würde gerne innehalten, muss aber weiterlaufen und unter diesem Aspekt passen die beiden Absätze vermutlich sogar ziemlich gut zu ihrem Innenleben.
E: Wow, ich bin beeindruckt. Das klingt sogar logisch. Trotzdem sind sie furchtbar!
A: Ja, finde ich auch.
D: Vielleicht kann man ihr chaotisches Innenleben einfach anders darstellen? Man könnte es auf die Spitze treiben, dann wird dem Lesenden klarer, dass es gerade nicht um Information, sondern um Zustand geht.
A: Das ist ein guter Aspekt! Denn dass sie Hunger hat, ist ja wirklich nicht die Info des Jahrhunderts.
E: Auch den Termin könnte man weglassen.
D: Du könntest tatsächlich beide Absätze auch ganz streichen. Dann bedankt sie sich bei der Empfangsdame und sitzt im nächsten Moment bei Jacobi. Das hast du ja schon angekündigt, den Übergang braucht es also gar nicht.
A: Das ist vermutlich die beste Idee. Alles, was komisch klingt, kann auch weg. Immer noch der beste Ratschlag, den ich je bekommen habe.
D: Von wem eigentlich? Waren wir das?
A: Nein, hat mal meine Chefin zu mir gesagt. Passt aber für Büro-Schreiben so gut wie für alles andere.
E: Schade, ich hätte einen modernen Gedankenstrom-Ansatz auch interessant gefunden. Draußen… die Sonne, Wärme im Gesicht, im Bauch, vom Kakao, schnell noch etwas essen, um die Lüge zu vermeiden. Etc. pp.
A: Klingt irgendwie… nach einem Gedicht.
D: Was du ja gar nicht schreibst.
E: Natürlich nicht! Es war auch kein ernsthafter Vorschlag.
A: Also streichen?
E/D: Streichen!

 

Zerknülltes Papier
Photo by Richard Dykes on Unsplash

Die kleine Kolumne über die Tücken des (Roman)-Schreibens

von Jana, Lesezeit < 10 Minuten

Kapitel 4 – Alle gegen die Hauptfigur

Es diskutieren die Autorin (A) und zwei ihrer Romanfiguren: Eleonore (E) und Damian (D), Eltern der Hauptfigur Jule. Die beiden haben sich scheiden lassen, als Jule fünf war (mittlerweile ist sie Mitte zwanzig). Eleonore war zwischenzeitlich noch drei weitere Male verheiratet.

A pfeift fröhlich vor sich hin.
E: Ich finde eigentlich nicht, dass du Anlass zu guter Laune hast. Die Szene ist grässlich!
A: Warum du das sagst, weiß ich. Immerhin schmeißt dich Jules Therapeut raus. Aber erstens kommt die Szene sowieso nicht in den Roman, weil sie Backstory ist und zweitens: Ich liebe sie! Jule hat endlich einen Mentor. Einen ECHTEN Mentor.
E: Ich bin ihre Mutter! Wenn jemand ein Mentor sein könnte, dann ja wohl ich.
A: Nee, ich glaube nicht. Du hast nicht Jule im Blick.
E: Bitte?!
A: In eurer Konstellation gibt es nur die Rollen Mutter und Tochter, aber Jule ist mehr als das. Und gerade für den Roman muss sie sich aus der Rolle Tochter lösen und sie selbst werden. Und sie dabei zu unterstützen, darin bist du ehrlich gesagt… ähm… na ja.
E: Sag mal, spinnst du?! Ich bin eine erfolgreiche selbstständige Unternehmerin. Ich war die letzten Monate pausenlos für Jule da! Und ich…
D: Entschuldigung, wenn ich auch mal was dazu sagen darf. Ich finde, Eleonore hat Recht. Also, ja, vielleicht ist ihr Blick etwas beschränkt, aber sollten Eltern nicht die perfekten Mentoren sein?
A: Ernsthaft? Ausgerechnet du?
D: Wieso? Was ist falsch mit mir?!
E: Willst du es chronologisch oder nach Sachthemen sortiert? Ich gebe ihr völlig recht, du bist ein beschissener Mentor!
D: Hey, ich bin der EINZIGE, der sie mir ihren Kräften vertraut machen kann.
E: Das ist auch der EINZIGE Grund, warum du überhaupt mitspielst.
A (flüstert E zu): Außerdem ist er an allem schuld.
E: Oh richtig, ich vergaß: Du bist an allem schuld.
D: Das ist unfair! Ich wollte dir gerade beistehen.
A: Es war doch deine Idee, mir Dr. Jacobi genauer anzuschauen.
D: Ja schon, aber ihn gleich zum Mentor zu befördern!
A: Eigentlich ist es mir völlig egal, was ihr dazu sagt. Ich habe endlich eine Figur, die Jule um ihrer selbst willen unterstützt. Keine Kräfte, keine falsch platzierten Gefühle, keine Machtspielchen, keine Weltzerstörungspläne! Es soll ihr einfach nur gut gehen!
E: Dir ist klar, dass er sterben muss?
A: WAS??
E: Oder wenigstens aus der Gleichung genommen werden muss. Schätzchen, du schreibst einen Roman, da geht es um Konflikte! Niemand will lesen, dass es der Hauptfigur gut geht.
D: Und wieder frage ich mich, wie du als ihre Mutter…
E: Hey, ich spiele eben die Rolle, die man mir zugedacht hat, und ich spiele sie gut. Glaub nur nicht, dass du besser wegkommst. Du belügst sie die ganze Zeit und außerdem bist du…
D: …an allem schuld. Ich habe es kapiert.
A: Ich will nicht, dass Jacobi stirbt. Ich will, dass irgendetwas in Jules Leben funktioniert!
E/D: …
A: Kapitel 6 ist wohl eindeutig zu früh dafür.
E/D: …
A: Deswegen lügt sie ihn auch an und kann ihm nicht vertrauen. Jetzt macht das Sinn.
E/D: …
A: Ich hasse diese Kolumne. Warum genau mache ich das?
E/D: …

1
Zerknülltes Papier
Photo by Richard Dykes on Unsplash

Die kleine Kolumne über die Tücken des (Roman)-Schreibens

von Jana, Lesezeit < 10 Minuten

Kapitel 3: Schreibblockade

Es diskutieren die Autorin (A) und zwei ihrer Romanfiguren: Eleonore (E) und Damian (D), Eltern der Hauptfigur Jule. Die beiden haben sich scheiden lassen, als Jule fünf war (mittlerweile ist sie Mitte zwanzig). Eleonore war zwischenzeitlich noch drei weitere Male verheiratet.

