Geschichten. Überall und Jederzeit

Autor: Carmen (Seite 1 von 2)

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von Carmen 

Dieser Text entstand während des Schreibkurses „Schreib es auf“ im Rahmen der digitalen „Theater Pur“-Veranstaltung der Jugendbildungsstätte Waldmünchen. 
Die Vorgaben:
20 Minuten schreiben
Ein (grüner) Luftballon
überlegen, aus welcher Perspektive wir den Text angehen

Jana und Carmen haben sich im Anschluss an die Übung überlegt, was passiert, wenn sie die beiden, nicht miteinander abgesprochenen Texte, zusammen in ein Erzähl-Universum packen. Herausgekommen ist die folgende Fortsetzungsgeschichte.  Carmens Text macht den Anfang.
Janas Text folgt Donnerstag, 02.12.2021.


Ich bewache den Schlund.
Das Universum ist unruhig heute, durch den Schlund dringen viele Geräusche. Ich höre die große Glocke. Unbekannte Riesen betreten das Universum, sie diskutieren untereinander.
„Beeil dich, Max, der Testlauf beginnt in zwanzig Minuten!“, höre ich eine relativ helle Stimme.
„Wie kann ich helfen?“ Diese Stimme kenne ich, das ist unser Riese. Ihn kann man viel öfter hören, als alle anderen zusammen.

Ich blende das Gespräch aus. Das ist es nicht, das mir Sorgen bereitet, sondern es ist der Schlund selbst. Obwohl wir ihn so fest verschlossen halten, wie nur möglich, schluckt er in letzter Zeit mehr und mehr Luft, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen können.
Seien wir ehrlich, unsere Welt stirbt.

Die Wachposten an den Spiegelflächen berichten Ähnliches. Die Spiegel sind Orte, an der die Wand zum Universum am dünnsten ist. Einst waren sie so glatt und klar, dass wir von dort das ganze weite Universum beobachten konnten: wie es an uns vorbeischwebte, wie sich die anderen Welten um uns drehten. Was für wundersame, unerklärliche Wunder wir beobachten durften.

Einmal habe ich sogar gesehen, wie eine neue Welt entstand: unser Riese – größer und mächtiger, als alle anderen Riesen – nahm von seinem Atem und schenkte ihn dieser neuen Welt. Sie wuchs und wuchs. Fasziniert hingen wir an unseren Spiegeln und beobachteten dieses unfassbare Ereignis. Als unser Riese fertig war, schloss er den Schlund, damit der geschenkte Atem nicht entweichen konnte.
Es war magisch.

Aber meist sehen wir nur, wie die Welten zu Ende gehen. Manche plötzlich mit einem großen Knall, manche siechen einfach vor sich hin, bis sie vergessen sind. So wie wir.

Nach und nach haben sich die Spiegel zusammengezogen, sind schrumpelig geworden und stumpf. Wir sind erblindet, als hätten wir das Recht verloren, die Wunder des Universums zu sehen. Ich weiß, dass es neben uns noch unendlich viele weitere Welten gibt, doch sehen können wir sie schon lange nicht mehr. Schuld ist der Schlund und sein Hunger nach Luft. Er saugt sie aus unser Welt, als würde sie ihm gehören und wir können rein gar nichts dagegen unternehmen.

Die Alten sagen, dass wir nichts tun können – so ist der Lauf der Welt. Der Riese hat es so gemacht, dass die Spiegel uns zeigen, dass unser Weg vorgezeichnet ist. Es ist wichtig, sagen die Alten, dass wir verstehen, was mit uns passiert. Das lehrt uns Demut.

Demut! Ernsthaft?
Was hab ich davon? Ich habe gesehen, wie eine Welt entsteht: ich will keine Demut, ich will neuen Atem.
So etwas gab es noch nie, sagen die Alten, ich würde mich verrennen.
Ich bin nicht bereit, das zu akzeptieren. Wir brauchen neuen Atem.

Die Riesen diskutieren immer noch. Sie sprechen über Ballons – das ist ihr Wort für Welten. Unser Riese scheint aufgebracht:

„Verarschen können Sie sich selbst! Wie meinen Sie das, unzerstörbare Ballons?“
„Wir arbeiten an einem Polymer, durch das Ballons wie diese für immer die Form behalten. Wir brauchen … sagen wir mal zwei Dutzend Ballons für unsere Experimente. In zwanzig Minuten beginnt unsere Kick-Off Party im Park. Drücken Sie uns die Daumen.“
Unser Riese scheint nachzugeben: „Na, wenn Sie meinen…“

Ich horche auf. „Für immer die Form behalten“? Das klingt doch, wie „für immer existieren“, oder etwa nicht?
Ist die Luft schon so dünn geworden, dass ich anfange zu halluzinieren?
Wir mussten da hin, unbedingt. Unsere einzige Chance.

Ohne nachzudenken oder die Alten um Erlaubnis zu bitten, öffne ich den Schlund wieder. Mit einem Quietschen entweicht die wertvolle Luft und schiebt unsere Welt an den anderen vorbei, direkt in die Hände unseres Riesen, der uns an den Unbekannten weiterreicht.

 


Wollt ihr wissen, wie die Geschichte weitergeht?
Wollt ihr wissen, wie Jana die Vorgaben interpretierte?
Fortsetzung findet ihr hier.

1
von Carmen, Lesezeit ca. 5 Minuten

Der Großonkel wird 80. Ein stolzes Alter und doch ist er das Nesthäkchen. Der kleine Bruder, der nur „unser Günter“ heißt, wenn seine großen Schwestern, darunter meine Oma, 92, ihn meinen.
Heute vormittag habe ich meine Großmutter abgeholt, sie und ihren Rollstuhl eingepackt, und bin eine Stunde lang in die Gegend ihrer Kindheit gefahren.

Die Weinberge, die Bauernhöfe, der Fluss – zu allem hatte sie eine Geschichte zu erzählen.
Diese Kellerei hat einige der Weinberge unserer Familie, meiner Urgroßeltern, aufgekauft.
Dieser Bauernhof, ein windschiefes Gebäude, das aussieht, als hätte es seit Jahren niemand mehr betreten, gehörte einer Familie, deren Söhne im Krieg alle gefallen sind.
Überhaupt der Krieg. Für meine Oma ist er allgegenwärtig. Seine Folgen sind allgegenwärtig – Bauernhöfe, die nicht mehr betrieben worden sind, Familien, die entzweit wurden, Männer und Söhne, deren Verbleib unbekannt ist. Menschen, die sich neu orientieren mussten, denen nichts anderes übrigblieb, als zu improvisieren.
Zwischen den alten Gebäuden, an denen wir vorbeifahren, stehen die neuen Häuser, architektonische, anachronistische Meisterwerke, wunderschön an sich, Landschaftsverschandelungen im Gesamtkonzept.

Wir erreichen eine Gaststätte, wohl ebenso alt wie das Geburtstagskind, gute bürgerliche Küche. Viel Fleisch, viel regionales Gemüse, deftig, herzhaft, lecker. 30 Leute sind eingeladen, namentlich kenne ich eine Handvoll. Von den Geschwistern gibt es noch drei. Vor zwei Jahren waren es noch sechs, fünf Schwestern und unser Günter. Mit Ausnahme des Nesthäkchens sind und waren alle über 85.
Langlebige Gene.

Nun feiert der Jüngste und wünscht sich, in 10 Jahren seinen 90. auch mit seinen verbliebenen Schwestern feiern zu dürfen. Doch die winken ab. Durchhalten, die 100 knacken, nur um dem kleinen Bruder einen Gefallen zu tun. Darauf haben beide nun wirklich keine Lust. Müdigkeit schleicht sich ein.

Die Luft hier drin ist verbraucht, 4 Gänge gut bürgerliches Essen sind dabei, verdaut zu werden. Kaffee ist nirgendwo in Sicht. Meine Konzentration fängt an zu schwinden und ich setze mich etwas abseits, um in Ruhe schreiben zu können.
Die Tanten, Nichten, Großneffen, Schwiegerkinder, Adoptivkinder und Verwandte, für die es schon keine Bezeichnung mehr gibt, unterhalten sich angeregt. Langsam bleiben die Namen haften, langsam kann ich mir merken, wer wer ist. Wir sehen uns so selten – Geburtstage und Beerdigungen. Mit Mitte 20 ist meine Oma ausgewandert. Nicht weit weg, aber weit genug. Der Besuch bei den Geschwistern wurde zum Tagesausflug, zum Wochenendausflug, zur Rarität. Einen Führerschein besaß meine Oma nie, mein Opa ist früh krank geworden – wieder einmal die Altlasten des Krieges – und hat sie früh zur Witwe gemacht. Mein Vater arbeitete. Wer hätte sie fahren können?

Zuerst wollte meine Oma nicht auf diese Party. Zu alt sei sie, zu anstrengend die Feier. Und dann die Sache mit dem Rollstuhl und den WCs – bis zuletzt war nicht sicher, ob es behindertengerechte Toiletten gibt. Die Angst, mit heruntergelassener Hose nicht mehr aufstehen zu können. Doch gleichzeitig gibt es nicht mehr so viele Möglichkeiten, die Familie zu sehen. Geburtstage und Beerdigungen. Die Gelegenheit bei Schopfe packen. Und so hat sie mir, ihrer Fahrerin, ihre Zweifel nicht mitgeteilt, nur meinem Vater hat sie sie erzählt.

Seitdem wir hier sind, lacht sie unentwegt. Unterhält sich mit jedem, der sich zu ihr hinunterbeugt. Erzählt mit Lachtränen in den Augen, wie ich mich auf dem Hinweg verfahren habe, von unserer „Reise nach Jerusalem“, wie wir auf einmal hinter dem Friedhof des Nachbarorts festhingen. Nunja, ich kenne die Gegend nicht und das Navi wohl auch nicht.

Am Ende schreibe ich in Ruhe meinen Text. So viele fremde Freunde überfordern. Unser Günter setzt sich zu mir. Ich sehe die Lachfältchen um seine Augen. Er raunt mir zu, dass er sich vom Dessert-Buffet, das noch nicht eröffnet ist, eine Kanne Kaffee stibitzt hat. Wir verstehen uns.

2

Origami

von Carmen

Ahhhrg!
Ich knülle das Blatt zusammen und werfe es hinter mich. Meine Figuren kommen und gehen als würde ich in einem Café die Passanten beobachten. Doch niemand bleibt stehen. Niemand erzählt mir seine Geschichte, so dass ich sie aufschreiben und weitererzählen könnte.
Schreibblockade! Irgendwo zwischen Kopf und Blatt ist die Verbindung gekappt. Es fließt nichts aus den Fingern. Wohlgemerkt – wir sprechen nicht über das Problem Weißes Blatt. Irgendetwas schreiben kann man immer. Mittlerweile kennt man seine Strategien. Im Zweifel „Ich erinnere mich an [setze beliebiges Möbelstück oder Leibgericht oder Urlaubserinnerung ein]“ schreiben und irgendeine Erinnerung wird da schon kommen und zack hat man fünf Seiten vollgeschrieben. Das Problem Weißes Blatt existiert nicht mehr.
Nein, das Problem ist der weiße Kopf. Das Problem ist mein inneres Kind, das nicht viel älter als zwei sein kann und das auf dem Boden sitzt, die Spielsachen weit von sich wirft, „NEIN ICH WILL NICHT! NEIN!“ schreit und sich dieser Übung und dem Schreiben ganz allgemein verweigert.
Oh, wie ich diese „ich erinnere mich“-Übung hasse.

Ich schreibe doch auch kein Tagebuch. Wen interessiert denn der alte Schaukelstuhl, in dem meine Mutter meine kleine Schwester gestillt hat? Wen interessiert die Polenta, die bei uns nicht auf dem Teller gegessen, sondern auf einem Brett über den kompletten Tisch gestrichen wird mit einer ordentlichen Portion stundenlang köchelnder Bolognese darauf. Wen interessieren die Grabenkämpfe, in die dieses Essen jedes Mal ausartet: die Kunst ist, sich selbst die besten Bereiche – das heißt, die mit dem meisten Käse und der meisten Soße – zu sichern, gleichzeitig diese aber gegen die Verwandtschaft zu verteidigen, die – bis auf die Zähne bewaffnet – keine Scheu davor haben, die GABEL einzusetzen.
Aus diesen Erinnerungen kann man einen Flickenteppich alter Anekdoten basteln, aber doch keine Geschichten.

„Warum nicht?“

Weil wir hier nicht bei Facebook sind! Ich schreibe nicht über mein Mittagessen. Oder über Schaukelstühle. Oder über meine letzte Sitzung, als das Klopapier alle war.

„Hmm… anscheinend tust du es aber doch.“

Nur um den Punkt zu verdeutlichen. Aber ich werde keine Geschichte darüber schreiben.

„Vielleicht würde es sich lohnen“, sagte die Stimme nachdenklich. „Aber lassen wir das erstmal. Ich bin überrascht, dass du auf mich reagierst, ohne Angst zu haben. Wunderst du dich nicht, wer ich bin?“
Pff… Wer sollst du schon sein? Vermutlich mein Stift oder das Blatt Papier vor mir oder einfach eine Stimme in meinem Kopf. Ist doch egal.
„Ist dir egal???“
Ja.
„Okay … Die Reaktion ist … unerwartet.“ Die Stimme scheint kurz ratlos. Und setzt erneut an. „Du hast keine Angst oder so?“
Nö. Ich mein, solange du mir nicht erklärst, dass du alle meine Haushaltsgeräte zum Streik aufforderst, ist doch alles in Ordnung. So einen Streik könnte ich jetzt nicht gebrauchen. Das tust du doch nicht, oder?
„Nein.“
Gut. Nein, dann habe ich keine Angst. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich schon gefragt, wann es soweit ist. Ich mein, Corona geht jetzt schon ein Vierteljahr, mein Broterwerb ist immer noch im Lockdown. Ich sitze hier, seit vier Monaten, und drehe Däumchen. Ich bin nun wirklich kein Ass in Selbstdisziplin. Meine Tagesstruktur besteht darin, dass es keine gibt. Dabei sei Tagesstruktur wichtig für die geistige Gesundheit, wird behauptet. Ich habe mich gefragt, wann bei mir die Sicherung durchknallt. Jetzt, wo es endlich soweit ist, bin ich ehrlich gesagt erleichtert.