E: *Hust*, ist das staubig hier!
D (zieht sich eine Spinnwebe aus den Haaren): Scheint lange keiner mehr hier gewesen zu sein.
A (jault laut auf): Jaaaa, das weiß ich selbst! Okay! Ich versuche es. Ich versuche es wirklich! ABER MIR FÄLLT GERADE NICHTS EIN! ES IST FURCHTBAR, OKAY????
E: Alles gut, Schätzchen. Kein Grund, uns ertauben zu lassen.
D: Und ich dachte, es gäbe einen Plot?
A: Der nützt mir nichts. Ich… ich hasse ihn, okay! Die Linie ist klar, aber trotzdem gibt es so viele Möglichkeiten. Jule könnte den Albtraum jetzt haben oder später. Die nächste Figur könnte jetzt auftauchen oder später. Dann das Archiv: Mache ich das jetzt oder geht sie als Nächstes einfach nach Hause und heult, weil sie feststellt, dass sie unfähig ist, einen längeren Text als eine beschissene zweiseitige Kurzgeschichte zu schr…
E: Entschuldige, aber ich glaube, wir sind nicht mehr so ganz beim Thema.
D: Du musst dich ein bisschen entspannen. Hast du nicht, also ich weiß nicht, so eine Art Bauchgefühl?
A: Ja. Habe ich. Normalerweise. Aber es ist weg. Weg. Finito. Ich sitze da. Ich starre den Bildschirm an. Und ich hasse. Mein. Roman. Projekt.
E: Nein, das tust du nicht. Du hast nur eine kleine Durststrecke. Sowas passiert!
A: Aber es ist nicht nur der Roman. Es ist alles. Schreiben macht mir keinen Spaß mehr. Egal, was ich schreiben will. Nichts geht mehr. Ich habe meine Passion verloren. Mein Leben ist vorbei.
D: Bestimmt nicht. Ich sehe das wie Eleonore, du brauchst einfach mal eine Pause und dann kommt die Lust von ganz allein wieder. Schreiben ist doch, was dich ausmacht. Das merke ich dir an. Und El geht es genau so, nicht wahr?
E: Absolut! Schätzchen, wo wären wir denn ohne dich?
A: Meint ihr wirklich?
E: Klar doch! Wie wäre es, wenn du erstmal deinen Anfang überarbeitest, wenn weiterschreiben gerade hakt?
A: Du meinst, das berühmte Kapitel 2?
E (seufzt): Wenn es dir hilft, sogar das.
A: Aber was, wenn ich den Anfang lese und ihn furchtbar finde?
D: Was, wenn du ihn großartig findest?
E: Wir könnten uns bei passabel treffen. Das wäre wenigstens realistisch.
D (murmelt leise): Die Optimistin in Person.
E: Das war nicht leise genug. (Tritt ihm auf den Fuß.)
D: Autsch!
E: Du könntest auch eine Szene schreiben, die gar nicht im Roman vorkommt, aber dich irgendwie beflügelt.
A: Und die wäre?
E: Ähm…
D: Also ich hätte da eine Idee! Soweit ich weiß, hängst du doch gerade an der Therapiesitzung?
A: Ja, genau.
D: Weißt du eigentlich, wie Jules erste Sitzung ablief?
A: Nicht wirklich. Ich habe vage Andeutungen im Kopf.
D: Schreib die! Denn zufällig weiß ich, dass El…
E: Untersteh dich! Woher weißt du überhaupt davon? Du warst nicht dabei! Wenn ich mich recht erinnere, warst du nicht mal in der Stadt! Überhaupt spielst du im Roman noch gar nicht mit – (blickt zu A): Wieso ist er überhaupt schon entwickelt?!
A: Ähm, weil… weil…
D: …sie mich für Hintergrundinfos brauchte…
A: …die am Ende alle gelogen waren.
D: Wir haben schon wieder den Faden verloren. Es ging um Schreibblockaden.
E: Also ich finde, wir sind genau richtig!

Fortsetzung folgt. Vielleicht 😉

Zerknülltes Papier
Photo by Richard Dykes on Unsplash

Die kleine Kolumne über die Tücken des (Roman)-Schreibens

von Jana, Lesezeit < 10 Minuten

Kapitel 2: Spannungsbogen

Es diskutieren die Autorin (A) und zwei ihrer Romanfiguren: Eleonore (E) und Damian (D), Eltern der Hauptfigur Jule. Die beiden haben sich scheiden lassen, als Jule fünf war (mittlerweile ist sie Mitte zwanzig).

A: Kapitel 2, Überarbeitung Nr. 57, zumindest gefühlt.
E: Oh, bitte, lass es!
A: Wie bitte, wieso?
E: Weil es nicht besser werden wird. Es sei denn, du hast endlich gemerkt, woran es liegt.
D: Woran was liegt?
E: Unsere Klappertastenfrau überarbeitet zum wiederholten Mal Kapitel 2, was gut ist, denn es funktioniert nicht – was sie auch merkt, aber sie merkt nicht, WARUM es nicht funktioniert.
A: Und du weißt das natürlich?!
E: Ja, ich spiele nämlich das ganze Kapitel lang mit und es ist LANGWEILIG.
D: Ich dachte, in Kapitel 2 tötest du mit Sandy fünf Flaschen Champagner? Klingt für mich nicht sehr langweilig… oder hast du verlernt, zu feiern?
E: Sehr witzig! Nein, das bekommen wir sehr gut hin. Allerdings passiert das 1. Im Hintergrund und ist 2. Eine Party eine statische Sache, wenn es 3. Um die Figur geht, die gar nicht mit feiert, nämlich Jule!
D: Das erscheint mir tatsächlich logisch.
A: Ja, du hast Recht, verdammt…
E: Also, was hast du nun vor in Kapitel 2? Noch weitere wenig zielführende innere Monologe über das Verhältnis meiner Tochter zu mir?
A: Ähm… also… ich verweigere die Aussage.
E: Dachte ich mir doch: Lass es!
A: Ja, soweit war ich jetzt auch schon. Aber wie wäre es mit was Konstruktivem?
D: Genau, El, wenn du schon weißt, was nicht funktioniert, was würde denn funktionieren?
E: Für mich? Oh, ein attraktiver Pizzabote!
A/D: Nein!
D: Ging es nicht außerdem um Jule?
E: Für die wäre der auch nicht schlecht!
D: Meine Tochter datet keinen Pizzaboten!
E: Warum nicht? Hast du ein Problem mit Pizzab…?
A: Entschuldigung, können wir bitte zurück zum Thema?! Das Kapitel funktioniert nicht!
E: Das Kapitel ist eigentlich prima, der Spannungsbogen funktioniert nicht!
A: Okay…? Nein, ich kapier es nicht.
E: In Kapitel 1 steht Jule vor Herausforderungen, im zweiten kommt sie nach Hause und bricht zusammen. Entweder du machst das sehr kurz oder sie muss noch irgendetwas überwinden oder erreichen bevor sie zusammenbricht. Da muss noch irgendeine Stufe rein, etwas… keine Ahnung! Du bist doch die Autorin, denk dir was aus! Etwas beschäftigt sie im Kopf und als sie endlich die Lösung hat, fällt ihr auf, dass das jetzt der Triggerpunkt war und bumm!
D: Ich finde es irgendwie befremdlich, wie sachlich du über die Inszenierung des Nervenzusammenbruchs unserer Tochter reden kannst.
E: Oh, komm du mir nicht mit Vorwürfen! Du bist schließlich an allem schuld!
D: Moment mal, ich?!
E: Ja, du…
A: Verzeihung?! Stopp! Anderes Thema. Figurenentwicklung kommt noch.
E/D: …
A: Also, ich denke, ich weiß jetzt, was ich ändern muss. Danke!
E: Na, hoffentlich! Auf noch so eine zähe Überarbeitung habe ich nämlich keine Lust.
D: Vielleicht lässt sie dich ja doch in Kapitel 3 sterben, dann hast du bald deine Ruhe…
E: WTF!!!

Die kleine Kolumne über die Tücken des (Roman-) Schreibens

von Jana, Lesezeit < 10 Minuten

„There are three rules for writing a novel. Unfortunately, no one knows what they are.“ Dieses Zitat von W. Somerset Maugham ist zur Zeit irgendwie mein Leitstern, ich stecke nämlich mittendrin im Roman schreiben (ja, okay, am Anfang). Dabei musste ich feststellen, dass die ganze Theorie aus den unzähligen Schreibkursen und Workshops den Roman nicht alleine schreibt. Tatsächlich weiß ich meistens nicht genau, was ich da eigentlich tue. Zum Glück bekomme ich tatkräftige Unterstützung durch zwei meiner Romanfiguren – ohne die würde das ganze Projekt vermutlich völlig in die Hose gehen.

Kapitel 1: Der erste Satz

Es diskutieren die Autorin (A) und zwei ihrer Romanfiguren: Eleonore (E) und Damian (D), Eltern der Hauptfigur Jule. Die beiden haben sich scheiden lassen, als Jule fünf war (mittlerweile ist sie Mitte zwanzig). Eleonore war zwischenzeitlich noch drei weitere Male verheiratet.

Der erste Satz: „Der Raum ist dunkel und kalt.“

A: Also das ist jetzt natürlich nur der erste Entwurf. Mit irgendetwas muss man ja anfangen.
E: Wer ist „man“? Hoffentlich nicht du, denn ehrlich, Schätzchen, also wenn DAS der Anfang ist…
D: El, jetzt lass sie doch mal. Sie hat ja nicht Unrecht, mit irgendeinem Satz muss der Roman schließlich anfangen.
E: Ja, aber doch nicht mit diesem! „Der Raum ist dunkel und kalt.“ Der erste Satz soll idealerweise den ganzen Roman vorwegnehmen. Wer steht denn bitte auf 500 Seiten dunkel und kalt? Ich jedenfalls nicht!
A: Also den ganzen Roman vorwegnehmen…
D: Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass das…
E: Natürlich geht das! Jorge Amado in „Tote See“: „Die Nacht kam zu früh.“ – Da weiß der Leser ganz genau, was ihn erwartet. Oder Sven Regener in „Wiener Straße“: „Die Tür fiel zu und es war zappenduster.“ – Brilliant, wenn ihr mich fragt.
A: Du liest gerne?
D: Du kennst Sven Regener?
E: Michel mochte ihn.
D: Welcher war das, der mit ohne Haare oder der Langweilige?
E: Als hättest du nicht auch Frauen nach mir gehabt!
A: Verzeihung, aber könnten wir zum Thema zurück?
E: Natürlich, aber was erwartest du, wenn du ausgerechnet UNS beide zur Diskussion bittest?
D: Eleonore, bitte, wir sind doch erwachsen.
A: Eben. Also wäre es wirklich gut, wenn ihr etwas dazu sagen könntet. Zum ersten Satz.
D: Richtig. Ich finde… also immerhin hast du angefangen, das ist ja schon mal… ein Anfang.
E: Wow, also DIESEN literarischen Erguss würde ich mir aufschreiben. Spätestens, wenn du mal deine Autobiografie schreibst, kommt der gut. Er beschreibt super, … ja, auch egal.
A: Was soll das heißen? Was beschreibt er super?
E: Na, der ERSTE Versuch einen Roman zu schreiben, ist das ja auch nicht.
D: Wenn du so weiter machst, wird der hier auch nichts. Wer möchte schon 500 Seiten mit DIR verbringen?
E: Ich bin eine Nebenfigur.
A: Ich könnte sie auch in Kapitel drei sterben lassen.
E: Untersteh dich!
A: Wir waren übrigens beim ersten Satz…
E: …
D: Ich glaube, den ersten Satz solltest du dir ganz am Ende überlegen. Wenn der letzte Satz geschrieben ist, ergibt er sich von selbst. Sollen die beiden nicht zusammenhängen, einen Bogen bilden, oder so*? Und im Moment weißt du doch noch nicht mal, wie es ausgehen soll.
E: Wie jetzt, im Ernst? Gibt es etwa keinen Plot?!
A: Doch, doch, natürlich. Also so weitgehend jedenfalls. Das ist nächste Woche Thema… glaube ich.
E: „Sie betrat den Raum und wusste nicht, wo sie war.“
D: Den finde ich gut… überraschender Weise.
A: Ja, der ist wirklich nicht schlecht. Er nimmt Jules Unsicherheit den Roman über ziemlich gut vorweg.
E: Nicht nur ihre! Eigentlich war der auch ironisch gemeint.
A: Achso. Na ja. Trotzdem danke. Denke ich.

*Anmerkung zu Damians Halbwissen: „Der erste Satz kann nicht geschrieben werden, bevor der letzte Satz geschrieben ist.“ – Joyce Carol Oates, amerikanische Schriftstellerin

 

Photo by Pim Chu on Unsplash
von Jana, Lesezeit ca. 10 Min.

!Triggerwarnung für depressive Gedanken

Es gibt diese Tage, da ist die Welt um sie herum in bleiernes Grau getaucht. Farben, Geräusche, Wärme erreichen sie nur durch einen Filter, der ihnen jegliche Bedeutung nimmt. Jegliche Wirkung. Sie könnte mitten unter ihren Freunden sein, mit ihnen lachen, trinken, reden – und würde doch nichts spüren. Sie kann arbeiten, funktionieren, ein wertvoller Teil der Gesellschaft sein, aber sie ist es nicht wirklich. Sie spielt es. Die leere Hülle, die sie gerade durch den Tag bringt, gibt eine oscarreife Performance ihrer Selbst ab. Sie hasst es.

Lass dich nicht so gehen.

Reiß dich zusammen.

Manchmal versucht sie darüber zu sprechen, aber irgendwie kommen die Worte nicht an.

‚Du musst mehr unter Leute gehen`, sagen die Leute dann. ‚Ich habe gehört, laufen hilft total`, sagen die Läufer. ‚Du darfst dich nicht verkriechen`, sagen die Extrovertierten. ‚Du bist ja nicht wirklich krank`, sagen die Gesunden.

Manchmal wünscht sie sich, ihr würde an diesen Tagen ein Bein fehlen oder ein Arm. Damit es offensichtlich ist. Aber das ist es nicht. Und nein, sie will nicht laufen oder unter Leute. Sie will sich ihre Decke über den Kopf ziehen und die Welt draußen lassen.

Sie tut es, als sie endlich zu Hause ist. Die Decke hängt zwar nur über ihren Schultern, aber hier auf ihrem Sofa geht es ihr besser. Und gleichzeitig schlechter. Sie hat Hunger und Durst, doch sie kann sich nicht aufraffen, bis in die Küche zu gehen. Alle Energie, die vielleicht heute morgen noch da war, ist für die Performance draufgegangen. Also sitzt sie nur da, die Hände um Legolas geschlungen, eine selbstgenähte Stoffpuppe. Brauner und grüner Samt, abgenutzt und verblichen und eine körnige Füllung, die gegen schwache Nähte drückt, doch noch ist er heil und sie hält ihn in den Händen wie ein Rettungsseil.

Ihre Schwester hat ihn ihr geschenkt vor vielen Jahren, als es noch in Ordnung war, ein Fangirl zu sein. Als sie beide unsterblich in den unsterblichen Elbenprinzen verliebt waren und ihm trotzdem eine Zukunft mit dem Zwerg wünschten. Das selbstgemalte Comic-Heft muss noch in irgendeiner Kiste liegen. All ihre Fantasie hatten sie hineingesteckt in die Irrungen und Wirrungen zwischen Legolas und Gimli bis beide sich endlich ihre Liebe gestanden, heirateten und kleine Zwelblinge bekamen. Und jetzt? Jetzt hält sich ihre Schwester für erwachsen und behauptet, Fandom sei ein Ableger indischer Mythologie und nicht erstrebenswert. Vielleicht hat sie recht.

Ein lauter Knall dringt aus dem Hausflur. Sie erschrickt, presst Legolas zusammen und spürt, wie die Puppe nachgibt. Ein Strom kleiner Perlen dringt aus dem Stoff, fällt auf Sofa, Boden, Tisch.

Wieder ein Knall.

„DU ELENDES ARSCHLOCH!“, keift eine schrille Frauenstimme. „DU HURENSOHN!“

„Ach, sei staad!“, brüllt ein Mann zurück, „Mid dir red i gar ned, du voglwuide Britschn!“

„Scheißkerl!“

Wieder ein Knall und endlich wird es still. Sie spürt die Taubheit in ihrem rechten Arm, das Zittern ihrer Hand, ihr Atem geht schneller. Sie mag es nicht, wenn geschrien wird, aber das sie etwas spürt, ist ein gutes Zeichen.

Sie besieht sich Legolas` Reste. Die gerissene Naht ist ausgefranzt, der Stoff so dünn und abgenutzt, dass eine Reparatur wohl zum Scheitern verurteilt ist. Die Globuli aus seinem Innern haben sich auf Erkundungsreise gemacht, in die Schale mit dem Dominosteinen, die hart wie Kieselsteine sind. Um den Kerzenstumpf, der Docht im getrockneten Wachs ertrunken, die Dekozweige ebenfalls trocken und braun. Über den restlichen Tisch, die Packung Taschentücher umfließend, auf den Boden, wo sie vom Teppich daran gehindert wurden in jede Ecke des Zimmers zu rollen. Sie stellt sich vor, wie sie aufsteht, in die Küche geht und den Staubsauger holt. Weiß schon, welches Bein sie als erstes auf den Boden setzt. Doch dann bleibt sie doch liegen. Sie hat Hunger, doch um sich an die Dominosteine zu wagen, müsste sie Tee kochen, um sie einzuweichen. Sie umfasst die Reste von Legolas noch fester. Sie fühlt sich so schwer, keine Sackkarre könnte sie jetzt bewegen.

Das Telefon klingelt. Sie rührt sich nicht vom Fleck. Vielleicht ist es ihre Schwester, die von ihrem neuen Job erzählen will. Vielleicht ihre Mutter, die doch angeblich immer spürt, wenn es ihren Töchtern nicht gut geht. Vielleicht ihr Vater, der ihr ein Buch empfehlen will, das er gelesen hat. Vielleicht Luisa, die immer noch ihren Toaster hat. Oder Max, der ihr einen Film ausleihen wollte. Sie wird nicht rangehen können, aber vielleicht bringt die Stimme auf dem Anrufbeantworter sie dazu, aufzustehen. Sie überlegt sich, was sie gerne hören würde, was sie dazu bringen könnte, sich zu bewegen.

„Ihr Anruf kann zurzeit nicht angenommen werden, bitte hinterlassen sie eine Nachricht nach dem Signalton.“

Piep.