„Er-leich-tert? Du glaubst, ich bin eine durchgeknallte Sicherung?“
Japp. Ich finde, ich habe mir das Recht erarbeitet, durchzudrehen. Erst war Risikopatientin mit Kundenkontakt, dann komplett zuhause. Ich war motiviert, juhu soviel Zeit zum Schreiben, ich habe aufgeräumt, umgeräumt, gearbeitet, geschrieben, gelesen, gevideochattet, umdekoriert, halb Amazon leergekauft, die Konjunktur am Laufen gehalten sozusagen. Das Haus nur verlassen, wenn unbedingt nötig. #StayAtHome #SofasRettenLeben und so. Nur die Trends mit dem Yoga und dem Klopapierhamstern habe ich sein lassen. ICH war Vorzeige-Quarantänin. Aber das konnte ich nur so lange durchziehen. Dann war die Luft raus. Das mit der Selbstdisziplin halt. Kein lesen, schreiben, umräumen mehr. Die Motivation hatte das sinkende Schiff verlassen, unbemerkt irgendwann zwischen der 3. und 4. Netflix-Serie.
Und dann fangen Janas Küchengeräte an, mit ihr zu sprechen und meine schweigen? Hallo? Ernsthaft? Das hat mich schon verletzt. Hab ich nicht verdient, dass hier mal jemand mit mir spricht?
„Ähm…“
Irgendwann dachte ich dann, es liegt daran, dass mir die Fantasie einfach fehlt. Abgestumpft vom ganzen Binge-Watching. Quasi eine andere Form der Schreibblockade. Eine allumfassende Blockade, die Kaffeemaschinen und Lieblingsstifte mit einbezieht, die in der Zeit der Not mir den Rücken zukehren und eben nicht mit mir reden.

„Du suhlst dich da aber schon sehr im Selbstmitleid.“
Pff… Habe ich dazu etwa nicht das Recht?
„Hattest du die letzten Monate gesundheitliche Probleme? Hattest du Freunde oder Verwandte, die sich infiziert haben? Hattest du Sorgen um deine Arbeitsstelle? Musstest du dich neben dir selbst noch um andere Menschen kümmern, wie beispielsweise um Kinder im Homeschooling, während du selbst einen Vollzeitjob wuppen musstest? Kannst du eine dieser Fragen mit ‚Ja‘ beantworten?“
Ähm.. naja… also so direkt… also eher nein.
„Na dann lautet die Antwort auf deine Frage ‚nein, dazu hast du kein Recht‘. Die letzten Monate waren für uns alle belastend. Es ist in Ordnung, nicht produktiv zu sein, kein Yoga zu machen und kein neues Start-Up zu planen. Aber es ist nicht in Ordnung, dich über Monate gehen zu lassen. Es ist nicht in Ordnung, dich aufzugeben. Das ist jetzt dein Leben und das deiner Mitmenschen. Es besteht aus Masken, Zetteln im Hausflur der jüngeren Nachbarn, die anbieten, für dich einkaufen zu gehen, Eltern in Risikogebieten, die man nur besuchen darf, wenn man eine zweiwöchige Quarantäne im Anschluss in Kauf nimmt und Rachenabstrichen, die den Würgereflex auslösen. Je schneller du dich damit abfindest, desto besser wirst du klarkommen und umso zufriedener wirst du wieder mit dir selbst sein.“
Puh. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. … Die letzten Monate waren schon sehr grau und ich fühlte mich echt nicht so gut. Ich finde es nicht in Ordnung, dass mir mein Stift oder mein Blatt oder mein Unterbewusstsein – wer auch immer du bist – mir sagt, ich dürfe kein Selbstmitleid haben. Selbstverständlich war meine Situation besser, viel besser, als die von anderen. Das weiß ich und mache es mir jeden Tag erneut bewusst. Das hilft aber nicht, mich besser zu fühlen, ganz im Gegenteil. Ich fühlte mich trotzdem schlecht. Mir das Recht zu nehmen, mich schlecht zu fühlen, ist… ich weiß nicht, was es ist, aber okay ist es nicht.

„Entschuldige. Du hast recht. Ich hätte dich nicht mit anderen Menschen vergleichen dürfen. Natürlich hast du ein Recht auf deine Gefühle, auch auf die negativen. Ich hatte nur Angst, dass du dich reinsteigerst und das Licht am Ende des Tunnels nicht mehr siehst und wollte gegensteuern. Das habe ich wohl ordentlich vermasselt.“

Okay…
„Okay?“
Ja, ich mein, wir kennen uns noch nicht so gut, da kann es passieren, dass das erste Gespräch schlecht läuft. Ich akzeptiere die Entschuldigung. Aber ich würde das Gespräch jetzt trotzdem lieber beenden, ich bin müde.

„Okay… Noch eine letzte Frage hätte ich, wenn ich darf?“
Klar.
„Warum heißt der Text jetzt eigentlich Origami?“
Oh. Das. Wenn ich eine Schreibblockade habe, greife ich in meine Wörter-Schatzkiste. Dort haben Freunde, Besucher, Mit-Kursteilnehmerinnen Wörter hinterlassen, die mich inspirieren sollen. Heute war es Origami. Und irgendwie passt es doch, findest du nicht?
„Hmm… Irgendwie schon.“
Besuchst du mich jetzt öfter?
„Ich komme, wenn du mich brauchst“, sagte die Stimme während sie langsam leiser wurde und die letzten Worte nur noch als fernes Flüstern in meinen Gedanken widerhallten.

1

Schreibübung – der auktoriale Erzähler

von Carmen

Übung 1

Vorgabe:
Einen Text schreiben mit einer auktorialen Erzählsituation, der Auskunft gibt über eine Person, die sich in einem Park aufhält und dort etwas ungewöhnliches tut.
Zeit 25 Minuten

Fragen:
Was will diese Person?
Wie geht es ihr?
Was tut sie?

Da saß Claudia nun auf ihrer Picknickdecke, völlig allein und bis auf die Haut durchnässt. Mit verbissenem Blick konzentrierte sie sich auf die blaue Luftballon-Schlange in ihren Händen, die aufgrund dieses wolkenbruchartigen Regens ganz sicher niemals aufgepumpt werden würde.

Es war eine Verzweiflungstat gewesen, als Claudia mit Picknickdecke, Luftpumpe und einer Tüte Luftballon-Schlangen aufgebrochen war, um – wie sie sagte – im Park ein paar Kindern ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern nach dieser dunklen Zeit des Zuhause-Herumsitzens. In Wahrheit ging es ihr natürlich nicht darum, die Kinder glücklich zu machen. Nein, sie brauchte das Lachen der Kinder, um ihre eigene Einsamkeit, die sie in den eigenen vier Wänden fast in den Wahnsinn getrieben hatte, für einen kurzen Moment vergessen zu können. Die schwarz gefärbten Wolken, unheilschwanger über den Park wachend, ignorierte sie. Was sie nicht sah, war nicht da. Die Logik einer Fünfjährigen, die wir alle kennen und aus der wir alle irgendwann herauswachsen.

Aber Claudia lief auf dem Zahnfleisch, sie brauchte etwas Normalität, jetzt!, sofort!, und flüchtete sich in die wohltuenden, einfachen, kindlichen Denkweisen, die bei uns Erwachsenen so selten funktionieren.
Und so finden wir Claudia auf der Picknickdecke im Park, sich mit letzter Kraft an der naiven Logik festhaltend. Einen Regen, den sie ignorierte, würde gleich aufhören. Die Kinder würden kommen und begeistert Luftballon-Hunde, -Mäuse, Häschen und -Blumen verlangen. Sie würden entzückt kreischen, wenn sie ein Tierchen ergattern konnten und gleich ein weiteres verlangen, lügen und behaupten, es sei fürs Geschwisterchen zuhause obwohl sie es selbst behalten wollten und Claudia würde die Luftballons gar nicht so schnell aufpumpen oder drehen können. Einige würden im Eifer des Gefechts platzen, die Kinder würden erschrecken und dann wieder lachen.
Aber es sollte nicht so sein. Es regnete noch bis spät in die Nacht an jenem Tag. Claudia blieb stark und versuchte ganze 45 Minuten, diese erste blaue Luftballon-Schlange aufzupumpen, doch dann gab sie doch nach und irgendwann mischte sich der Regen mit Claudias Tränen.

Übung 2

Vorgabe:
Den Text aus Übung 1 umschreiben in einer anderen Variante der
auktorialen Erzählsituation.

Gewählte Situation: Der ausschweifende Erzähler

Da saß Claudia nun auf ihrer Picknickdecke, der rot karrierten, die sie sich damals an einem helleren, besseren Tag in diesem kleinen bunten Laden mit der klingelnden Tür in der Schillerstraße gekauft hatte, direkt gegenüber der Wohnung ihres Freundes Max, der nun ihr Ex-Freund war. Immer mal wieder wollte sie zurückgehen in diesen Laden und hat es doch nicht getan, so wie sie grundsätzlich kaum vor die Tür ging, weil sie ja dann hätte ihm begegnen können. Dabei war Max doch schon seit mehreren Monaten umgezogen.
Doch Claudia hatte sich abgekapselt und die gemeinsamen Freunde ausgeschlossen, die Max kannten und an Max erinnerten. Sie hatte Geburtstage und Grillparties verpasst, nichts mitbekommen von Ollis Unfall, der in der Folge seinen Job bei der Rückversicherung aufgegeben hatte und Hausmann geworden war.
Dabei hätte ein Anruf genügt. Wusstest du schon? Hast du gehört? Der Max, wart ihr nicht mal zusammen?
Was natürlich alle wussten und wo alle nur so taten, als ob sie es nicht wüssten, um der Tatsache keine Relevanz zu verleihen.

Da saß Claudia nun in ihrer selbst verschuldeten Einsamkeit auf ihrer Picknickdecke, auf der sich tiefe Pfützen bildeten, und konzentrierte sich auf die blaue Luftballonschlange. Sie hatte blau immer gemocht, blau wie die karibische See, blau wie der perfekte Himmel, nicht so wie heute, wo er so eine nebelverhangene, regentriefende graue Unfarbe trug, die Claudia an Maxens Augen erinnerte, trüb und traurig. Das hatte seinen Augen immer diese Tiefe gegeben, wie sie fand. In Wahrheit hatte Max hellbraune Augen gehabt und vielleicht war die Erinnerung an die falsche Farbe genauso wie der Fakt, dass Claudia trotz Liebeskummer und Starkregen mit der blauen Luftballonschlange im Park saß, ein erstes Zeichen dafür, dass sie auf einem guten Weg war.
Auch wenn sie es an diesem und an den folgenden Tagen nicht schaffte, aus dem Luftballon einen Elefanten zu drehen und am Abend wieder einmal weinend einschlief, so betrat sie doch am Ende der Woche den kleinen Laden mit der klingelnden Tür in der Schillerstraße, wo sie Yves begegnete, einem  ewigen Studenten mit blauen – wirklich blauen – Augen, der sich dort als Verkäufer etwas dazuverdiente, um sich das Ticket für das dreitägige Mittelalterfestival im Sommer leisten zu können. Dieses Mittelalterfestival, auf das ihn Claudia begleiten sollte. Aber das, meine Lieben, wird eine andere Geschichte.

 

2

Ein letzter Brief an einen Freund

Dieser Brief ist am 6. Juli 2018 entstanden.
Ich poste ihn heute, um an einen besonderen Menschen zu erinnern, seinetwillen.
Und um mich an ihn zu erinnern, meinetwillen.


von Carmen

Das erste, was ich tun wollte, war zum Telefon greifen und dich anrufen. Deine Stimme hören, hören, dass es dir gut geht. Dass du irgendetwas sagst, vielleicht verwirrt, dass ich überhaupt anrufe. Denn telefoniert haben wir bis heute nie. Ein paar Sprachnachrichten, ein paar Whatsapps, Facebook, stundenlang gechattet im Spiel „Die Siedler“. Anonym, unerkannt, Nightmare und die Zarin.

Wir haben davon geschrieben, einander zu besuchen. Ich war unverbindlich, doch du wolltest unbedingt herkommen. Ich hab dir geschrieben, ich wohne im 5. Stock, du sitzt im Rollstuhl, hier gibt es keinen Lift, wie sollte das gehen. Heimlich war ich erleichtert, die Bekanntschaft war dazu verurteilt, künstlich zu bleiben, nur im Netz weiterzuexistieren. Damit kann ich umgehen. Reale Menschen, die Nähe zu mir suchen, verbindlich sind, überfordern mich. Stoße ich weg. So habe ich auch dich weggestoßen: einen großartigen Chatpartner, lustig, immer hilfsbereit im Onlinespiel.
Wenn du schriebst, dass es dir schlecht ginge, dass du Kopfschmerzen hast, dass du wieder einmal krank bist, dass du nicht schlafen kannst, übermüdet bist, habe ich es abgetan. Es war eine ewige Jammerei, der ich auch online nur begrenzt zuhören wollte. Du kannst dich nicht länger konzentrieren, du lagst monatelang im Koma. Und ich habe vergessen, warum. Ich habe tatsächlich vergessen, warum du im Koma lagst. Ich habe es vergessen. Wie konnte ich nur? Wie konnte mir das so egal sein? Dabei wusste ich, du warst einer der seltenen Fälle, wo ich mir – ohne es zuzugeben – tatsächlich sicher war, dass du ein guter Mensch bist. Was auch immer das ist, aber du warst ein guter Mensch. Herzensgüte klang aus allen deinen Chats heraus. Ja, manchmal lästertest du auch ganz gern, aber du nahmst dich selbst nie aus, nahmst dich selten zu ernst.

Du hast mir von einer Frau erzählt, die du getroffen hast. Du bist extra stundenlang zum Weihnachtsmarkt gegangen, um an ihrem Stand Glühwein zu bestellen, sie zu sehen, mit ihr zu reden und zu lachen. Rastalocken hatte sie, darauf stehst du, sagtest du. Kurios, dachte ich. Du warst jemand, der gegenüber seinen Freunden und Menschen, die er mochte, selbstlos auftrat. Opfer einging, Unangenehmes auf sich nahm. Du wärst auch hier die fünf Stockwerke Altbau hochgestiegen, irgendwie. Wenn das der Freundschaft zuträglich gewesen wäre, hättest du versucht, das hinzubekommen, es irgendwie zu organisieren.
Ich daneben tat viel zu groß, viel zu wichtig, überheblich. Dazu tendiere ich, wenn die Person neben mir sich so klein macht, wie du es tatest. Beide waren wir unsichere Menschen, die diese Unsicherheit unterschiedlich kanalisierten.
Du auf offene Weise.

Als ich mit dem Spiel aufhörte, brach der Kontakt ab. Du hast dich nochmals gemeldet und geschrieben, dass es dir egal sei, ob ich spielte oder nicht, Hauptsache wir blieben in Kontakt. Taten wir nicht. Ich meldete mich nicht mehr. Warum auch, was hätte ich denn auch sagen können. Was hat jemand wie ich denn zu sagen? Nur – das weiß ich – ist das die falsche Frage. Freunde hören zu.