 

 

Der Text ist im Rahmen einer Schreibübung entstanden, die folgende Vorgaben hatte: Geschichte mit Wörtern: Globuli, Kerzenstumpf, Dominostein, Sackkarre, Comic-Heft, vogelwild

Photo by Maria Oswalt on Unsplash
von Jana, Lesezeit ca. 7 Min

Für den ersten Teil, die Vorgeschichte von Carmen, klickt Ihr hier.

„Es geht um die Zukunft unserer Welten!“

Die Worte unseres Anführers hallten immer noch laut und schneidend in meinem Kopf. Zusammen mit den wenig hilfreichen Ratschlägen wie „Du musst es schaffen!“ und „Wenn du scheiterst, werden wir alle vergehen.“ Als wüsste ich nicht, wie ernst die Lage war. Als hätte ich nicht erlebt, wie unsere Welten zuerst gerettet wurden und dann doch nach und nach vergangen sind. Weil wir feststellen mussten, dass wir ohne die Riesen nicht leben können. Dass ohne die Riesen das Universum kalt und leer geworden ist und wir im Nichts hängen, ohne Ziel, ohne Perspektive und wir langsam selbst zu Nichts werden.

Ich zupfte nervös an meinem Tarnanzug. Ich hatte meine Welt verlassen müssen, um diesen Auftrag auszuführen. Es war nicht schlimm, sie würde bestehen bleiben, wie alle unsere Welten seit Max Oberon und Clarice Stapleton das neue unzerstörbare Polymer entwickelt hatten. Doch wenn ich erfolgreich wäre, dann hätte ich keine Welt mehr, zu der ich zurückkommen konnte. Diesen Gedanken versuchte ich zu verdrängen, während ich die mit Platanen gesäumte Straße entlang in Richtung des Parks schwebte. Die Sonne schien, Vögel zwitscherten und von irgendwoher drang Lachen an mein Ohr. Ich verstand, warum die alten Riesen manchmal vom Frühling sprachen, den es längst nicht mehr gab. Die Sonne in unserer Zeit ließ zu jeder Jahreszeit die Haut der Riesen verkohlen. Sie lebten jetzt unterirdisch und sie starben. Bald würde es keinen von ihnen mehr geben.

Als ich den Park erreichte, hatte ich keine Mühe, die Zielpersonen zu finden. Unser Anführer hatte mich alte Fotos studieren lassen, doch es wäre nicht nötig gewesen. Die Feier zum ersten Prototyp des neuartigen Polymers fand zentral auf einer großen Wiese statt. Vermeintlich wichtige Riesen standen am Rand und ihre kleineren Exemplare spielten in der Mitte.

Ich erkannte die neuartigen Welten, die wie meine unzerstörbar waren zwischen den herkömmlichen meiner Vorfahren. So zerbrechlich, so leicht zu zerstören. Sie alle waren noch dem Schlund unterworfen gewesen, der ihnen die Luft aussagte und sie nach und nach verschrumpeln ließ. Ein grausames Schicksal, zu dem ich sie nun wieder verurteilen würde. Doch die Gemeinschaft aller Welten hatte entschieden: Lieber ein kurzes Leben als eine ewige Existenz im Nichts eines leeren Universums. Denn es war die Herstellung dieses Polymers gewesen, die den Untergang der Riesen einläutete. Soweit wir es nachforschen konnten, wurde ein Gas bei der Herstellung ausgestoßen, das sich in der Luft mit Kohlendioxid zum schlimmsten Treibhausgas aller Zeiten vermischte und die Erderwärmung um ein Vielfaches beschleunigte.

Noch lachten die kleinen Exemplare und selbst Max und Clarice beobachteten, wie eine Riesin mit blauen Haaren und roter Nase auf einer Welt herumdrückte, um sie zu einem tierähnlichen Objekt umzuformen. Ich zuckte zusammen, solche Schmerzen, die eine zarte Welt empfinden musste, nur zur Freude einer quietschenden Bande Riesen. Ich konnte nicht hinsehen.

Max und Clarice applaudierten, dann mischten sie sich unter die Menge. Ich beobachtete Max, er griff nach einer der alten Welten und betrachtete sie, als würde er verstehen, was er in der Hand hielt. Doch er tat es nicht, würde es nie, denn ich war nicht hier, um ihn etwas zu lehren. Ich schwebte in seine Nähe, dann atmete ich tief durch. Ich musste nur seine Schläfe berühren, so konnte ich seine innere Zentrale stoppen. Von dieser Fähigkeit hatten wir lange nichts gewusst, doch seit wir ewig existierten, hatten wir vieles über die Riesen neu gelernt. Max sank zu Boden, doch ich hatte nicht sorgfältig geplant. Die Welt in seiner Hand wurde unter ihm zerquetscht und zerplatzte. Ich hatte sie zerstört.

von Jana, Lesezeit ca. 3 Minuten

Es ist nicht völlig dunkel im Innenbad. Licht scheint durch den Lüftungsschlitz in der Tür, genau wie durch den Rahmen. Die Tür schließt nicht komplett ab. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und ich kann das Innenleben meines Bads erkennen. Den Heizkörper, die Toilette, Waschbecken, Wäscheständer. Endlich auch den Block auf meinen Knien. Die Schrift vermutlich nie, auch später nicht im Hellen [Anmerkung: Doch, war überraschend gut zu lesen!]. Was wollte ich hiermit beweisen? Schreiben im Dunkeln?!
Dunkelheit ist gleich Unendlichkeit. Zumindest in meinem Kopf liegen diese zwei Begriffe so nah beieinander. (Liegt vermutlich an Star Trek.) Da ist so viel, was wir nicht sehen. Es macht Angst und doch auch nicht. In der Dunkelheit verschwinde ich selbst auch, zusammen mit den Sorgen und Schrecken. Zumindest in dieser Dunkelheit. Liegt es am Licht, das nur wenige Meter entfernt ist? Das Wissen, dass dort Leben und Alltag ist, während ich nur kurz Pause mache hinter dieser Tür. Eine Auszeit, eine Art innere Einkehr, denn wirklich sehen tue ich gerade ja nur mein Selbst (und ein Stück roten Teppich direkt unter dem Lüftungsschlitz).
Es gibt noch die andere, umfassendere Dunkelheit. Nachts habe ich mich noch nie sicher und neugierig für die Geheimnisse in den Schatten gefühlt, im Gegenteil. Nachts finden mich immer die Monster. Die Dämonen, die sich tagsüber in verborgenen Winkeln meines Kopfes verstecken. Aber auch da hilft das Schreiben. Sind die Ängste erstmal auf dem Papier, werden aus den Dämonen bellende Hunde und im Licht des Tages lästige Mücken. Zumindest meistens.
Es kommt eben doch darauf an, wie hell das Licht ist, das mich am Ende der Dunkelheit erwartet.

 

Hiermit endet die Reihe „Schreiben überall“ erstmal. Auf mittendrin.blog geht es natürlich weiter. Alles Neue erfahrt ihr auf Instagram! Stay tuned, stay safe.

von Jana, Lesezeit < 5 Minuten

„Wir schließen in dreißig Minuten.“ Wie oft sie diesen Satz schon gehört hat. Sie gibt immer die gleiche Antwort („Das macht nichts.“), reicht die Jahreskarte über den Tresen und bekommt sie mit dem Papierticket zurück. Dann an den restlichen Kassen vorbei, geradeaus und nach rechts. Die Sonderausstellung. Letzter Tag.
Sie hat geglaubt, sich lange genug darauf vorbereitet zu haben, auf das Loslassen und doch gibt ihr das rot leuchtende Hinweisschild einen Stich. Sie nickt der Aufsicht kurz zu, geht in die Räume. Im letzten Saal ist die Wand mit den Fotografien. Er ist leer, wie immer um diese Zeit und sie setzt sich auf die mittlere Bank. Von hier aus hat sie den besten Blick.
„Der Künstler begann mit Fotografien.“ Einmal war sie zu einer Führung hier gewesen. „Sie sehen eine Auswahl von Motiven seiner Heimatstadt. Man kann schon an diesen Fotos seinen außergewöhnlichen Blick für Perspektive erkennen. Wenn Sie genau hinsehen…“
Sie hat es sofort erkannt. Das windschiefe Dach, die schmale Regenrinne, die die Vorderfront in der Mitte teilt und auf der Rückseite der Walnussbaum, majestätisch und ausladend überragt er das Hexenhäuschen. So hatten sie es getauft, Hexenhäuschen. Wenn sie die Augen schließt, dringt der Geruch der Küche zu ihr, nach Äpfeln und Moder, tanzen Staubflocken vor ihren Augen im Sonnenlicht, das durch die blankgeputzten Scheiben fällt. Sie fühlt die Stille auf ihren Schultern, die in der guten Stube einzuhalten war, wo ihr Großvater mit der Pfeife im Sessel saß und vor sich hin dachte. Sie spürt das Gras unter ihren Fußsohlen, schmeckt die frisch geknackten Walnüsse auf der Zunge.
Wenn Sie genau hinsehen. Steht dort hinter dem Fenster im ersten Stock nicht jemand? Das Schlafzimmer ihrer Großeltern. Winkt die Person ihr nicht gerade zu? Vielleicht ihre Großmutter als junges Mädchen?
Vielleicht nur ein Schatten, eine optische Täuschung. Das Hexenhäuschen gibt es schon lange nicht mehr.
„Verzeihung, aber wir schließen jetzt.“ Sie hätte das Bild kaufen sollen, vielleicht war das sogar möglich. Oder wenigstens den Ausstellungskatalog, aber sie weiß, sie wird es nicht tun. Sie will die Erinnerungen nicht mitnehmen, zwölf Wochen Ausstellung waren genug.
„Ist gut, danke.“ Sie steht auf und fragt den Aufseher, welches Bild ihm am besten gefällt. Es ist ein Gemälde vom Meer.
„Ein Klassiker, ich weiß, aber es erinnert mich an zu Hause, verstehen Sie?“
Nur zu gut.

 

Diesen Text habe ich auch zu Hause fertig geschrieben. Ich hatte tatsächlich nur dreißig Minuten bis Schließung und habe in dieser Zeit lieber die Atmosphäre mehr auf mich wirken lassen.

von Jana, Lesezeit < 5 Min.

Freiheit ist Musik, laut und frei unter einem sich langsam verdunkelnden Himmel.
Menschen sind anders auf Festivals. Zugänglicher. Vielleicht liegt das aber auch an mir. Ich fühle mich dort immer daheim.
Ich bin dann in einem Garten hinter einer Villa und die ganze Welt der Musik öffnet sich für mich. Ich bin wieder 13, 14, 15, das Herz voller Schmerz und Verwirrung. Die Welt grausam und kalt, nur nicht hier. In diesem Garten ist die Welt für drei Tage in Ordnung. Trotz Dauerregen, brennender Sonne, müffelnden Toitois, halbgarem Döner und ab und an musikalischen Fernwelten.
Es ist ein wunderbarer Ort, für eine Weile bin ich sicher und aufgehoben. Zuhause warten Mitschüler, unter denen ich auffalle wie ein Panda in buntem Karomuster. Und wir wissen, was passiert, wenn man 13, 14, 15 ist und partout nicht dazupassen will.
Im Garten kennt man sich. Im Garten ist man einer von vielen.
Dieses Gefühl überkommt mich immer, wenn ich an ähnlichen Orten bin. Eine kleine Bühne, Himmel, ein bisschen Grün. Auch wenn es hier nur Sträucher sind, die sich tapfer gegen die städtische Versiegelung wehren. Bunte Lichter, buntes Graffiti und dieser Schlag Menschen, den man immer dort findet, wo gute Musik gespielt wird.
Man kennt sich, selbst wenn man sich noch nie gesehen hat.
Vielleicht bilde ich mir das alles aber auch nur ein. Auf jeden Fall bin ich jetzt hier und irgendwie auch dort. Und ganz bestimmt Daheim.

von Jana, Lesezeit ca. 5 Min.

Tom hasste die Höhe. Er liebte Geisterbahnen, doch in ein Riesenrad hätte er nie einen Fuß gesetzt. Sie dagegen schaute sehnsüchtig auf die Gondeln, die hoch in die Lüfte stiegen und egal wie klein oder albern das jeweilige Fahrgeschäft tatsächlich war, jedes Mal sprang ihr die Liedzeile in den Kopf. „Über den Wolken…“ Wenn sie wenigstens das hätte tun können. Die Ängste und Sorgen in die nächste Kabine packen und mitfahren lassen, wieder und wieder im Kreis. Noch vor der letzten Runde hätte sie sich davon gestohlen und sie dort gelassen. Doch Tom zog sie weiter.
Sie hasste Geisterbahnen. Sie konnte nicht verstehen, warum man sich freiwillig fürchten wollte. Er sagte, das wäre nur Spaß und sie müsste lockerer werden. Sie kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu. Er lachte und schoss ihr später einen Teddybären mit Herzstickerei. Er war niedlich und flauschig und nicht das, was sie wollte.
Sie steht allein vor dem Riesenrad, zögert. Es ist klein, voller bunter Leuchtdioden und alberner Bemalung. Soll sie wirklich? Die blondgelockte Frau im Kassenhäuschen winkt ihr auffordernd zu.
Das Rad setzt sich in Bewegung, sie mit ihm, hoch hinaus. Die Sonne blendet und im ersten Moment sieht sie nichts. Doch nach und nach gewöhnen sich die Augen an das Licht, werden die Häuser unter ihr kleiner, die Autos zu Spielzeugen, die Menschen zu Schachfiguren. Der Boden der Tatsachen schwindet. Sie will die Augen schließen, um den Moment zu genießen und schüttelt selbst den Kopf über sich. Nicht eine Sekunde wird sie verpassen. Nicht eine Sekunde Höhenflug. Als sie sich dem Boden nähert, schallt laute Musik zu ihr. „Somewhere over the rainbow“. Fast so schön wie über den Wolken.
Sie darf lange in der Kabine sitzen bleiben. Oben fällt das ihr das Atmen leichter. Oben fühlt sie sich beinahe frei.
Als sie aussteigt und die Türen sich hinter ihr schließen, sitzt der Teddybär mit Herzstickerei noch immer auf der Holzbank. Er wird einige Runden allein bleiben, bis er einen neuen Besitzer gefunden hat.
Bevor sie den Ausgang erreicht, dringt Frank Sinatra aus den Boxen. „I did it my way.“ Ganz genau.

 

Bei diesem Text habe ich minimal geschummelt: Idee und erste Sätze sind während der Riesenrad-Fahrt entstanden. Fertig geschrieben habe ich ihn dann an meinem Schreibtisch…

von Jana, Lesezeit < 5 Min.

Montags kauft niemand Möbel. Die sorgsam platzierten Dekogegenstände stauben ein, in den eingerichteten Muster-Wohnungen lebt heute kein Mensch. Verlassen liegt die Fundgrube da, ein Sammelsurium vergessener, leicht angeschlagener Möbelstücke, die niemand will. Heute nicht. Morgen nicht. Nie mehr.
Das rote Sofa in der Ecke sieht aus, als stünde es nicht erst seit gestern hier. Genau genommen sieht es nicht mal aus, als wäre es neu, eher so, als hätte es schon viele Leben begleitet, viele Besitzer getragen. Als hätte es Jeansstoff und Seidenkleider und müffelnde Socken ertragen, Hundehaare und verkippten Kakao. Setzte ich die Maske ab und röche daran, würde es nach gefärbten Stoff und Holzverkleidung riechen oder nach Wohnen, nach Leben?
Wie riecht Leben? Ein bisschen muffig vielleicht und nach den Blumen auf dem Tisch, nach angebratenen Zwiebeln, nach Seife, Waschmittel, nach Staub und Schweiß, nach dir und mir.
Ich habe Mitleid mit diesem Sofa, es ist für Menschen gemacht und nicht für diese dunkle Ecke am Ende des Möbelhauses, in die sich heute niemand außer mir verirrt. Wo es gespenstisch still ist, abgesehen von den halb verschluckten Tönen der ewig-nervigen Werbejingles, nur unterbrochen durch ein paar völlig überhörte Dauerhits.
Das ist kein Ort zum Bleiben. Doch ich kann es nicht mitnehmen.
Ich wünsche ihm eine Familie. Ich wünsche ihm das Leben oder die vielen Leben, nach denen es jetzt bereits aussieht. Ich wünsche ihm, dass jemand es betrachtet und nicht die ramponierten Stellen sieht, sondern die Schönheit darunter. Die Schönheit, die sagt: Ich bin kein Möbelstück, ich bin ein Stück Leben.

von Jana, Lesezeit < 5 min.