Am 22. Juni 2018 bist du gestorben. Im Urlaub in Tunesien, morgens nicht mehr aufgewacht. Hast du gelitten? Hattest du Schmerzen? Ist das jetzt noch relevant? Hast du dich einsam gefühlt?
Einen Tag später stand es auf Facebook. Ich habe die Nachricht deiner Schwester gelesen und sofort war klar, dass etwas fehlt. Das Gefühl war sofort, unmittelbar und überwältigend. Etwas Selbstverständliches fehlt. Was für ein riesengroßer, irreparabler Irrtum dieses Gefühl der Selbstverständlichkeit doch ist.
Ich habe die Nachricht gelesen und wollte zum Telefon greifen, dich anrufen. Dich fragen, ob es stimmt. Hören, dass sich da jemand einen wirklich makaberen, schmerzhaften Scherz erlaubt. Ich las die Nachricht wieder und wieder. Denn das kann doch nicht sein. Am 31. Juli hättest du deinen 31. Geburtstag gefeiert. So jung stirbt man nicht. Das tut man einfach nicht.
Erst die Beileidsbekundungen unter dem Post brachten mich dazu, es zu glauben.
ES
Deinen Tod als gegeben hinzunehmen. Dem Drang, zum Telefon zu greifen, nicht nachzugeben.

Lieber Daniel, heute, zwei Wochen später, schaffe ich es endlich, zu weinen. Genau zwei Wochen, nachdem du eingeschlafen bist, ohne jemals wieder aufzuwachen.
Leb wohl, mein Freund.


Die Letzte ihrer Art


von Carmen

Dextra öffnete die Kordel an ihrer rechten Hüfte und der raue Stoff der Kutte glitt langsam über die Schultern an ihrem Rücken entlang auf den felsigen Boden. Sie liebte diesen Moment. Die kratzige Berührung des Stoffes, das Gefühl, wie die kühle Luft fast in Zeitlupe immer mehr von ihrer Haut umhüllte. Zuerst spürte sie den kalten Wind an ihrer Schulter, dann an ihrer Brust. Sie fühlte, wie sich die Brustwarzen zusammenzogen. Dann fiel der schwere Sackstoff ohne Unterbrechung ganz zu Boden und die Kälte umhüllte ihren Bauch, ihre Hüften, Oberschenkel und ihren Schambereich. Die Vorfreude erreichte ihren Höhepunkt.
Es ging los.

Sie blieb einen Moment mit geschlossenen Augen stehen, konzentrierte sich auf den Wind, die Kälte, die Gänsehaut auf ihren Armen und Brüsten, das Rauschen in den Bäumen, das helle Sprudeln des künstlichen Baches in der Nähe, die Schraffur der Felsen unter den Füßen.
Sie hatte von Anfang an keine Schwierigkeiten gehabt, alle anderen Geräusche auszublenden. Störfaktoren zu übersehen. Zuschauer zu ignorieren.

Ein unterdrücktes Kichern ging durch die Reihen.

Tief atmete sie ein, während sie ihre Füße hüftbreit aufstellte, den Rücken gerade durchdrückte und die Arme nach oben streckte. Sie lehnte ihren Kopf nach hinten, atmete tief durch und öffnete die Augen.
Laut und klar, voller Inbrunst begann sie die erste Stufe des Rituals:
„Mutter Erde, Meisterin der Schöpfung, Ursprung der Wunder, deine Tochter ruft dich!“
Sie stellte ihre Beine so weit auseinander, wie sie noch aufrecht stehen konnte, und streckte die Arme mit aller Kraft zur Seite, so dass sie aussah wie ein X.
Sie wartete einen Moment, hielt die Spannung aufrecht. Dann ging sie in die Hocke, ohne die Beine vorher zusammenzustellen.
„Mutter Erde, Heimat allen Daseins, Anfang und Ende jeden Lebens, Deine Tochter ruft dich!“
Erneut pausierte sie und ließ den Worten Zeit, sich zu entfalten.
Bedächtig ließ sie sich anschließend in den Vierfüßlerstand gleiten.
„Ich bin Euer, ein Herzschlag der Schöpfung, ein Staubkorn im Universum. Gewährt mir, Euer Werkzeug zu sein.“

Dextras Weg war von kleinauf vorgegeben gewesen. Jedes Dorf schenkte pro Jahr fünf Säuglinge, geboren in Vollmondnächten, den Einigkeitsklöstern. Dort wurden sie ausgebildet und erzogen, als Teil der Gemeinschaft, als Teil des Großen Ganzen.
Dextra war eine Klosterwaise.
Keine der Nonnen oder Mönche kannte seine leiblichen Eltern. Warum auch? Warum die Scheuklappen auf zwei menschliche Elternteile richten, wenn doch die Natur Mutter aller Wesen war, wenn doch alles eins war, wenn alle Menschen unterschiedliche Formen ein und desselben waren. Sie waren keine Individuen, sondern Schwestern und Brüder, Mütter, Tanten, Onkel und Väter.

Sie war beim wichtigsten Teil der ersten Stufe des Rituals angelangt – der Teil, der sie daran erinnerte, wer sie war. Was sie war.
Langsam legte Dextra sich bäuchlings auf den Stein, Arme und Beine erneut wie ein X von sich gestreckt. Sie genoss diesen Augenblick. Ihr Geist war offen, die Art, wie ihr Körper schutzlos auf dem nackten Boden lag, war das sichtbare Symbol dafür. Sie war eins mit ihrer Umwelt, ihr ausgeliefert. Der Wind strich über ihren Rücken, der felsige Untergrund kratzte an ihrem Bauch, ihren Oberschenkeln, ihren Knien. Mit dem Gesicht direkt auf dem Boden spürte sie, wie ihr Atmen sich an ihren Wangen nach oben verflüchtigte. Der Untergrund roch nach Moos und Erde.
Sie wünschte, sie könnte den Moment festhalten. Die Zeit stoppen. Denn tiefer würde sie nie wieder in die Mystik der Klosterwaisen eintauchen können. Die Rituale waren nie für eine Einzelperson ausgelegt gewesen. Dass eine von ihnen jemals vollkommen alleine sein könnte, auf sich gestellt, war ein undenkbarer Gedanke.

Wären ihre Brüder und Schwestern noch am Leben, würden sie jetzt neben ihr liegen, sich an Händen und Füßen berührend, fühlend, dass man zusammengehörte, gleich war und doch nur winzig klein im Angesicht des Universums.
Alle würden sie gleichzeitig aufstehen, eines Stichwortes hatte es dazu nie bedurft. Die Trommeln würden beginnen, in einem sich immer weiter beschleunigenden Rhythmus schlagen und alle würden sie tanzen. Und wie sie tanzen würden! Schneller, immer schneller, zusammen, alle Sorgen, Ideen, Wünsche und Ängste ablegend, jeden einzelnen Gedanken, der sie zu Individuen degradierte, vergessend. Sie würden sich berühren, sich selbst und die Nebenperson, die ja nur eine andere Form ihrer selbst war, und sich vereinigen.

Doch ihre Brüder und Schwester gab es nicht mehr. Drei Tage und drei Nächte hatte es gedauert, während sie starben, einer nach dem anderen, oder vom Glauben abfielen, bis nur noch wenige übrig waren. Die Eroberer kannten keine Gnade als sie kamen und das Land sich zu eigen machten.

Wieder ging ein Kichern durch die Reihen.
„Keine Ahnung, warum unsere Eltern überhaupt so lange gebraucht haben, diese Tiere abzuschlachten. Ich hätte einfach gewartet, bis sich diese unzivilisierten Wilden wieder nackt auf die Schlachtbank gelegt hätten und hätte meine Axt tanzen lassen.“
Dextra hatte von Anfang an keine Schwierigkeiten gehabt, alle anderen Geräusche auszublenden. Störfaktoren zu übersehen. Zuschauer zu ignorieren. Sie atmete tief durch. Konzentrierte sich auf den Wind, das Blätterrascheln. Ich bin ein Staubkorn.
„Pff, du bist ein Idiot. Das wäre reine Verschwendung. Die bettelt doch danach, rangenommen zu werden, wie die da liegt.“
Ein Mann lachte.
„Nah, da ist doch nichts dran. Titten am Nabel und nirgendwo Fleisch…“

Der Moment entglitt ihr. Langsam richtete sich Dextra wieder vollkommen auf, blickte an den Zuschauern vorbei zum Horizont und sprach den letzten Satz:
„Ich bin Dein Staubkorn, tanze frei nach Deiner Gnade, gewähre mir Einsicht in deine Allwissenheit!“
Immer noch wartete sie an dieser Stelle auf die Trommeln, die seit Jahren beharrlich schwiegen.

Sie trat einen Schritt nach vorne, wandte sich den Zuschauern zu, wobei sie versuchte, niemanden von ihnen direkt anzusehen.
Die Lautsprecher knackten.
„Sehr geehrte Herren, das war das mystische Einigkeits-Ritual der letzten überlebenden Klosterwaise, nur hier auf dem Gelände des Hydro-Elemente-Zoos. Das nächste Einigkeits-Ritual findet heute Nachmittag um 15 Uhr statt. Vergesst nicht, auch unsere anderen Shows zu besuchen. In 30 Minuten startet die Fütterung der Seehunde. Wir wünschen Ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt.“

Das Ritual verfehlte auch dieses Mal seine Wirkung nicht, auch wenn sie nur die erste Stufe durchführen konnte. Sie wusste genau, was sie war: ein übrig gebliebenes Puzzlestück, unklar, zu welchem Motiv sie einmal gehört hatte. Ein aus der Zeit gefallenes Instrument, an dessen Nutzen sich niemand mehr erinnerte. Ein Exponat zur Unterhaltung der Besucher. Sie war die letzte, lebende Klosterwaise. Sie fragte sich, wie lange noch.
Dextra bückte sich, hob ihre Kutte auf und wartete darauf, dass die Pfleger sie von der Bühne führten.

2

Lilly schreibt ein Buch (Teil 3)

Wie ist die kleine Lilly auf die Idee gekommen, ein Buch schreiben zu wollen?
Hier beginnt die Geschichte: Teil 1 und Teil 2.


von Carmen

Im Arbeitszimmer nahm Mama ein paar Kissen vom Sofa, das neben dem großen Regal in der Ecke stand, und legte sie auf den Hocker, auf dem es sich Lilly bequem machen sollte. So konnte Lilly neben Mama am Schreibtisch sitzen und war fast so groß wie sie.

Mama verteilte zwei Stapel Schmierpapier, an Lilly und an sich selbst, während Lilly sich schon mal einen Stift aussuchen konnte. Erneut stellte Lilly mit Bedauern fest, dass Mama nur blaue oder schwarze Stifte hatte, und sie überlegte kurz, ob sie nicht doch ihren Glitzerstift aus dem Kinderzimmer holen sollte. Aber wenn sie ehrlich war, konnte sie es gar nicht erwarten, mit dem Schreiben anzufangen. Da war die Farbe des Stiftes fast egal. Außerdem lagen zur Not noch ihre Buntstifte in der obersten Schublade des Schreibtisches. Die bewahrte Mama dort auf, bis Petzi und Lilly das Kinderzimmer fertig aufgeräumt hatten.

Mama ließ sich neben Lilly in ihren großen Bürostuhl fallen, der so herrlich quietschte, wenn man sich hineinsetzte und mit dem man wunderbar Karussell spielen konnte – wenn Mama nicht dabei war.
„Bist du bereit?“, fragte Mama.
Lilly war gespannt auf das Wort ‚Hexe‘. Sie hatte eine gute Wahl getroffen, fand sie. ‚Hexe‘… Lilly dachte an die vielen Hexen, die sie kannte. Es gab gruselige Hexen, alte Hexen, Hexen mit krummen Nasen, langen, grauen Haaren, schrillen Stimmen und spitzen Hüten. Manche konnten auf alten Besen fliegen, manche besaßen Häuser aus Lebkuchen mit Fenstern aus Zucker. Manche hatten Raben als Haustiere, wie die kleine Hexe mit dem Raben Abraxas. Es gab hungrige Hexen, wie die, die Hänsel aufessen wollte. Lilly war immer noch erleichtert, dass Gretel ihren Bruder hatte retten können. Es gab aber auch junge Hexen, wie Bibi Blocksberg, die Jeans trugen und gerne auf Pferden ritten. Und es gab Lillys Hexe, eine listige, kluge, gute Hexe, die im Wald ihren Schatz jedes Mal erneut gegen die Räuber schützen musste.
Ja, Lilly war bereit. Gespannt schaute sie Mama zu, wie Mama die ersten Striche malte.