It`s quite perfect here. Er wirkt perfekt, mit sich im Reinen. Entspannt zurückgelehnt, träumend, die Augen geschlossen, sunday-morning-mood. Nichts muss, keine Termine, keine Verpflichtungen, nur sein. Ein Ruhepol, umgeben von hellen, schmucklosen Mauern, kühl gegen die Hitze des schwülen Sommers.
Die Stimmen der Besucher hallen durch die Gänge, zurückgeworfen von den nackten Mauern, vielfach verstärkt. Wie in einer Bahnhofshalle am Sonntagabend kurz vor Abfahrt des letzten Zuges, im Aufbruch befindlich zurück nach wer weiß wohin. Hektisch, eilig, alle müssen, niemand will. Streit und Zorn und Abschiedsschmerz.
Ihn kümmert das alles nicht. Nicht die Welt, nicht ihr Schmerz. Ein Monument aus Stein. Blind, taub und schön. Makellos.
Er ist nicht allein. Sie tanzt um ihn herum, unablässig, Runde für Runde, eine eifersüchtige Beschützerin. Nur wovor? Die Welt kann ihm nichts anhaben. Und ich, ich sitze nur hier, beobachtend, neidisch auf seine gelassene Ignoranz, von der ich so gerne etwas abhaben möchte. Von der Haut aus Stein, von dem nach innen gerichteten Blick, auf ewig der Welt entrückt.
Der nächste Schwall von Stimmen, eine unaufhaltsame Welle Lärm und Hektik und Aufbruch. So fehl an diesem Ort.
Und wieder eine Runde der Beschützerin, die fragenden, ungeduldigen Blicke, die mich treffen. Was tut sie da?
Immer noch innehalten. Immer noch beobachten.
Und dann ehrfürchtig unter der strahlenden Kuppel die Erkenntnis: Du bleibst hier, für immer. Fern von dieser Welt in deinem kleinen Kosmos, blind und taub für uns. Der immer gleiche Raum, nur du, sonst nichts. Ich kann gehen, kommen und gehen wie die hallenden Stimmen, nur Besucher in deinem Stückchen Ewigkeit.
It´s quite perfect here. Doch bist du glücklich?
Ich jedenfalls gehe. Zurück in die schwüle Hitze des Sommers.

Der Text entstand im Rahmen eines Schreibexperiments „Schreiben überall“, das der Frage nachgeht, ob und wie sich der Ort, an dem man schreibt, auf den Text auswirkt.

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

Entstanden Ende März 2021, 6. und letzter Teil der „Morgens vor / während Corona“-Reihe. Alle Vorgänger findet Ihr ab hier.

„Überleben allein ist nicht ausreichend.“
Dieser Satz ist aus Star Trek. Zumindest laut dem Buch, durch das er sich als roter Faden windet und das sie mal gelesen hat und sehr mochte. Darin ging es um das Leben eben jener Überlebender, etwa zwanzig Jahre nach dem ein Virus etwa 90 Prozent der Menschheit ausgerottet hatte.
„Überleben allein ist nicht ausreichend.“
Sie muss in letzter Zeit oft an diesen Satz denken. Eigentlich das ganze letzte Jahr. Ein Jahr hält er schon an, der Ausnahmezustand. Das Warten auf „wenn es erstmal vorbei ist“. „Es“ ist das Virus, das Abstand halten, das „Nichts geht“. Bei ihr selbst ging auch eine ganze Weile nichts mehr. Seit etwa vier Wochen hat sie wieder einen Alltag, zumindest im Versuchsstadium. Im Büro hat sich vieles verändert (nein, der Bus ist immer noch oder schon wieder zu voll, aber ehrlich, das hatten wir doch schon ausführlich), Kollegen sieht man nur noch über Bildschirme und auf den Gängen begegnet man sich mit Maske. Vieles geht jetzt elektronisch, das, was früher nie und nimmer elektronisch gegangen wäre, denn bitte, wir sind eine Behörde und das haben wir schon immer… – „Schon immer“ wurde aussortiert und sie gewöhnt sich überraschend schnell daran. Ist mega stolz auf die erste geglückte Webkonferenz. (Davor hat sie sich kurz zu alt für diese neue Zeit gefühlt und sich geschworen, nie wieder die Augen zu verdrehen, wenn ihre Mutter sie um Tipps für die Bedienung ihres Smartphones bittet.)
Also Alltag. Und das Drumherum. Denn das Drumherum, das hat sie gelernt, das hilft gegen den Überlebensmodus. Der Modus, in dem es nur noch ums Funktionieren geht. So lange bis nichts mehr funktioniert, nichts mehr geht, genau wie im Draußen. Im Draußen ist das scheiße, denn wenn nichts geht, geht mehr und mehr verloren. Gaststätten, Theater, Kunst, Kultur – nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was vor unseren Augen stirbt. Im Inneren läuft das ganz ähnlich ab, alles verschwindet, die Begeisterung, die Freude, der Genuss, alles wird grau und still und sinnlos und dann… „Überleben allein ist nicht ausreichend.“
Wie wenig spürt sie erst, seit sie wieder lebt. Seit alles wieder Farbe gewonnen hat. Seit ihre Kreativität wieder Funken sprüht. Seit sie wieder lachen und schreiben und malen und Geschichten träumen kann. Diese Fantasiewelt in ihrem Kopf neu entdecken kann, wie die Enterprise die unendlichen Weiten des Weltraums. (Ja, Star Trek kann sie auch wieder schauen. Das konnte sie nicht mehr. Die Konzentrationsspanne hatte einfach nicht…)
Überleben. Leben. Und nun der nächste Lockdown. Wieder alles runterfahren. Das Überleben sichern, denn die Wahrheit ist auch: Leben ohne Überleben ist nicht möglich. Der Virus ist mittlerweile auch in ihrer Familie angekommen und leider mit dem schlechtmöglichsten Ausgang.
Leben und Überleben. Das eine geht nicht ohne das andere. Das andere wird unerträglich ohne das eine. „Life`s that way“ lautet der Titel eines anderen Buches, das sie sehr gemocht hat. In diesem ging es um das Weiterleben nach einem Verlust. Wir alle verlieren im Leben. Etwas oder jemanden. Wir verlieren, lassen fallen, werfen weg, stürzen – und dann stehen wir wieder auf. „Life`s that way.“ Vergessen wir vor lauter Überleben nicht das Leben. Denn – und nun muss noch ein Filmtitel herhalten, damit es ausgeglichen ist – „Das Leben ist schön“. Und das kann sie wirklich nur unterstreichen.


Erwähnte Bücher: „Das Licht der letzten Tage“ von Emily St. John Mandel; „Life`s that way“ von Jim Beaver

1

Stille

von Jana, Lesezeit ca. 3 Minuten

Der Text ist nicht wirklich eine Fortsetzung zu dem Text letzter Woche, ich hatte aber diesen Martin beim Schreiben im Kopf. (Tut mir leid, Martin!)

Stille, hatte Martin einmal gesagt, sei einfach nur das Gegenteil von Lärm. Er sagte das, um seine Verwirrung zum Ausdruck zu bringen, darüber, dass Menschen der Stille eine schon fast mystische Bedeutung andichten. Heilende Kräfte, eine Quelle der Energie, sich selbst finden und den eigenen Weg – all das soll die Stille bewirken können, dabei, fand Martin, war die Stille eben doch nur das: Das Gegenteil von Lärm.
„Wenn ich mich unbedingt selbst finden will“, ergänzte er, „dann kann ich das auch umgeben von Presslufthämmern. Es geht um Konzentration, weiter nichts.“ Aber für Martin war Stille auch kein besonders häufiger Zustand. Wenn er nicht redete, den stetigem Gedankenstrom in seinem Kopf nicht nach außen trug, dann hörte er Musik und wenn er keine Musik hörte, dann lauschte er auf seien Umgebung. Für Martin waren Geräusche das Leben, Lärm war nur ein Ausdruck intensiven Lebens. Vielleicht verachtete er die Stille nur, weil er sie nicht kannte.
Ohne ihn ist es seltsam still in der Wohnung und Birgit weiß nicht, wohin mit sich. Sie braucht Geräusche, braucht Lärm um sich, doch was immer sie tut, die Musik aufdrehen, mit den Tellern klappern, Staub saugen – nichts verdrängt die Stille. Als wäre sie ein schwarzes Loch, das alle Geräusche verschluckt. Als wäre sie viel mehr als nur das Gegenteil von Lärm. Als wäre Stille nicht nur die Abwesenheit von Geräuschen, sondern auch von Leben.
Und genau das ist sie ja auch, jetzt und hier, in der Zeit ohne Martin. Die Stille ist nicht einfach nur still, sie schreit und brüllt und tobt.
„Du hast dich geirrt“, flüstert sie in den leeren Raum. „Stille ist nicht das Gegenteil von Lärm. Sie ist die Steigerung. Sie ist so laut, dass wir davon taub geworden sind. Ich bin davon taub geworden. Oder ich wünschte es.“
Sie wünschte es, doch noch kann sie die Worte, die die Stille schreit überdeutlich hören. Zwei sind es und sie erzählen eine ganze Geschichte. ´Du fehlst`, sagen sie. Du fehlst.