Mama malte vier Zeichen, alle mit etwas Abstand zueinander, wobei das zweite und das letzte Zeichen gleich aussahen, wie Lilly auffiel.
„Das erste ist ein Ha“, erklärte Mama, „da machst du zwei Striche von oben nach unten, so, und in der Mitte machst du einen Strich, der die beiden verbindet. Schau, sooo.“
Interessiert sah Lilly Mama zu, wie sie dieses ‚Ha‘ malte.
„Das sieht aus, wie im Wald, wenn ein Baum dem anderen ‚Hallo‘ sagt“, fand Lilly.
Mama hielt kurz inne und schaute sich den Buchstaben an.
„Wie meinst du das?“, fragte Mama.
Warum fragte Mama so etwas Merkwürdiges, das war doch offensichtlich. Ohne nachzudenken nahm sich Lilly die Buntstifte aus der obersten Schublade, was ihr eine hochgezogene Augenbraue von Mama einbrachte, und zeigte Mama, was sie meinte. Sie malte das ‚Ha‘ noch einmal auf ihr eigenes Schmierpapier: zwei Bäume, die sich begrüßten.
„Hmm, du hast recht“, sagte Mama nachdenklich, „das ist mir noch nie aufgefallen. Dann bin ich gespannt, an was du denkst, wenn du dir die anderen Buchstaben anschaust. Wie du siehst, gibt es den nächsten Buchstaben gleich zweimal im Wort. Dieser Buchstabe heißt ‚Eh‘. Kannst du mir sagen, an was der dich erinnert?“

Lilly schaute sich das ‚Eh‘ nachdenklich an. Der Buchstabe sah aus, wie eine Schnecke im Schneckenhaus, in die die Hexe die Räuber so oft verwandelte. Mama hatte die beiden ‚Eh’s etwas unterschiedlich gemalt: das vordere ‚Eh‘ schien schüchtern zu sein und ängstlich. Der hintere Buchstabe war neugieriger und bereit, die Welt zu entdecken. Eifrig griff Lilly wieder nach den Buntstiften und malte die zwei Schnecken für Mama, die vordere noch versteckt in ihrem schützenden Panzer, die hintere mit ausgestreckten Fühlern auf Abenteuersuche.
Für die beiden Schnecken benötigte Lilly etwas mehr Zeit, aber Mama wartete geduldig, bis sie fertig war mit Malen und schaute ihr währenddessen interessiert zu. So viel Zeit hatte Lilly schon lange nicht mehr mit Mama alleine verbracht. Wenn Mama und Lilly alleine zuhause waren, musste Mama oft arbeiten. Beim Mittagessen oder Abendessen oder wenn Mama eine Geschichte vorlas, war immer Jakob mit dabei. Das war auch schön, Lilly liebte ihren Bruder sehr, auch wenn Jakob manchmal furchtbar nerven konnte, besonders wenn er sie nicht mitspielen ließ oder wieder einmal sagte, sie sei zu klein für irgendetwas. Aber jetzt, wo Mama nur für sie da war, ohne Jakob und – wie Lilly beschämt zugeben musste – auch ohne Petzi, da wurde Lilly ganz warm ums Herz. Sie war sehr, sehr glücklich.
„Fertig!“, rief sie und hielt Mama das Blatt mit den Bäumen und den zwei Schnecken zur Begutachtung hin. Zwischen den Schnecken hatte sie etwas Platz gelassen, damit noch das letzte Zeichen hinpasste, das bei Mama recht einfach aussah.
„Jetzt fehlt nur noch ein Buchstabe. Der heißt ‚Ix‘ und ist ein einfaches Kreuz“, sagte Mama, während sie nochmal ein Kreuz auf ihr Blatt malte.
Nur noch ein Zeichen? Lilly war verwirrt.
„Aber was ist mit dem Spuckzeichen? Wir haben das Spuckzeichen vergessen!“
Mama lächelte: „Ja, da hast du recht. Es fehlt ein Spuckzeichen. Aber leider wurden Spuckzeichen noch nicht erfunden, so dass wir Erwachsene beim Vorlesen bei jedem Wort aufpassen müssen, nicht zu spucken.“ Dabei betonte Mama ‚jedem‘.
Keine Spuckzeichen? Lilly war schockiert und wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Und vor wirklich jedem Wort aufpassen, nicht zu spucken? Das war ja furchtbar. Furchtbar langweilig. Sie ertappte sich dabei, dass nun ihr die Spucke im Mund zusammenlief. Wenn sie ihr Buch schreiben würde, würde sie auf jeden Fall Spuckzeichen mit einbauen. Auf jeden Fall.

Sie schaute sich wieder den letzten Buchstaben an, dieses Kreuz. Sie musste an die kluge Hexe denken und fragte sich, ob ihre Hexe fliegen konnte. Bis jetzt hatte sie das noch in keiner der Geschichten getan. Doch wie viele neue Möglichkeiten gab es auf einmal, den Räubern ein Schnippchen zu schlagen! Lilly beschloss, dass ihre Hexe fliegen konnte, und malte das ‚Ix‘ zwischen den beiden Schnecken: zwei Hexenbesen über Kreuz.
Als Lilly fertig war, war sie fast etwas enttäuscht. Sie merkte, dass die Zeit mit Mama langsam zu Ende ging. Unwillkürlich kuschelte sie sich etwas enger an Mama. Mama strich ihr über die Haare und drückte ihr einen Kuss auf den Kopf.

„Das war’s. Jetzt kannst du ‚Hexe‘ schreiben. Ganz leicht, oder?“, sagte Mama stolz.
Lilly nickte. Schreiben war gar nicht schwer, aber das wusste sie ja schon. Sie war etwas geknickt, weil es in Wirklichkeit keine Spuckzeichen gab. Das war ein schwerer Mangel, da würde ihr Petzi sicher zustimmen. Petzi würde sehr enttäuscht sein. Lilly war sich sicher, dass Petzi sich still und heimlich auf die vielen Spuckzeichen in den Büchern gefreut hatte, die sie beide noch schreiben würden. Wahrscheinlich hätte er absichtlich viele Wörter mit Spuckzeichen eingebaut, so dass sie sich beim Vorlesen gegenseitig viel anspucken mussten. Sie stellte sich Mama und Jakob mit einem schützenden Regenschirm vor, wenn sie ihnen aus ihrem selbst geschriebenen Buch vorlas mit allen von Petzi eingebauten Spuckwörtern. Lilly musste kichern, wenn sie daran dachte. Oder…oder… vielleicht… Lilly hatte auf einmal eine Idee. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn sie die Leser nicht vorwarnte, dass ein Spuckwort folgte…
Oh, sie musste schnell zu Petzi!

„Mama, ist Petzi jetzt schon wieder sauber?“
Lilly konnte es nicht erwarten, Petzi wiederzusehen und ihm von ihrem Plan zu berichten.


2

Lilly schreibt ein Buch (Teil 2)

In Teil 1 der Geschichte beschließen Lilly und ihr Teddy Petzi, ein Buch zu schreiben.


von Carmen

Petzis Gesicht zeigte keine Regung ob dieser tollkühnen Ankündigung. Vielleicht war er gar nicht überrascht, weil er mit Lilly schon ganz andere Abenteuer erlebt hatte.
„Komm, Petzi“, sagte Lilly. Sie stand auf, packte ihn beim Arm und machte sich auf den Weg zu Mamas Arbeitszimmer, wo immer ein ganzer Vorrat an Stiften und buntem Papier zu finden war.
Mama hatte eine Kiste voller Schmierpapier: alte Briefe oder Texte, die aus einem Gerät namens „Scheiß-Drucker“ herausgekommen waren. Als Lilly Mamas Arbeitszimmer betrat, war Mama dabei, mit einem schwarzen Stift Striche, Kreise und merkwürdige Zeichen auf ein Blatt zu malen, bevor sie das Blatt noch einmal anschaute und es unzufrieden zum restlichen Schmierpapier legte. Lilly hatte Mama einmal gesagt, dass sie wusste, warum Mama so schlecht malte. Mama nutzte nämlich immer die gleichen blauen oder schwarzen Stifte, niemals rote oder grüne oder glitzernde, so wie Lilly es tat. Lilly hatte angeboten, dass Mama ihre Buntstifte benutzen konnte, dann würden die Bilder sicher hübscher werden und sie musste nicht so viele in die Schmierpapier-Kiste entsorgen. Doch Mama hatte Lilly lächelnd erklärt, dass sie gar nicht malen wollte, sondern arbeite. Mama hatte gesagt, dass auch sie bei der Arbeit übe, so wie Lilly auch das Schreiben ihres eigenen Namens hatte üben müssen. Am Anfang klappt es nicht so gut, aber nach und nach wird es immer besser. Das hatte Lilly verstanden und so schaute sie Mama heute interessiert beim Arbeit Üben zu, bevor sie sich entsann, wozu sie hergekommen war.

„Langweilst du dich, mein Schatz?“, fragte Mama, als sie aufblickte und Lilly entdeckte.
„Mama“, platzte es aus Lilly heraus, „Petzi und ich schreiben ein Buch!“
Mama blickte überrascht – und vielleicht ein bisschen stolz. Daher warf Lilly schnell hinterher:
„Ich weiß schon alles übers schreiben! Ich kann Lilly schreiben und der, die und das lesen. Und ich weiß alles über Spuckzeichen, Zeichen für langweilig, wie bei den Rutschbahnen und für gute, wichtige Rutschbahnen.“
„Hmm“, sagte Mama, „dann weißt du ja wirklich schon fast alles. Worüber willst du denn ein Buch schreiben?“
„Über die listige Hexe und die tollpatschigen Räuber. Wie die Räuber immer versuchen, der Hexe den Schatz zu stehlen und wie die Hexe die Räuber am Ende immer in Frösche und Kröten und Blindschleichen und Esel verwandelt.“ Lilly war ganz aufgeregt und musste schon wieder über die dummen Räuber kichern, als sie sich die Geschichte vorstellte.
„Das wird sicher ein lustiges Buch!“, sagte Mama. „Aber ich fürchte, das müssen Petzi und du noch eine Weile aufschieben.“
Lilly bekam große Augen. „Nein! Aber warum denn?“
„Hast du denn vergessen, was heute für ein Tag ist?“
Lilly hat so eine vage Ahnung, aber sie wollte lieber nichts sagen und schob Petzi hinter ihren Rücken.
„Petzi hat heute Waschtag. Je schneller er gewaschen ist, desto schneller könnt ihr mit dem Buch anfangen. Was sagst du?“
„Petzi möchte aber gar nicht in die Waschmaschine!“, sagte Lilly trotzig. Vor allem wollte Lilly so schnell wie möglich anfangen zu schreiben.
„Lilly, dein Teddy ist sehr, sehr dreckig“, erklärte Mama. „Petzi muss gewaschen werden. Da sind sogar noch Flecken von der Schokolade dran, die Oma euch vorgestern mitgebracht hat. So wie du abends baden musst, muss auch Petzi in die Waschmaschine, damit er sich wohl fühlt und gesund bleibt.“
Lilly hatte Tränen in den Augen. Sie wollte doch so gerne sofort mit dem Buch beginnen. Aber Mama hatte recht, da waren wirklich einige dunkelbraune Klumpen in seinem ansonsten hellen, flauschigen Fell. Lilly wollte auf keinen Fall, dass Petzi krank würde.
Mama kniete sich vor ihr hin, nahm sie an den Schultern und schaute sie an.
„Ich mache dir einen Vorschlag, mein Schatz. Wir bringen jetzt Petzi in die Waschmaschine und danach üben wir zusammen, ein paar Wörter zu schreiben. Wenn Petzi wieder sauber und trocken ist, kennst du sogar noch einige Wörter mehr.“
Lilly schluckte kurz. Sie war immer noch sehr enttäuscht, dass sie nicht gleich alles über die Hexe und die Räuberbande aufschreiben konnte, aber sie konnte natürlich nicht ohne Petzi anfangen. Sonst wäre er sehr traurig. Lilly schaute Mama an und nickte.
„Na, dann komm.“

Im Badezimmer, wo die Waschmaschine stand, nahm Mama den kleinen Messbecher, um das Waschpulver in die Maschine zu füllen, während Lilly Petzi beruhigte:
„Keine Angst, Petzi. ich werde nicht ohne dich anfangen. Du wirst jetzt schön sauber und ich hole dich hier wieder ab, wenn du fertig bist.“
Dann gab sie ihm einen dicken Kuss, legte ihn behutsam in die Trommel und schloss das Bullauge.
Mama stellte die Maschine ein und Lilly durfte „Start“ drücken.

„So, Lilly, dann lass uns schreiben“, sagte Mama, während sie zurück zum Arbeitszimmer gingen. „Weißt du schon, welches Wort du zuerst lernen möchtest?“
Lilly hatte noch gar nicht darüber nachgedacht. Es gab so viele spannende Wörter, wie Wald, der je nach Wetter und Jahreszeit immer anders aussah. Im Frühling hatte er so wunderschöne Blüten und es war alles voller Licht. Im Sommer wurde der Wald dunkler und spendete wunderbar Schatten und im Herbst verloren die Bäume Blätter in 1001 Farben, Lilly sammelte Kastanien und Tannenzapfen zum Basteln und Buchecker zum Naschen. Ein anderes schönes Wort war Clown. Lilly mochte Clowns, die konnten jonglieren, hatten riesige Schuhe mit lustigen Beulen an der Spitze und waren genauso tollpatschig wie ihre Räuberbande.
Aber auf einmal kam ihr eine Idee:
„Au ja, ich weiß es!“, rief Lilly. „Ich will ‚Hexe‘ schreiben. Das ist ein Wort mit Spuckzeichen. Die mag Petzi besonders!“

 

Illustration by Karoline Jørgensen
Illustration von Karoline Jørgensen

Schaffen es Lilly und Petzi, tatsächlich ein Buch zu schreiben? Wird Mama die Geschichte lesen können? Seid gespannt auf Teil 3.

Lilly schreibt ein Buch (Teil 1)

von Carmen, Lesezeit ungf. 5 Minuten

Lilly saß auf ihrem selbst gebauten Thron aus dicken Kochbüchern, die Mama ihr zum Spielen geschenkt hatte. Sie hielt sich vier Finger vor die Augen, betrachtete sie eingehend und hielt sie dann etwas tiefer, damit Petzi sie besser sehen konnte. Petzi saß still in ihrem Schoß und schien zu grübeln, genauso wie sie.
Jakob war schon acht und er hatte gesagt, sobald man eine ganze Hand braucht, um zu zeigen, wie alt man ist, ist man groß. Jakob war groß, das stand außer Frage, Lilly brauchte sogar die zweite Hand, um acht Finger zu zeigen. Mama sagte immer Sachen wie „großer Bruder“, wenn sie ihn meinte, oder „Pass auf deine kleine Schwester auf“, wenn sie mit Jakob über Lilly sprach. Ihr Bruder war groß und sie war klein, das war schon immer so. Sie spielte mit dem letzten Finger ihrer ersten Hand. Streckte ihn aus und zog ihn wieder ein. Aus – ein – aus – ein. Sie war noch einen ganzen Finger lang klein. Eine Ewigkeit, die sie sich gar nicht vorstellen konnte. Lilly war frustriert, Petzi teilte das Gefühl.

Jakob konnte so viele wunderbare Dinge machen, er konnte sogar schon schreiben. Wenn er aus der Schule nach Hause kam, machte er sich immer furchtbar wichtig und setzte sich mit dem Heft und einem Stift an den Küchentisch und schaute sehr ernst, während er ein paar Seiten im Heft vollschrieb. Manchmal motzte er Lilly an, wenn sie Lärm machte. Lilly wusste, dass er nur so tat. Jakob hielt die ernste Miene nur kurz durch. Spätestens nach zehn Minuten fing er an, zu kippeln und immer öfter zum Fenster hinauszuschauen. Sobald seine Hausaufgaben fertig waren, schmiss er sein Heft nachlässig in den Ranzen und kümmerte sich nicht mehr darum bis zum nächsten Tag.