Aufwärm-Schreibübung zum titelgebenden Wort

Mit diesem Text verabschiede ich mich in die Sommerpause. Voraussichtlich ab September geht es weiter mit der Donnerstagsgeschichte! Auf diesem Blog wird es aber nicht still, wir melden uns über den Sommer. Folgt uns gerne auf Instagram um nichts zu verpassen!

Wasserfall

Photo by Nathan Anderson on Unsplash
von Jana, Lesezeit ca. 3 Minuten

„Wo bist du?“, frage ich. Durch das Telefon klingt es, als würde Martin inmitten eines Wasserfalls stehen. Ich kann ihn kaum verstehen, nur Rauschen, unglaublich laut, unglaublich nah, obwohl mindestens dreihundert Kilometer zwischen uns liegen. Vorausgesetzt, ich habe seinen Reiseplan richtig im Kopf. Wenn dieser Reiseplan überhaupt noch so stimmt, immerhin ist schon Woche fünf seiner Rucksacktour.
„Am Triberger Wasserfall“, sagt er auch tatsächlich, brüllt es eher, seine Stimme klingt verzerrt und fremd und doch so nach Martin. Begeisterung schwingt mit, ich kann ihn vor mir sehen, strahlend das fallende Wasser bestaunend, während in seinem Kopf auf ganz ähnliche Weise eine Millionen Gedanken durcheinander purzeln. Ein vollgepackter Krimskramsladen, in dem man alles, wirklich alles findet, nur nicht das, was man gerade sucht.
Martin redet von Farben und Vögeln, einem Käsesandwich, Fotografie, roten Boxershorts und einem Fahrrad. Ich verstehe nur Bruchstücke, es ist einfach viel zu laut und es würde wohl Sinn machen aufzulegen, aber ich höre ihm so gerne zu. Ich spüre das Lächeln um meine Lippen, das erste Lächeln seit langem.
„Wie geht´s dir?“, fragt er irgendwann, vielleicht fünf, vielleicht fünfzig Minuten später und ich bekomme kein Wort heraus. „Wolltest du etwas bestimmtes?“ Die Frage ist gestellt, steht zwischen uns, sperrig und schwer und noch immer fehlen mir die Worte.
„Ich komme zu dir“, sagt er irgendwann, eine Feststellung, einfach so.
„Danke“, ist alles, was mir über die Lippen kommt.
Er hört jetzt nicht auf zu reden. Das Rauschen im Hintergrund wird nach und nach leiser, seine Stimme lauter, klarer, wärmer, während er mir von tausend Dingen erzählt, Beobachtungen am Wegesrand.
„Ich bin bald bei dir!“, schließt er. Ich höre die Autotür zuschlagen und dann ist er weg, nur für eine Weile, die ich aushalten kann. Ich lege den Hörer zu Seite, lasse mich auf das Sofa fallen.
Und endlich, zum ersten Mal seit der Nachricht, erlaube ich mir zu weinen.

Aufwärm-Schreibübung zum titelgebenden Stichwort

Aussteigen

von Jana, Lesezeit ca. 10 Minuten

Dieser Text entstand im Januar 2021 und ist die Fortsetzung zu Abschiede (kann aber auch allein gelesen werden).

Ein neues Jahr. Trotz Stillstand, trotz Innehalten, trotz Lockdown. Es ist einfach passiert, so wie viele Dinge einfach passieren. Die Welt hält nicht an, doch diesmal ist sie erleichtert, dass es weiter geht, auch bei ihr. Sie fährt schon eine Weile wieder Bus, jeden Morgen, ganz knapp nach der Rushhour, sodass ihr das morgendliche Chaos erspart bleibt. Vielleicht gibt es aktuell aber auch gar kein Chaos, immerhin ist Lockdown 2.0. Nicht einmal Weihnachten blieb verschont und ihr ist schon klar, dass die Lage ernst ist, aber es gab Momente, da hätte sie sich fast einen Aluhut gekauft.
„Weihnachten mit der Familie, ja – aber bedenken Sie, wie viele Weihnachten Sie noch mit ihren Eltern haben wollen.“ Na viele, oder etwa nicht? Herzlichen Dank für nichts! So, als würde man seinem Kind einen Schoko-Weihnachtsmann schenken und ihm beim Essen haarklein erzählen, wie gefährlich Zucker ist. Nur ohne die Schokolade und dafür mit bitterem Ernst. „Sie dürfen Ihre Eltern besuchen, aber bitte nicht reisen.“ Wissen PolitikerInnen wirklich so wenig über das Land, das sie regieren? In ihrem Abitur-Jahrgang jedenfalls ist die Mehrzahl der Leute weit weg von zu Hause gezogen, weil das war so. Anders ging es gar nicht, wenn man eine Arbeit wollte, die einem den Lebensunterhalt finanziert. Eltern besuchen heißt Reisen und Politik ist offensichtlich lebensfremd. Lebensfremder sind nur die Menschen mit den Aluhüten (deswegen hat sie doch keinen), die maskenlos und eng umschlungen ins Verderben tanzen und darauf auch noch stolz sind. Die können ja gerne tun und lassen, was sie wollen, denkt sie, wenn sie nur nicht nach den Demos mit dem Zug nach Hause fahren würden. Dem Zug, in dem auch sie sitzt und viele andere unschuldige Mitmenschen. Verantwortungslos. Nein, nicht rebellisch oder augenöffnend. Einfach nur verantwortungslos.
Über Verantwortung denkt sie gerade viel nach, über ihre und die der anderen, unabhängig von Aluhüten. Es geht um Schuhe. Sie neigt dazu, sich fremde anzuziehen. Viele fremde Schuhe und einer passt schlechter als der andere. Vor allem, weil sie in High Heels überhaupt nicht laufen kann, nicht einen Meter.
Sie neigt auch zu anderen Dingen, die das Leben schwerer machen. Und sie fragt sich warum. Warum, warum und nochmal warum. Sie geht oft spazieren, um diesen ganzen Warums auf den Zahn zu fühlen, aber dann verliert sich ihr Blick doch in den See und die Vögel darauf, die Enten, Schwäne, Blässrallen und sogar Möwen und die Gedanken ziehen irgendwohin. Ins Unterbewusstsein vielleicht, denn dann stolpert sie eines Tages doch über eine Antwort und dann noch eine und noch eine. Das Puzzle setzt sich nach und nach zusammen, langsam, viel zu langsam für ihren Geschmack. „Das Gras wachsen lassen“, ein guter Ratschlag, den sie nur schwer befolgen kann. Sie zerrt viel lieber daran, denn dann muss sie nicht warten, bis etwas getan wird. Am Ende gefällt ihr das Getane vielleicht nicht!
Abwarten und Tee trinken. Warten, bis die Leute ausgestiegen sind, bevor man selbst einsteigt. Und ist es nicht die Ironie ihres Lebens, dass sie darüber drei Texte verfasst hat und es selbst doch nicht beherrscht? Gut, dass sie wenigstens über sich selbst lachen kann.
Aussteigen. Gerade ist sie ausgestiegen für einige Wochen, doch irgendwann wird sie wieder einsteigen müssen. Noch ist es nicht soweit. Noch steht sie an der Haltestelle, studiert aufmerksam den Fahrplan und überlegt, wo sie eigentlich hin will. Sie hat alle Zeit der Welt und das ist auch gut so, denn die Tasche, die sie mitnehmen will, ist viel zu schwer. Sie muss einiges auspacken, verschenken oder wegwerfen oder eintauschen gegen anderes, das sie vergessen hat, aber dringend braucht. Einige ihrer Reisegefährten muss sie noch einladen, anderen muss sie absagen, die haben keinen Platz mehr im Bus.
Oder lieber ein Schiff? Über das Meer, ihren Wohlfühlort, immer Richtung Horizont, Stürmen und Seeungeheuern trotzend auf dem Weg in ferne, exotische Länder?
Oder ein Raumschiff auf dem Weg in unendliche Weiten, fremde Galaxien, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat?
Doch wofür sie sich auch entscheidet, auf dieser Reise wird sie wieder am Steuer sitzen. Hat sie Angst? Fürchterliche. Aber sie ist ja nicht allein. Genau wie Kirk und Picard hat sie ihr eigenes Team, im innen und außen, und sie hat einen Kompass, der sie auf dem Weg hält. Den Reiseführer wird sie zu Hause lassen, denn so genau, will sie gar nicht planen. Lieber die Aussicht genießen, lieber mal schauen, was kommt, lieber das Gras wachsen lassen, nach seinem eigenen Tempo. Der Weg ist das Ziel, auch wenn sie sich gerade nicht tatsächlich vom Fleck bewegen kann. Lockdown long. Alles steht. Gut, dass für ihren neuen Weg erstmal nur ein Schritt nötig ist und noch einer und noch einer. Es dauert, bis sie die fünfzehn Kilometer zusammen hat und wer weiß schon, wie die Welt dann aussehen wird?