Könnte Lilly schreiben, sie würde gar nicht mehr aufhören. Es gab so viele faszinierende Wörter, bei denen sie so gerne gewusst hätte, wie sie aussahen. Rutschbahn zum Beispiel. Sah man dem Wort an, wie viel Spaß es machte, hochzuklettern und hinunterzurutschen? Es gab so viele verschiedene Rutschbahnen, sahen die langweiligen Rutschbahnen geschrieben auch langweiliger aus, als die lustigen? In den Büchern, aus denen Mama ihr abends vorlas, sah Lilly, dass manche Wörter klein und manche groß und manche tiefschwarz mit breiten Strichen und andere ganz dünn und unscheinbar aussahen. Die meisten waren dünn und klein, vermutlich waren das die Unwichtigen. Die meisten Wörter waren ja wirklich unwichtig und doof, so wie Arbeit oder jetzt nicht oder aufräumen.
Etwas, das sich Lilly schon immer gefragt hatte: Gab es im Rutschbahn-Wort eine Warnung, dass man in der Mitte die Möglichkeit hatte, zu spucken, wenn man beim „tsch“-Teil angekommen war. Die Rutschbahn auf der kleinen Wiese direkt gegenüber war langsam und meistens rutschte man gar nicht richtig, sondern musste sich nach unten weiterziehen. Die machte überhaupt keinen Spaß. Wahrscheinlich schrieb man dann ganz klein
„[Zeichen für Spuckwort] [Zeichen für langweilig] Rutschbahn“.
Das war praktisch, fand Petzi. So wusste jeder sofort, mit was für einer
[Zeichen für Spuckwort] Rutschbahn
man es zu tun hatte. Lilly hatte den Verdacht, dass Petzi sich zu sehr für das Spuckwort-Zeichen interessierte und schon dabei war, den Speichel im Mund zu sammeln.
„Nein, Petzi“, belehrte sie ihn mit erhobenem Zeigefinger, „du darfst nicht absichtlich spucken!“
Lilly war nicht sicher, ob sie Petzi überzeugt hatte.

Nachmittags, wenn Mama am Computer arbeitete, langweilte sich Petzi immer ganz furchtbar. Lilly setzte sich dann hin und erzählte ihm eine Geschichte. Petzi mochte am liebsten die Geschichten über die tollpatschige Räuberbande und die kluge Hexe. Die Räuber wollten unbedingt den Schatz der Hexe stehlen, doch die Geschichten endeten meistens, indem die Hexe sie in Frösche oder Esel verwandelte.
Wenn sie Petzi die Geschichten erzählte, kugelte er sich vor Lachen und konnte sich gar nicht mehr halten. Lilly roch den feuchten Waldboden und hörte das unterdrückte Lachen der Hexe, die nur auf einen weiteren Versuch der Räuber wartete, weil sie einen neuen Zauberspruch ausprobieren wollte. Sie spürte die Vorfreude der Räuber darüber, dass der Raubzug diesmal sicher klappen würde und die „Jetzt erst recht“-Einstellung zum Schluss, wenn es wieder nach hinten losgegangen war. Die Puzzlestücke fügten sich und Petzi hörte gebannt zu und lag am Ende völlig erschöpft vor Lachen auf dem Boden.
Wenn Mama abends fragte, was Lilly und Petzi den ganzen Nachmittag gemacht haben, wollte ihr Lilly die Geschichte noch einmal erzählen, aber dann fielen ihr die Details nicht mehr ein. Sie erinnerte sich nicht mehr genau, die Reihenfolge stimmte einfach nicht mehr und die Geschichte erwachte nicht zum Leben. Mama weinte nicht vor Lachen, so wie Petzi es tat. Sie sagte meistens so etwas, wie „schön“ oder „das klingt ja nett, geh und wasch dir die Hände vor dem Abendessen“.
Wie oft hatte sie sich gewünscht, ihre und Petzis Abenteuer im Wald mit der Räuberbande und der Hexe aufschreiben zu können.

Zusammen mit Mama hatte sie schon ein klein wenig lesen gelernt, aus den vielen Büchern, wo die langen Worte mit kleinen Bildern ersetzt worden sind. Lilly konnte schon „und“ und „der“, „die“ und „das“ und „Lilly“ lesen, wobei „Lilly“ nie in einem Buch vorkam, sondern nur von Jakob oder Mama mit großen, fetten Strichen auf ein Schmierpapier aus Mamas Arbeitszimmer geschrieben wurde.

Was würde Lilly dafür geben, groß zu sein und schreiben zu können. Lilly schaute wieder auf ihre vier Finger und  fasste einen Entschluss. So schwer konnte schreiben gar nicht sein, das meiste wusste sie ja ohnehin schon.

 

 „Petzi, hol Papier, wir schreiben ein Buch.“

 

 


Lillys und Petzis Abenteuer, ein Buch zu schreiben, hat begonnen.
Wie es weitergeht?
Schnell weiterlesen – hier gibt es Teil 2!

2

Der Anfang einer Geschichte

von Carmen, Lesezeit zwischen 5 und 10 Minuten


Der Atem brannte im Hals und zeigte sich in schnellem Rhythmus vor seinem Gesicht, wie bei einer aus der Zeit gefallenen Lokomotive. Der selbst geschneiderte Pelzmantel klebte kalt an seinem Rücken, das Gewicht zog Henry zusätzlich nach unten. Henry war sich nicht sicher, ob er weinte oder ob es der pausenlos nieselnde Novemberregen war, der ihm von der Nasenspitze tropfte. Er biss die Zähne zusammen, schluckte einen Mund voll trockener Spucke den vor Anstrengung schmerzenden Hals hinunter und setzte einen Fuß vor den anderen.
Sein Sohn bewegte sich kaum noch und wog schwer in seinen Armen. Mit seinen sieben Jahren war der Kleine gar nicht so leicht: aufgrund der Umstände hier draußen war Lukas dünn, doch gleichzeitig war er ziemlich groß für sein Alter. Das hatte er wohl von seiner Mutter. Aber auch wenn er kleiner gewesen wäre, im Moment lag er unbeweglich wie ein Sack Kartoffeln im Arm seines Vaters, dessen Muskeln anfingen, taub zu werden.
Henry blickte an sich hinunter. Er hob Lukas auf seinen linken Arm, um den rechten frei zu haben. Der Herbstwind hatte eine blonde Haarsträhne unter der Kapuze des Kindes freigelegt, die sich nass und dunkel vor der blassen Stirn abhob. Der Junge hatte das gleiche blonde Wuschelhaar wie er. Bereits bei seiner Geburt war sein Kopf voller, chaotisch zerzauster Haare gewesen. Absurderweise war Henry darauf immer sehr stolz gewesen. Das auffälligste Merkmal des Neugeborenen erinnerte an den Vater, an ihn. Ansonsten kam der Junge eher nach seiner Mutter: das schmale Gesicht mit den Sommersprossen und den ernsten Augen, die jetzt immer wieder zuckten, ohne sich jedoch zu öffnen. Henry spürte, wie sein Kind fieberte. Er musste sich beeilen, Lukas ins Trockene zu bringen. Mit der freien Hand schob er seinem Sohn die Kapuze wieder tief ins Gesicht. Henry kniff die Augen zusammen, damit ihm der Nieselregen nicht direkt hinein flog und nahm den Kampf gegen die Natur wieder auf.

Henry war gezwungen, einen steilen, schlammigen Trampelpfad hinabzulaufen, wenn er zurück zu ihrer Hütte wollte. Er musste höllisch aufpassen, dass er bei diesem Wetter nicht ausrutschte oder auf einen losen Stein trat oder über eine Baumwurzel stolperte. Es gab im Umkreis von vielen Kilometern niemanden, der ihnen hätte helfen können. Niemand würde sie hier oben in den Bergen finden oder überhaupt erst nach ihnen suchen. Er durfte nicht daran denken, was mit Lukas passierte, wenn er stürzte. Was hatte er sich nur dabei gedacht, als er am Morgen mit Lukas losgezogen war? Was hatte er sich nur dabei gedacht, als er mit Lukas in die Berge geflohen war?

Er hatte am Tag zuvor Spuren von Schneeziegen gesehen und auf fette Beute gehofft, jetzt so kurz vor dem Winter. Er machte sich Sorgen wegen ihrer Vorräte, die waren dieses Jahr nicht besonders üppig. Es war erst Mitte November, doch die Reserven waren jetzt schon knapp. Als er die Spuren der Ziegen entdeckt hatte, hatte er gehofft, mit einem oder zwei erlegten Tieren einen kleinen, aber wichtigen Puffer aufbauen zu können. Doch am Morgen hatte Lukas gehustet und war weinerlich. Das hätte Henry ein Warnsignal sein müssen, denn das passte so gar nicht zu seinem Sohn. Lukas war ein ernster Junge. Er erinnerte sich nicht mehr daran, dass er früher einmal andere Kinder gekannt und mit ihnen auf dem Spielplatz gelacht und gespielt hatte. Hier oben gab es nur sie beide, Lukas kannte nur seinen Vater. Henry hatte ihn schon ewig nicht mehr lachen – oder weinen – gehört.
Der Junge erledigte pflichtbewusst seine Aufgaben, er kannte es nicht anders. Er prüfte die Kaninchen-, Fisch- und Vogelfallen und reparierte sie notfalls selbst. Er fütterte den alten Esel, der Vater und Sohn vor drei Jahren geholfen hatte, das Gepäck hochzuschleppen und der seitdem keine Funktion mehr hatte, außer der, ein sehr geduldiger Zuhörer für den Jungen zu sein. Henry hatte die letzten Wochen häufig darüber nachgedacht, den Esel notzuschlachten, wenn die Vorräte nicht reichen sollten und hatte heimlich gehofft, dass die Natur ihm diese Aufgabe abnehmen würde.

In der Früh, bevor sie aufgebrochen waren, hatte Henry Lukas einen Tee mit getrocknetem Berufkraut gemacht und sah die Sache damit als erledigt an. Das bisschen Husten erledigte der Tee in der Regel sofort, Henry und Lukas waren fast ausschließlich draußen und so abgehärtet, dass sie nie ernsthaft erkrankten. Als Lukas den Tee ausgetrunken hatte, waren sie losgezogen, wie geplant. Schneeziegen interessieren sich nicht für die Befindlichkeiten ihrer Jäger. Die Natur interessiert sich nicht für die Befindlichkeiten ihrer Bewohner. Friss oder stirb. Sie durften die Gelegenheit nicht verpassen und sich diese unverhoffte Beute entgehen lassen. Wenn sie das Glück hatten, dass sich Beute in ihre Ecke des Bergwaldes verirrte, mussten sie diese Gelegenheit beim Schopf packen. Alleine könnte Henry die Schneeziegen schwerlich erlegen. Henry war durch die letzten Jahre besser geworden, was das Jagen mit Pfeil und Bogen betraf, aber es fiel ihm immer noch schwer, bewegliche Ziele auf große Distanz zu treffen. Er benötigte Lukas Hilfe, der die Tiere in seine Richtung treiben musste.
Um Mittag herum hatte der Regen auf einmal eingesetzt und die Pläne fürs Jagen über den Haufen geworfen. In den Bergen konnte das Wetter einen immer überraschen. Im dichten Nieselregen war es unmöglich, mehr als fünf oder sechs Meter weit zu sehen.
Normalerweise suchte man sich dann einen Unterschlupf, wo dem man geduldig das Ende des Regens oder zumindest eine bessere Sicht abwartete und nahm danach die Jagd wieder auf. Doch auf der Suche nach einem solchen Unterschlupf musste Henry immer öfter auf Lukas warten, der das Tempo nicht mehr mithalten konnte und irgendwann war klar, dass mit seinem Sohn etwas ernsthaft nicht in Ordnung war. Als sich Henry entschloss, den Nachhauseweg anzutreten, glühte das Kind bereits.
Jetzt, Stunden später, war sein Sohn nicht einmal mehr ansprechbar. Henry gingen tausend Gedanken durch den Kopf. Konnte er es rechtzeitig in die Hütte schaffen, um seinen Sohn vor der nassen Kälte zu schützen? Wie schlimm war das Fieber? Er hatte kaum noch richtige Medikamente, mitgebrachte Medikamente. Konnte sein Sohn ohne Medikamente überleben? Henry überschlug kurz ihren Kräutervorrat. Berufkraut war auf jeden Fall noch da. Weidenrinde und Holunderblüten müssten auch noch vorhanden sein. Hoffentlich reichte das. Hoffentlich half das.

Henry hatte sich für das Leben in der Einsamkeit entschieden, um sich, aber vor allem um seinen geliebten Sohn zu schützen. Sie hätten nicht in der Stadt bleiben können. Das war zu gefährlich gewesen – so dachte er damals. Konnte es ein, dass das seine erste Fehlentscheidung gewesen war? Nicht erst sein blinder Aktionismus heute Morgen, sondern die Flucht vor drei Jahren? Er hätte niemals gehen dürfen. Er hätte vor allem kein kleines Kind mitnehmen dürfen! Wann hatte er den Jungen das letzte Mal lachen sehen. Kinder mussten doch lachen, spielen und herumtollen. Nicht Fallen prüfen und Früchte sammeln. Nicht Verantwortung tragen, ob am Abend etwas Essbares auf dem Tisch ist. Die ständigen Sorgen um Vorräte, Proviant, Jahreszeiten, Wetter. Wie hatte Henry so blind sein können?
Die Hütte war nicht mehr weit, maximal noch eine Viertelstunde – vorausgesetzt er schaffte es heil diesen Trampelpfad hinunter. Lukas fing an zu stöhnen und zu krampfen. Henry spürte die Hitze seines Kindes durch die Pelzmäntel hindurch. Hoffentlich war es noch nicht zu spät.

Sieben Minuten

von Carmen, Lesezeit zwischen 5 und 10 Minuten

Das Verkehrsrauschen gehörte zum Zuhause dazu, wie Strom und fließend Wasser. Wie der Geruch nach einer Mischung aus Holzfußboden und dem Mittagessen. Wie die Wäschespinne, die ihren festen Platz in der Mitte des Schlafzimmers gefunden hatte und als Ablage für getragene Kleidung und Ordner jeder Art diente.
Das Verkehrsrauschen war so vertraut geworden, dass sie es gar nicht mehr wahrnahm. Nicht einmal die Feuerwehr, die nachts vorbeiraste und just vor ihrem Fenster an der Kreuzung Blaulicht und Sirene einschaltete, konnte sie aus ihren Träumen reißen.

Im Sommer hatte sie ihre Eltern besucht in der Kleinstadt, schon fast auf dem Dorf, und wurde jede einzelne Nacht um vier Uhr von ohrenzerschmetterndem Vogelgezwitscher geweckt. Es waren Angriffe auf den Gehörgang, die sich anfühlten wie ein tropfender Wasserhahn. Sie wusste, was kommt, doch sie konnte weder den genauen Zeitpunkt, noch den Rhythmus, noch die Dauer voraussagen. So hatte sie wach gelegen und es über sich ergehen lassen. Und erst dieser motivierte Gockel, der pünktlich um in aller Herrgottsfrüh herum anfing, sich die Seele aus dem Leib zu krähen und damit nicht vor neun aufhörte, obwohl weit und breit keine Konkurrenz oder auch nur ein einziges Weibchen zu sehen gewesen wäre. Seine Ausdauer war gleichermaßen zu bewundern wie zu bemitleiden, war er doch trotz strotzender Männlichkeit zu lebenslangem Verzicht verurteilt. Nach zwei Tagen Schlafentzug hatte sie dem Hahn von Herzen einen Deckel auf den Topf gewünscht. Nicht metaphorisch.
Seit dem Besuch bei ihren Eltern überrollten sie Hassgefühle unbekannten Ausmaßes, wenn sie nur an Federvieh dachte.

Zuhause überdeckte das bekannte Verkehrsrauschen all diese Störgeräusche ornithologischer und anderer Art. Es war stets ein vertrautes, beruhigendes Summen im Ohr, unterbrochen von gelegentlichem, kommunikativem Hupen und abgerundet von vereinzelt quietschenden Reifen. Gerade jetzt, wo bei dem fast sommerlichen Frühlingswetter die Fenster Tag und Nacht geöffnet blieben, waren die Verkehrsgeräusche zur immerwährenden Hintergrundmusik geworden.

So stach der laute Knall hervor, als sie den selbst gebackenen Hefezopf aus dem Ofen nahm, der einen warmen, vanilligen Duft verströmte.
Ein Knall, direkt gefolgt von lautem Schreien und einer schrecklichen Stille. Das stete Rauschen war weg. Den nun folgenden Mangel an Geräuschen empfand sie als zutiefst beunruhigend.
Sie lief zum Fenster und sah es sofort. Auf der Straße, weit unter ihr, lag ein Fahrradfahrer, zu erkennen am weißen Helm auf dem Kopf. Er lag auf dem Bauch und versuchte, sich hochzustemmen. Er schaffte es nicht. Eine Traube an Passanten hatte sich um ihn versammelt, aber es sah nicht so aus, als ob jemand Erste Hilfe leisten würde. Der Fahrradfahrer bewegte sich weiter, er setzte sich mit Mühe auf, redete mit den umherstehenden Menschen, ließ sich wieder zurückfallen und bewegte sich nicht mehr. Wo das Fahrrad war, konnte sie nicht erkennen. Ein paar Meter weiter sah sie die Ursache des unterbrochenen Rauschens: ein schwarzer Familienwagen mit geöffneter Fahrertür blockierte die komplette Fahrbahn. Es war kein Durchkommen mehr für Lastwagen, Auto, Bus oder Motorrad. Während sie einige Sekunden brauchte, die Situation einzuschätzen, überlegte sie, ob sie den Notruf wählen sollte. Da waren wirklich viele Menschen unten und sicherlich würde jemand … Aber andererseits, gelernt ist gelernt, und so griff sie zum Telefon und wählte die 112.

„Guten Tag, Sie haben den Notruf gewählt….“
„Ja. Guten Tag. Mein Name ist…“
„…Wir sind gleich für sie da.“
Sie starrte das Telefon an.
„Äh. Was?“
„Bonjour. Vous avez appelé le numéro d’urgence. Attendez svp. – Guten Tag. Sie haben den Notruf gewählt. Wir sind gleich für Sie da.“ Wiederholt in englisch, französisch, deutsch, italienisch, französisch, deutsch, englisch, irgendwas exotisches und wieder deutsch.
Sie starrte das Telefon weiter an. Eine Warteschleife? Für den Notruf? Wo jede Sekunde zählt?
„Guten Tag, Sie haben den Notruf gewählt. Wir sind gleich für Sie da.“

Draußen vor dem Fenster fing jemand an, die Trümmerstücke von der Straße aufzuheben und sie auf den Bürgersteig zu werfen. Jemand anderes fuhr den schwarzen Kombi zur Seite und machte eine halbe Fahrbahn frei. Der Stau, der sich gebildet hatte, löste sich langsam auf.
„Guten Tag. Sie haben den Notruf gewählt. Wir sind…“
Der Fahrradfahrer hatte sich nicht mehr vom Fleck bewegt. Mittlerweile hatte er sich schon seit einer Weile nicht mehr gerührt. Das Schreien hatte gestoppt. Sie wusste nicht, seit wann sie das Schreien nicht mehr gehört hatte. Dafür war das bekannte Rauschen nun wieder da. Aber das beruhigte sie nicht.
„Bonjour. Vous avez appelé le numéro d’urgence. Attendez svp.“
Es war nicht das erste Mal, dass sie den Notruf hatte wählen müssen. Wenn man an einer vielbefahrenen Kreuzung wohnte, hatte man den einen oder anderen Unfall miterlebt. Seit wann gab es eine WARTE-Schleife beim Notruf?

Sie blickte einmal über die Kreuzung. Sie konzentrierte sich auf das Rauschen. Waren da Sirenen? Sie konnte keinen Rettungswagen oder Blaulicht sehen. Da waren keine Sirenen.
„Guten Tag. Sie haben…“
„Hallo???? HALLO? Hört mich jemand?“ Da musste einfach jemand sein, der helfen konnte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie nur laut schreien musste, damit jemand aus seiner Mittagspause käme, und den Anruf annähme. Das ergab keinerlei Sinn. Es war 17 Uhr am frühen Abend und schon alleine deswegen eine Mittagspause höchst unwahrscheinlich. Ihr Vertrauen, dass immer, zu jeder Zeit, unter dieser Nummer Hilfe erreichbar wäre, war unerschütterlich. Das musste ein technischer Fehler sein. Es gab keine Warteschleifen für den Notruf! Seit wann gab es Warteschleifen für den Notruf? Vermutlich lief ein Band mit und es wurde alles aufgenommen. So musste es sein. Wenn sie nur laut genug schrie, würde es jemand mitbekommen, auch wenn sie nicht direkt mit dieser Person reden konnte.
„Hallooo?“

Der Fahrradfahrer lag unbeweglich auf der Straße, vor dem dicht vorbeifahrenden Verkehr geschützt durch die Passanten um ihn herum. Die Person am Boden musste verletzt sein, sonst würde sie doch zumindest von der Straße runter und sich auf den Bürgersteig setzen, oder?
Sie sah niemanden telefonieren. War der Notruf informiert? Konnte jemand dort unten die 112 erreichen? Hat jemand bereits die 112 erreicht? Oder waren alle in der Warteschleife, so wie sie und blockierten sich gegenseitig? Niemand war in der Warteschleife, denn niemand war am Handy. Aber andererseits waren ihre Augen nicht die besten, vielleicht erkannte sie es nur nicht. Vermutlich standen um die Kreuzung herum noch viele andere Menschen am Fenster. Die könnten doch alle bereits den Notruf informiert haben. Es sei denn, die fühlten sich nicht betroffen. Das war doch ein gängiges Problem, sagte man das nicht immer? Dass Menschen, die ein Unglück sahen, nicht helfen würden, weil sie dächten, jemand anderes würde helfen.
Sie lief zu ihrem Handy und überlegte, ob es Sinn ergab, parallel die Polizei zu rufen.
Aus ihrem Festnetztelefon erklang erneut: „Guten Tag. Sie haben…“
Ihr Herz hämmerte. Wenn sie nun die Polizei anrief und dann ging jemand beim Notruf ans Telefon, entstand nur Verwirrung, weil sie dann zwei Personen am Telefon hatte und sie erst wertvolle Sekunden brauchen würde, das zu klären und das ganze verzögerte sich weiter und sie wäre Schuld an einer Verwirrung, die am Ende vielleicht dem Menschen dort unten das Leben kosten könnte. Wenn sie nun nicht die Polizei rief, dort aber vielleicht jemanden erreicht hätte, beim Notruf aber weiterhin in der Warteschleife festhing, könnte diese Entscheidung ebenfalls das Leben des Verletzten kosten.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Die Situation unten hatte sich nicht verändert, der war doch nicht schon tot, oder? Mittlerweile war sie sich sicher, dass er es gewesen war, der am Anfang geschrien hatte und es nun nicht mehr tat.

„Guten Tag. Sie haben den Notruf gewählt….“
„Hallo? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Gehen Sie ran! Hallo!!!“, sie schrie ihr Telefon an und bemerkte nicht, wie ihr die Tränen über die Wangen flossen. Auch wenn ihr Kopf ihr sagte, dass es Unsinn war, glaubte sie fest daran, dass sie jemand hören musste. Dass es jemanden geben musste, der diesem unglücklichen Fremden da draußen helfen konnte. Dass da niemand vor ihren Augen sterben musste, weil hier, in ihrer Stadt, der Notruf nicht besetzt war.

Nach einer Ewigkeit hörte sie auf einmal ein Klacken in der Leitung.
„Guten Tag. Sie sprechen mit dem Notruf. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Als das Telefonat vorbei war, war sie selbst verwundert, dass sie die Informationen so ruhig und sachlich hatte durchgeben können. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass sie den Notruf gewählt hatte, vielleicht hatte ihr die Erfahrung geholfen. Als sie aufgelegt hatte, hatte sie gezittert. Ihre Hände waren eiskalt gewesen und sie hatte es nicht geschafft, das Telefon wieder in seine Halterung zu stellen. Nach mehreren Versuchen hatte sie es einfach daneben liegen lassen.
Am Ende des Gesprächs hatte sie auf die Uhr gesehen. Seitdem sie den Hefezopf aus dem Ofen genommen hatte, waren sieben Minuten vergangen. Zweieinhalb Minuten später war der erste Wagen der Polizei vor Ort, wenige Sekunden später folgte ein Krankenwagen der Feuerwehr.
Sie blieb noch eine Weile am Fenster stehen, vielleicht, um sich zu versichern, dass man dem Fahrradfahrer nun helfen würde. Dass alles gut werden würde. Vielleicht würde es das wirklich. Vielleicht war es zu spät.
In ihrer Stadt, einer Millionenstadt, am helllichten Tag, hatte sie sieben Minuten lang niemanden erreicht.

Familienabend

Erinnert ihr euch noch an unser Adventsspiel? Damals haben wir 
5  Wörter vorgeschlagen, um daraus eine Geschichte zu basteln.
Marienkäfer, Petersilienhochzeit, Luftpolsterfolie, Massenmörder, Platzhalter
Eine mögliche Geschichte geht so:

von Carmen, Lesezeit <5min

„Sie ist nichts weiter als ein kleiner Terrorist!“ Es glänzte verräterisch in den Augen der jungen Frau, als sie den Kopf von der Grußkarte hob und in Richtung Kinderzimmer blickte. Von dort war nach einer sehr kurzen, sehr trügerischen Stille neues, ohrenbetäubendes Geschrei zu hören.
„Nana, so kannst du sie doch nicht nennen!“ Ihr ebenso junger Ehemann versuchte es in beschwichtigendem Tonfall, obwohl man ihn bei diesem Lärm fast überhörte.
„Warum denn nicht??? Immer, immer, immer schreit sie. Sie hat keinen Hunger, sie ist nicht krank, sie liegt trocken und warm. Sie weint, wenn ich sie halte, sie weint, wenn du sie hältst, sie weint im Bettchen. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal geschlafen habe. Ich schaffe es nicht einmal mehr, einen Text für Sylvias und Hennings Petersilienhochzeit zu schreiben.“ Nun waren die Tränen in ihren Augen deutlich zu erkennen. „ICH DARF SIE TERRORISTIN NENNEN, WENN ICH DAS WILL!“
Die junge Frau schloss kurz die Augen, atmete tief durch: „Ich bin doch ihre Mutter. Wir haben alles genauso gemacht, wie der Arzt es gesagt hat. Wie es hier steht“, sie deutete auf ein Buch, das aufgeklappt, mit den Seiten nach unten, auf dem Couchtisch lag, „trotzdem hört sie nie auf, zu weinen.“
„Schon gut, schon gut. Ich meine nur, du kannst sie doch heutzutage nicht Terroristin nennen! Was sollen denn die Leute denken, die das mitbekommen.“ Hilflos versuchte er seiner Frau etwas zu erklären, das Müdigkeit und Lärmpegel unerklärbar machten.
„Wie soll ich sie denn dann nennen??? Massenmörderin?!? Sie ermordet meine Nerven. Haufenweise.“ Was als Scherz gedacht war, führte nur dazu, dass nun endgültig alle Dämme brachen und die junge Frau ebenfalls weinte. Wenn auch leiser als ihre Tochter.
In Anbetracht der Lautstärke seines Kindes verzichtete der Vater darauf, etwas zu erwidern. Er erhob sich vom Sofa und berührte seine Frau beruhigend an der Schulter und schaute neugierig auf die mit Luftballons dekorierte Grußkarte auf ihrem Schoß. „Lorem ipsum sit amet“ war in dünner Bleistiftschrift darauf zu lesen. Darunter zwei rote Marienkäfer auf einem Petersilienbüschel gemalt und in Schönschrift „Alles Liebe zur 12einhalb wünscht Familie Nickels“. Fragend zog er eine Augenbraue hoch.
„Mir fällt nichts ein, daher arbeite ich mit Platzhalter. Wie im Büro. Ich glaube, mein Unterbewusstsein will mich zur Entspannung wieder zur Arbeit schicken.“ Wieder versuchte sie ein Lächeln zustande zu bringen. Es brach ihm fast das Herz.
Kurz drückte er die Schulter seiner Frau. Vielleicht war es unterstützend gemeint oder beruhigend. Vielleicht hätte man es auch als „Ich habe so wenig Ahnung wie du“ interpretieren können.
Dann verschwand er seufzend ins Nebenzimmer, um nach dem Baby zu sehen.

Kurze Zeit später erschien der junge Vater wieder im Wohnzimmer, die kleine Xenia weinend auf dem Arm. In sanftem Tonfall mit einem Lächeln auf den Lippen wiegte er das kleine Bündel in seinen Armen, indem er in ruhigem Rhythmus von einem Fuß auf den anderen trat:
„Na du kleiner Terrorist… pschschscht…Jaa, ein kleiner Terrorist bist du, jaa.“
Die kleine Xenia schaute ihren Vater neugierig an und vergaß kurz, zu weinen. Dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig.
Verwundert, fast hoffnungsvoll, blickte die Mutter von der Glückwunschkarte hoch in Richtung der ungewohnten Stille. Von draußen drangen auf einmal das lange vergessene Hupen und Rauschen des Straßenverkehrs hinein. Und der Vater, seinerseits, übermüdet und überfordert von den alten Bekannten in seinen Ohren, die dort nur sein konnten, weil etwas anderes fehlte, war selbst so verwirrt, dass er zur Orientierung stehen blieb und vergaß, weiterzusprechen.
Ein Fehler.
Innerhalb weniger Sekunden war wieder alles beim Alten.