Die „drei Texte“, die sie verfasst hat, sind die Vorgänger zu „Abschiede“ und ihr findet sie hier: Morgens vor Corona, Morgens während Corona, Teil 1 und Teil 2.

1

Trennungsschmerz

Photo by Annie Spratt on Unsplash
von Jana, Lesezeit ca. 3 Minuten

Sonne, Mond, Sterne, der Urknall, Gasriesen, schwarze Löcher, ein großer Knall. Sirenengeheul, Sturmböen, Platzregen, Donnergrollen, ich am Fenster, der Regen prasselt auf die Straße unter mir, als wolle er sie fortspülen. Der nasse Schleier, nur einen Meter von mir entfernt, kühlt mein Gesicht. Tränen, ich will nicht weinen. Nicht für dich. Keine Träne. Ich will dich nicht hassen. Nicht, wenn es so weh tut, das zu tun. Vergessen will ich. Dich und die Zeit mit dir. Retrograde Amnesie. Heißt es so? Einfach ein Stück aus dem Leben ausschneiden, in ein schwarzes Loch werfen, ein Wurmloch, irgendwann, irgendwo taucht es wieder auf, vielleicht kann es jemand gebrauchen. Denn es war ja nicht alles schlecht, ist es doch nie. Aber schlecht genug. Schlecht genug für eine Trennung, einen Streit, ein pathetisches vorhersehbares zerbrochenes Glas und noch pathetischere Tränen im Angesicht eines Wolkenbruchs. Gott, waren wir gewöhnlich. Das Dummchen und der Held, deine Socken auf dem Boden, meine – ja, was? Wo war ich in dieser beschissenen Zeit? Ich kann mich nicht erinnern. Die Amnesie wirkt bereits. Ich schreie, beschimpfe unsichtbare Gestalten vor dem Fenster. Keiner hört mich, die Feuerwehr fährt mit Sirenengeheul vorbei. Nicht mal das. Der Regen hat aufgehört. Am Horizont ein Regenbogen. Ich zerbreche noch ein paar Gläser, ein Geschenk deiner Mutter, dann gehe ich ins Bett.

Aufwärm-Schreibübung zum Stichwort „Lärm“

Erinnerung

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

Dieser Text war eine Aufwärmübung und ich habe mich von zwei Sätzen aus Christoph Ransmayrs „Die letzte Welt“ inspirieren lassen:
„Und Echo kannte viele Geheimnisse der eisernen Stadt, […].“
„Nun senkte sich der Blick, wandte sich ab, dorthin, wo eine Frau an eine Tür gelehnt stand.“


Er war wie einer von vielen in diese Stadt gekommen – ohne Habseligkeiten, ohne Bleibe, ohne Erinnerung an eine Zeit davor. Natürlich hatte es ein Leben davor gegeben. Ein Leben außerhalb dieser rußgeschwärzten Mauern, dieses stinkenden, erdrückenden Daseins, ohne eine Ahnung von Sonnenlicht, klarer Luft und der Weite schneebedeckter Felder. Doch dieses Leben, dieses Davor, war zu schmerzhaft, als das Echo wagte, sich daran zu erinnern. Und deswegen hatte er das Davor abgestreift wie einen abgetragenen Mantel, hatte alles aus seinen Erinnerungen gelöscht, auch das kleinste Fitzelchen von Andenken vergraben, wortwörtlich, in einer schlammigen Kuhle am Wegesrand, bevor er seinen Fuß in diese Stadt gesetzt hatte. Nur seinen Namen hatte er behalten und er bereute es immer häufiger. Denn sein Name war mittlerweile bekannt in der Stadt unter den Leuten, besonders den armen Schluckern, die auf Straßenecken hockten und auf den Gehsteigen vor den Tavernen, in der Hoffnung, zu Ladenschluss etwas abzukommen. Einen halben Becher Wein, ein übrig gelassenes Stück Brot. Diese Menschen waren es, die Echos Namen nunmehr kannten und sie trugen ihn weiter und weiter durch die Straßen der Verlierer. Auch die Dirnen kannten ihn und sie riefen ihn, wenn er an ihnen vorbeiging. Riefen ihn mit ihren kehligen, kratzigen Stimmen, aber manchmal auch lieblich und sanft, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Und dann war es wie ein Windhauch an seiner Wange, wie zarte kühle Finger, die seinen Nacken entlang streiften, wie der Duft von Rosen. Dann war es, dass er bereute, seinen Namen behalten zu haben, denn die Erinnerung verschluckte ihn plötzlich wie ein unergründliches schwarzes Loch.

 

Wortspiele, die nächste

von Jana, Lesezeit ca. 5 Minuten

Aus zwei zusammengesetzten Wörtern wird ein neues Wort, dann 15 Minuten Schreibzeit. Heute: Aus Trockenhaube und Stauwarnung wird die…

Stauhaube

Erinnern Sie sich noch? Bevor unsere Mobilität gänzlich von dem öffentlichen Nah- und Fernverkehr übernommen wurde, gab es Automobile, mit denen Menschen in der Regel einzeln von A nach B fuhren. Etwa 2,5 m breit und 4 bis 5 m lang waren diese Automobile und hundert, nein tausende waren davon zu den Stoßzeiten in unseren Städten unterwegs. In der Urlaubssaison standen sie Stoßstange an Stoßstange auf den Autobahnen von Berlin bis an die Ostsee und von München bis Tirol. Stau nannte man das und es war äußerst beliebt: Menschen verbrachten durchschnittlich 120 Stunden eines Lebensjahres in diesen Staus. Musestunden, die sie sich nun zurückholen können!
Simon Backenthaler, selbsternannter Virtual-Reality-Gott, hat sie erfunden: Die Stauhaube! Einfach aufsetzen und Sie sind mittendrin im größten Stau Ihres Lebens.
Und Sie dürfen mitbestimmen: In welchem Auto möchten Sie Ihren Stau verbringen? Ist Sommer oder Winter? Sind Sie allein oder haben Sie drei quengelnde Kinder auf der Rückbank oder Streit mit ihrer Frau auf dem Beifahrersitz? Funktioniert die Klimaanlage? Fahren Sie Automatik oder mit antikem Schaltknüppel, Sie wissen schon: Der Krampf im linken Bein von stundenlangem Stop & Go? Haben Sie Musik dabei und wenn ja, mögen Sie sie?
Auch ihre Umgebung können Sie beeinflussen: Steht vor Ihnen ein Bus, ein Porsche oder ein Trabant? Staut es sich im Tunnel oder genießen Sie die Aussicht am Brenner in den Österreichischen Alpen?
Dank der kopfumschließenden Haube können Sie während Ihrer gewonnenen Zeit die würzigen Abgase stehender Autos riechen, genau wie den herben Duft in der Hitze schmelzenden Asphalts! Auf Knopfdruck wird Ihr Vordermann aktiv und erläutert Ihnen laut und gestenreich seine Gedanken zu Ihrer gemeinsamen misslichen Lage. Aber schließen Sie nicht zu feste Freundschaften, das alles ist nur Virtual Reality und Sie müssen bald wieder zurück… oder auch nicht, denn mal ehrlich: Ist Ihr echtes Leben nicht auch nur ein ewiger Stillstand? Und da können Sie sich nicht mal die Umgebung aussuchen…

 

1
« Ältere Beiträge

© 2023 mittendrin

Theme von Anders NorénHoch ↑