„Luftpolsterfolie!“, rief seine Frau plötzlich. Triumph spiegelte in ihren Augen.
„Luftpolsterfolie?“, fragte ihr Mann.
„Jaja, diese Plastikböbbel, die man mit den Fingern zerdrücken kann. Jeder LIEBT es, die zum Platzen zu bringen. Die Vase, die wir gestern geliefert bekommen haben, da war welche dabei. Damit können wir Xenia beruhigen.“

Nun war es am jungen Vater, die Tränen zurückhalten zu müssen. Wie sollte er seiner Frau erklären, dass ihre brillante Idee zum Scheitern verurteilt war? Vielleicht würde Xenia aufhören zu weinen, wenn sie das beruhigende Ploppen der Bläschen hörte. Als die Tochter von ihnen beiden würde sie das sogar mit ziemlicher Sicherheit, ansonsten würde er ernsthaft die Elternschaft seiner Frau und von sich selbst in Frage stellen. Doch heute würden sie das nicht mehr herausfinden. Die Luftpolsterfolie war bereits platt. Das letzte Luftbläschen zerdrückte er gestern mit großer Genugtuung vor dem Fernsehgerät, während seine Frau mit der kleinen Terroristin zur Beruhigung ein paar Runden im Auto drehte.

Die gleichen 5 Wörter, aber eine ganz andere Geschichte erzählt Jana in
„Der Duft von wilden Rosen“.

Der Ort

von Carmen, Lesezeit <5min.

Jeder von uns hat einen Ort. Diesen einen Ort, an dem du wieder Kind sein kannst. Zu dem du gehst, wenn das Leben beschissen ist und du dabei bist, zu vergessen, wer du bist. Wer du sein wolltest. Wer du einmal warst. Für jeden von uns gibt es diesen Ort. In Hollywoodfilmen ist es immer eine Parkbank – meist mit Ausblick – oder das Dach eines Hochhauses – immer mit Ausblick. Und vielleicht ist das der Grund, warum einige ihren Ort bislang übersehen haben, denn ich versichere dir, es ist selten eine Bank oder ein Hochhaus und es ist niemals eine Aussicht.
Wenn ich traurig bin und mich das Gefühl der Einsamkeit erdrückt, gehe ich zu meinem für mich besonderen Ort, der mich in alte Tage zurückführt und mich das unbeschwerte Lachen meine Oma hören lässt.
An solch grauen Tagen betrete ich das große Einkaufszentrum in der Stadt, lasse mich von der Rolltreppe in den dritten Stock in die Küchenwarenabteilung fahren und betrachte die Holzlöffel. Das ist mein Ort. Dort bin ich Kind, mit teigverschmiertem Mund, stolz, dass meine Großmutter mich beim Kuchenbacken helfen lässt.

Oma trug immer ein damals schon altmodisches Hauskleid in hellen Farben – rosa, gelb oder hellblau – und eine mit Rosen bestickte Schürze um den „großen“ Bauch. Und sie roch immer, wirklich immer, nach einer Mischung aus Kölnisch Wasser und Zimt.
Oma konnte am besten Kuchen backen „von allen Menschen auf der ganzen Welt“ – das wusste ich als Kind ganz genau. Georg Ruprecht behauptete zwar immer, seine Oma könne am besten backen, aber er log und weil er nicht aufhören wollte, zu lügen, haben wir uns geprügelt. Danach hat Oma gesagt, jeder mag den Kuchen der eigenen Oma am liebsten, das hat der liebe Gott so gewollt und dass ich mich entschuldigen müsse. Also habe ich mich beim Georg entschuldigt, aber ich habe trotzdem nicht mehr mit ihm gespielt, weil so richtig glauben konnte ich das nicht.
Wenn ich nachmittags keine Schule hatte, zeigte mir Oma, wie man bäckt. Natürlich nicht richtig, denn dafür war ich noch zu klein, aber manchmal, wenn ich brav war, hat sie mir eine kleine Schüssel mit rohem Teig gegeben, den ich mit einem Holzlöffel umrühren durfte. Ich wollte neben ihr rühren und brauchte deswegen einen Hocker, auf den ich mich stellen konnte. Mit ihren warmen, stets lächelnden Augen hat sie aufgepasst, dass ich nicht vom Hocker falle und mir dann über die Schulter geschaut und mir gesagt, wie gut ich das mache. Zwischendurch musste ich ein oder zwei Stückchen Apfel probieren, damit wir sicher waren, dass der Apfel auch gut genug war für Omas Apfelkuchen. Und später, wenn der Kuchen schön warm und dampfend aus dem Ofen kam, musste ich den Zimt darüber streuen. Das war meine Aufgabe. Erst dann war der Kuchen fertig. Und meistens habe ich dann genauso gerochen wie Oma.

Heute meide ich Zimt. Ich habe weder Zimt noch einen Holzlöffel zuhause. Diese Gegenstände sind mir zu wertvoll geworden und ich will ihre Bedeutung nicht abnutzen, indem ich sie zu oft sehe.

An dem einen Nachmittag lief ich nach den Schule so schnell ich konnte zur Oma. Die Schule war früher fertig als sonst, vielleicht war eine Lehrerin krank geworden, und ich hatte mir große Mühe gegeben, brav zu sein. Ich und Oma konnten also früher anfangen mit backen, ich war sehr aufgeregt.
Stolz rührte ich den Teig in der Schüssel. Aber diesmal wollte Oma mir nicht über die Schulter sehen und sie sagte mir auch nicht, wie gut ich das mache. Sie lächelte nicht, nicht einmal mit ihren Augen. Ihre Augen waren halb geschlossen. Sie sei müde, sagte sie, sie setze sich kurz hin. Also lief ich zu ihr, hielt ihr den Holzlöffel hin, und forderte sie auf, mir zu helfen.

Das war heute, vor zwanzig Jahren. Meine Eltern und mein Bruder wissen, dass ich sie nicht zum Friedhof begleiten werde. Das tue ich nie. Ich bin hier, im Einkaufszentrum zwischen den Leuten, die umherschwirren, in ihre Handys hineinschreien und keine Augen für die Welt haben. Dies ist mein Ort, hier bin ich.
Ich sehe die Holzlöffel.
Und auf einmal bin ich Kind. Ich rieche die Mischung aus Zimt und Kölnisch Wasser, fühle ihr warmes Lächeln in meinem Rücken und weiß, dass sie hinter mir steht und aufpasst, dass ich nicht falle.

 

2

Aufregung

von Carmen, Lesezeit ungf. 5min.

Ich bin zufrieden, junger Freund, schön dass du fragst. Alles ist wie immer. Das ist gut. So soll es sein. Eigentlich ist ja meist alles, wie immer. Ruhig und sicher.
Ich mag keine Aufregung und du, junger Heißsporn, solltest dich auch davon fernhalten. Aufregung bedeutet Gefahr und Gefahr bedeutet unseren fast sicheren Tod. Das ist nun einmal so. Unseren FAST sicheren Tod.
Komm, hilf mir, einen neuen Flur zu essen, dann berichte ich dir von vergangenen Aufregungen. Du wirst es nicht bereuen:
leichtes Petersilien-Pilz-Aroma, bitter, mit fruchtigem Holunder-Abgang, du wirst es lieben.
Ich erinnere mich, die letzte Aufregung hat mich ein Viertel meiner Ringe gekostet. Wie ich sie vermisse – sie betonten meine schlanke, schmale Figur. Aber die Ruhe danach, glaub mir, war den Preis wert.

Halt jetzt, hier habe ich mein Schlafzimmer geplant. Hier müssen wir sorgsam vorgehen, ich will ja, dass es nachher schön gemütlich wird. Der Boden hier ist hart und lehmig, ein besonderer Leckerbissen. Ach, was solls, tob dich ruhig aus, iss dich satt, dann wird das Schlafzimmer wohl doch größer als geplant. Ich kann den kleinen Naschereien links und rechts auch nie widerstehen.
Warte kurz, mein Freund, lass mir den Vortritt. Die Schlafzimmertür will ich mir selbst beißen. Ein vorzügliches Stückchen Land habe ich mir hier ausgesucht, denke ich mit Stolz geschwelltem mittlerem Ring.

Stopp! Warte! Meine Intuition sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Unruhe ist nicht gut. Spürst du das auch?
Nein? Ah, ich werde alt und sehe schon Beben, wo keine sind. Iss du mal weiter, ich ruhe mich auf den Schreck kurz aus.
Doch! Da! Da war es wieder! Diesmal hast du es doch auch gespürt, oder? Ganz eindeutig! Die Erde bebt! Hier. Ausgerechnet.
WASSER! Wasser, mein Freund, Wasser ist nicht gut! Hör mir jetzt zu, denn Wasser ist ein hinterlistiges Monster, das musst du wissen. Erst kündigt es sich durch Beben an, alles wackelt und vibriert und wenn wir Pech haben, stürzen unsere Gänge ein.
Manchmal geht dann alles sehr schnell, das Wasser durchnässt die Wände, es fließt durch die Gänge, es schnürt dir die Luft ab. Dann musst du ganz flink sein, wenn du nicht qualvoll ersticken oder ertrinken möchtest. So habe ich meine Mutter verloren, damals. Als das Beben anfing, suchte sie nach mir, um mich zu warnen. Ich kannte die Zeichen noch nicht, ich war zu jung, so jung, wie du jetzt. Ich kroch vor, so schnell ich konnte, ich bin niemals zuvor oder danach so schnell gekrochen, wie damals. Als ich nach einer Ewigkeit wieder trockenen Boden fühlte und ich mich erleichtert nach meiner Mutter umdrehte, war ich allein.

Manchmal gibt dir das Wasser Zeit. Dann kann man aus dem geliebten Heim hinauskriechen, um an den einzigen Ort zu gelangen, an dem man sicher ist – vor dem Wasser. Die Oberfläche. Doch dort warten andere Monster. Monster, denen das Wasser nichts ausmacht. Sie ertränken dich nicht und sie ersticken dich nicht, nein. Sie haben sich andere Methoden ausgedacht: sie zerfleischen dich, sie ziehen an deinen Enden, bis du in der Mitte auseinanderreißt, sie zerquetschen dich, bis du nur noch als Matsch auf der Erde klebst oder sie verspeisen dich. Ja, wirklich, diese Monster fressen uns. Die Oberfläche ist die Hölle. Gehe niemals dahin, wenn du es nicht musst, aber wenn du es musst, sei vorbereitet. Bleibe vorsichtig, lehne dich nicht erleichtert zurück, wenn du die nassen Gänge hinter dir gelassen hast. Denn das wird dein Tod sein.

Ich spüre weiterhin dieses Zittern, spürst du es auch? Jetzt wo du weißt, was uns blüht, sag mir, was sollen wir tun? Ich kann mich nicht entscheiden. Ich bin mir nicht sicher. Kommt das Wasser? Regnet es wirklich?
Wenn es regnet, dürfen wir keine Zeit verlieren! Jede Sekunde zählt.
Komm, hilf mir, wir beißen uns einen Gang zur Oberfläche, es hilft nichts.
Wie quälend langsam wir doch sind, dabei wird das Beben hier immer stärker. Aber spürst du das? Die Erde wird nicht feucht. Was ist da los?
Zweifel dürfen und können wir uns nicht leisten, wir müssen weiter graben. Wir haben keine Wahl.
Geh du vor, ich werde dir folgen.

Der Besuch der launischen Dame

von Carmen, Lesezeit ungf. 2 Minuten

Dieser Text entstand am Freitag, 27.03.2020, in dieser Zeit, in der wir alle das Wort Quarantäne rückwärts buchstabieren konnten und bereits jeden rauen Fleck an der gegenüberliegenden Zimmerwand durchanalysiert hatten. (Notiz an mich selbst: Sollte nach Enätnarauq gestrichen werden. Dringend).
Dieser Text entstand als 10-Minuten-Aufwärmübung. Regeln: Alles aufschreiben, sehen, wohin der Stift mich führt, auf Assoziationen eingehen und sich treiben lassen. Nicht aufhören, Grammatik-, Orthographie- und Stilregeln existieren nicht. So oder so ähnlich rät uns Doris Dörrie in den Schreibprozess zu starten. Es kommen immer wieder verblüffende Ergebnisse dabei heraus.
Viel Spaß beim Lesen.

Mich besucht derzeit immer öfter eine Bekannte aus der guten alten Zeit. Eine Herumtreiberin, die immer mal hier und dort und überall ist und eigentlich nirgendwo ganz. Wir haben uns nie so besonders gut verstanden, meist war sie mir egal. Denn ich war meist nur hier. Hier in meiner Wohnung, oder hier auf der Arbeit. Orte, die sie nicht interessieren.
Habe ich mich mal auf einen Besuch von ihr vorbereitet, kam sie nicht. Dann wiederum klingelte sie Sturm, als es mir so gar nicht passte. Wegschicken konnte man sie nie, wenn sie da war, war sie da und blieb, bis sie keine Lust mehr hatte. Und das konnte dauern. Tage, Wochen, manchmal sogar Monate.
Meine Bekannte ist eine launische Person, das wisst ihr besser als ich. Sie kommt und geht, wie es ihr passt, heute temperamentvoll, morgen apathisch, dann wieder mit viel Geduld und an anderen Tagen war sie so gestresst, dass ich regelrecht gegen sie ankämpfen musste, um mich durchzusetzen. Wehmütig erinnere ich mich an diese Zeit.
Wen interessieren heute noch ihre Launen? Ich bin in meinen vier Wänden, geschützt und zugedeckt. Ich kann auf sie verzichten als launische Begleiterin, ich verzichte auf ihre singende Herbststimme, ich verzichte auf ihr freundliches Lächeln im Frühling.
Ich komme mir vor, als befänden wir uns im Krankenhaus auf der Intensivstation und betrachteten uns durch eine schützende – trennende – Glaswand. Durch das Glas sehe ich, wie sie sich gerade fühlt. Ich interpretiere es aus den flatternden Flaggen. Ich erkenne sie an den Knospen des Baumes und am Reif, der frühmorgens das Gras umhüllt.
Die Erfahrung im Umgang mit ihr sagt mir, dass ich mir heute besser einen Mantel anziehen sollte, wenn ich das Haus verlasse. Dass ich besser nicht die Handschuhe vergesse, wenn ich mich aufs Rad schwinge. Dass ich vorsorglich schon einmal die Mütze zu den Laufsachen packen sollte, will ich nicht mit hochroten Ohren von der Joggingrunde zurückkehren.
Ich ignoriere die Erfahrung, sie ist obsolet. Die Handschuhe nehme ich trotzdem. Ich betrachte meine Bekannte durch die Intensivscheibe und freue mich, dass sie mich besucht hat.
Und ich verspreche ihr, dass wir uns in Zukunft öfter sehen werden.

Nun, wie steht ihr zu der launischen Dame? Habt ihr sie erkannt?
Schreibt mir Eure Meinung als Kommentar unter diesen Text oder an mich persönlich unter carmen[at]mittendrin.blog.
Alles Liebe und bleibt gesund!

Ein romantisches Rendez-Vous

von Carmen, Lesezeit ungf. 2 Minuten

Christian hatte einen Plan, als er mich heute zum Mittagessen abholte, das sah ich ihm an, als ich ihm die Tür öffnete. Fünfmal hatte er geklingelt, in schneller Folge. Die Vorfreude strahlte förmlich aus ihm heraus. Ganz traditionell hielt er mir einen bunten Tulpenstrauß entgegen. Lächelnd begrüßte ich ihn mit einem Kuss, nahm die Blumen entgegen und hielt die Luft an, während ich sie – weit von mir gestreckt – schnell auf den Balkon brachte. Ich nahm mir vor, das Thema während des Mittagessens kurz anzusprechen. Ich griff nach meiner Tasche und ließ mich von Christian zum Wagen führen. Auf die Jacke verzichtete ich, bei diesen frühlingshaften Temperaturen würde ich sie nicht benötigen.
Christian hatte mir bei unserem letzten Treffen erzählt, dass er einen sehr romantischen Ort kenne, den er mir unbedingt – UNBEDINGT – zeigen müsse. Vielleicht das sich drehende Restaurant oben im Fernsehturm? Die Rooftop-Bar im Zentrum, von wo aus man einen wundervollen Blick auf die Kirchtürme hatte und die Berge im Hintergrund sah? Ich war gespannt.

Christian war der Squash-Partner eines Arbeitskollegen, das erste Mal begegnete ich ihm vor zwei Wochen bei einem gemeinsamen Mittagessen in der Kantine. Es hatte sofort gefunkt, wir haben die Nummern getauscht und uns seitdem zweimal getroffen. Ich hatte ein gutes Gefühl, was ihn betraf. Er schien ein kreativer Mann zu sein und ich LIEBE Überraschungen. Ein weiteres Detail, das mir gut gefiel. Meine Vorfreude darauf, zu erfahren, was er für uns plante, war wohl ebenso groß, wie seine Vorfreude auf meine Reaktion.

Nach kurzer Fahrt bogen wir auf einen Parkplatz ab, er stieg aus und öffnete mir die Tür. So langsam schwante mir, wo wir waren. Direkt vor uns war der Eingang zum botanischen Garten. Er wollte doch nicht etwa…? Noch hatte ich Hoffnung. Der Garten war eher klein und hatte keinerlei Möglichkeiten, sich etwas zu essen zu besorgen. Zudem war er sowieso noch geschlossen – die Saison startete erst in einer Woche. Vielleicht war es nur ein kurzer Zwischenstopp? Verwirrt blickte ich ihn an, während er vielsagend den Kofferraum öffnete und einen großen Strohkorb entnahm. Eine Flasche Wein konnte ich von meinem Standort aus erkennen. Ich bekam große Augen, Panik stieg in mir auf.
„Um diese Jahreszeit gibt es hier die schönste Blumenwiese, die du dir vorstellen kannst. Alle möglichen Pflanzen blühen gerade. Mein Nachbar ist hier der Landschaftsarchitekt.“ Und die nächsten Worte sang er sogar triumphierend, während er ein kreditkartengroßes Plastikteil aus seiner Hosentasche hervorholte: „Er gab mir den Schlüssel.“ Er sah mir in die Augen: „Was hältst du von einem Picknick?“
„NICHTS!“, dachte ich, „rein gar nichts halte ich davon.“ Was sollte ich ihm jetzt sagen? Dass ich richtig panisch war? Etwas in meinem Kopf setzte aus. Ich starrte Christian fassungslos an. Mein Date deutete meine Wortlosigkeit als Überwältigung, nahm meinen Arm und führte mich zur Wiese.
Er hatte recht: es war die schönste Wiese, die ich jemals gesehen hatte. Alle möglichen Blumen blühten in den wildesten Farben. Käfer, Schmetterlinge, Hummeln und Bienen stürzten sich ins Getümmel ohne sich von uns gestört zu fühlen. Das pure, saftige Ballett des Lebens tanzte vor unseren Augen. Und dazu passend: Pollen!
Langsam aber sicher sah ich nichts mehr, meine Nase war komplett zu, die Augen tränten. Mein Gesicht und mein Hals schwollen an, ich fühlte, wie sich meine Wangen erhitzten. Der Atem ging nur noch singend ein und aus.
Endlich drehte sich Christian zu mir um, um zu sehen, was ich von seiner Überraschung hielt.
„Bitte“, flüsterte ich, „kannst du mich ins Krankenhaus fahren?“

Morgens früh um sechs

von Carmen, Lesezeit 1-2 Minuten

Mit halb geschlossenen Augen greift sie in die Spülmaschine, nimmt eine benutzte Tasse heraus und stellt sie neben die Kaffeemaschine, wo der hoffentlich wach machende Kaffee gemütlich durchtröpfelt. Sie muss wach werden. Es gibt einen Grund, weswegen sie nicht mehr in ihrem Bett liegt. Einen wichtigen Grund! Und zwar … Fest versucht sie sich zu konzentrieren und presst hierfür sogar die Augenlider zusammen. Den Schlaf irgendwie vertreiben – die Nacht ist einfach zu kurz gewesen. Sie muss gähnen. Ausgiebig.

Unter der Dusche schläft sie fast im Stehen wieder ein. Wieder zurück in der Küche, mit einem Handtuch um die noch feuchten Haare, hat sie schon wieder vergessen, was sie nicht vergessen wollte. Warum nochmal musste sie sich eben so feste konzentrieren? Vielleicht fällt es ihr nach dem Kaffee wieder ein. Als sie den frischen Kaffee in die bereit stehende Tasse gießen will, stellt sie verwundert fest, dass diese nicht besonders sauber ist. Kopfschüttelnd stellt sie die Tasse zurück in den Schrank und nimmt sich eine neue heraus. Wenns ihr doch bloß wieder einfiele.

Erdbeerschnee

von Carmen, Lesezeit 1-2 Minuten

„Wie Erdbeerschnee“, erklärte ich noch dem Polizisten, „genau so sieht es aus!“ Appetitlich rot hat es tatsächlich ausgesehen, richtig zum reinbeißen. Manche Stellen waren heller, doch je näher man zur Leiche hinschaute, desto dunkler wurde die Farbe. Den Polizisten hat meine Beschreibung freilich nicht interessiert, er hatte sich längst selbst ein Bild gemacht.
Den toten Körper des älteren Nachbarn mit seiner für alle Ewigkeit verzerrten Fratze hatte ich mich nicht mehr getraut, anzuschauen. Ein kurzer Blick hatte genügt und es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich sehe das Bild immer noch, wenn ich die Augen schließe.
Ich versuchte, mich auf den Schnee zu konzentrieren. Am Morgen hatte er noch so wundervoll silbern geglitzert. Friedlich, unberührt, edel. Man hatte den Drang, sich hineinzuwerfen und darin einzutauchen. Ich musste an Schneeengel denken. Tja.

Als ich später Herrn Hofmann gefunden hatte, lag er nicht so, wie Schneeengel gewöhnlich liegen. Der Schnee hatte dafür aber auch die falsche Farbe. Er war nicht göttlich silbern, sondern fruchtig rot. So wie die süßen Erdbeeren, die mir Herr Hofmann immer aus seinem Garten mitgebracht hatte. Das wird er jetzt wohl nicht mehr tun, fiel mir ein. Erdbeerschnee. Herr Hofmann lag in Erdbeerschnee. Wie passend, dachte ich, aber das sagte ich lieber nicht dem Polizisten. Der hätte das wohl nicht verstanden.

Das Schmuckstück (Teil 2)

Du kennst Teil 1 der Geschichte noch nicht? Lies los!

von Carmen, Lesezeit zwischen 5 und 10 Minuten

„Das kann doch jetzt nicht wahr sein! Du Vollhonk! Du Idiot bringst uns alle um!“ Betty kämpfte schwer gegen die Panik und die Hysterie an. Hinter sich hörte sie das Keuchen und das Scheppern wieder lauter werden, konnte die Geräusche durch den undurchdringlichen Rauch aber erneut nicht zuordnen. Plötzlich zischte es und der Rauch wurde noch dichter. Sie hatte das Gefühl, rein gar nichts mehr zu sehen. Sie mussten unbedingt hier raus – das Fenster war ihre Rettung, das Fenster war alles, was zählte. Immerhin hatte eine aus der Mädelsrunde geistesgegenwärtig die 112 gewählt. Trotzdem konnten sie sich nicht darauf verlassen, dass die Feuerwehr sie schnell genug retten würde. Der strampelnde Darwin-Award-Anwärter musste aus der Fensteröffnung weg.

Gerald war dabei, Darwin – wie ihn Betty in Gedanken getauft hatte – mit aller Kraft durchs Fenster zu drücken. In Susannes Augen ein Ding der Unmöglichkeit.
„Der ist zu fett, Gerald, der passt da nicht durch. Merkst du das denn nicht. Hör auf, zu schieben, du musst ihn wieder hereinziehen. Hörst du mir zu?!? ZIEH IHN HEREIN!“
„Halt den Mund, Susanne! Halt. endlich. EINMAL. den Mund! Wenn wir hier drin krepieren, muss ich wenigstens deine beschissenen Kommentare nicht mehr hören! Immer musst du alles besser wissen.“
„Jetzt hör aber mal auf! Nur weil DU strunzdumm bist, bin ich noch lange keine Besserwisserin. Und was heißt hier, krepieren??? Zieh ihn rein und niemand stirbt!“
„Wenn wir das hier wirklich überleben, will ich dein hässliches Pferdegesicht nie wieder sehen müssen. Ich will die Scheidung!“

„Seid ihr jetzt komplett irre geworden?! Hört auf, zu streiten!“ Betty merkte, dass sie nicht weiterkamen. Mit einem Schritt war sie dort, wo sie Jakobs Wimmern vermutete, griff nach unten, erwischte ein Haarbüschel und zog den apathischen Mann hoch.
„Mein kleiner süßer…“
Sie hörte, wie die Ohrfeige ihn traf. Sie fühlte, dass sie seine Nase erwischt hatte, aber sei‘s drum. Sie packte ihn an den Armen.
„Jetzt reiß dich zusammen! Willst du deinen Jungen so im Stich lassen? Willst du uns alle im Stich lassen? Willst du das?“ Betty wurde ungewollt immer lauter, bis sie durch einen Hustanfall unterbrochen wurde. Der Rauch biss in den Lungen. Außer Atem redete sie weiter: „Komm, reiß dich zusammen! Denk an den kleinen Tobi. Hilf uns! Schaffst du das? Schau mich an. Schaffst du das???“
Durch den Rauch konnte sie seine Reaktion nicht sehen, doch sie spürte, wie ein fast unmerklicher Ruck durch Jakob ging. Er überlegte kurz.
„Wenn wir ihn nicht nicht aus der Fensteröffnung bekommen, muss halt das Fenster weg! Leute, hört mir alle zu! Die Außenwand hier ist nicht allzu dick. Wir nehmen den großen Kühlschrank und nutzen ihn als Rammbock.“

Danach ging alles ganz schnell. Nach kurzem Zögern halfen alle Gäste, das Gerät zu leeren und die Kabel von der Wand zu lösen. Trotz der miserablen Sicht ging die Arbeit zügig voran und innerhalb von zwei oder drei Minuten jonglierten sie den schweren Kühlschrank über ihren Köpfen.
„Auf mein Zeichen!“
Schon beim ersten Anlauf zeigte sich eine deutliche Delle neben dem Fenster. Beim dritten Anlauf hatte sich ein deutliches Loch in der Außenwand gebildet. Kurz darauf hatte es sich mit der Fensteröffnung verbunden. Darwin krabbelte schnell nach draußen, gefolgt vom Rest der Gäste. Betty bildete das Schlusslicht. Als sie endlich frische Luft schnappen konnte, kamen ihr die Tränen der Erleichterung. Mit einem Blick erkannte sie, dass alle ihre Gäste wohlbehalten entkommen waren. Das rhythmische blaue Licht zweier Löschzüge flog über ihre Gesichter. Ein Dutzend Feuerwehrleute war bereits dabei, die Schläuche abzurollen.
Wenn Betty nur geahnt hätte, welch katastrophale Wendung die Eröffnung nehmen würde. Der Abend hatte so vielversprechend begonnen, als sie mit Hans die letzten Detals besprochen…

HANS! Betty wurde fast ohnmächtig vor Schreck. Sie hatte Hans komplett vergessen!
„HANS! Mein Gott, Hans!“ Ihr wurde eiskalt. Er war doch noch ein Teenager, ein Kind. Blutjung. Unschuldig. Alle waren sie draußen, alle Gäste saßen auf der Straße. Es konnte nicht sein…
„Hans! Um Gottes Willen! Wo bist du? So sag doch was!“
Plötzlich tauchte eine rußgeschwärzte Person im Durchgang zwischen Schutt und Ziegelsteinen auf. Hans. Unter seinem Arm erkannte Betty den großen Putzbottich der Bar.
„Ich bin hier, Boss.“
Mit einem Aufschrei rannte sie zu ihm und drückte den Jungen fest an ihre Brust. Der Bottich fiel mit einem metallischen Scheppern zu Boden.
„Gott sei Dank ist dir nichts passiert! Wo warst du denn bloß! Das hätte ich mir nie verziehen, wenn dir was passiert wär.“ Erneut liefen Betty die Tränen über die Wangen.
„Keine Sorge, Boss. Ich hab mich um das Feuer gekümmert. Ist jetzt aus.“
Betty löste sich aus der Umarmung und schaute den Jungen an.
„Was?! Wie ‚ist jetzt aus‘? Worum hast du dich gekümmert?“ Hans hätte chinesisch reden können, das hätte Betty in diesem Moment ebenso wenig verstanden.
„Ihr ward mit dem Typen im Fenster beschäftigt, da dachte ich, ich versuchs mal mit dem Putzeimer, Boss.“
Betty sah ein, dass sie unter Schock stehen musste. Ihr junger Kollege sagte Worte, aber die ergaben keinerlei Sinn. Da sie nicht wusste, was sie tun oder sagen sollte, starrte sie Hans einfach weiter an, bis eine Feuerwehrfrau auf sie zukam:
„Sie sind die Besitzerin der Bar, oder? Der Brand ist soweit gelöscht, da mussten wir nicht mehr viel tun. Ihr junger Kollege hier hat mit dem Eimer ganze Arbeit geleistet und die Umgebung des Brandes schön feucht gehalten. Dadurch blieben die isolierten Flammen klein genug, und konnten nicht auf die weiter weg stehenden Tische übergreifen. Die Möbel, die Feuer fingen, waren ja Gott sei Dank schnell verbrannt. Nur der Rauch hätte Ihnen gefährlich werden können. Sie sind alle noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Aber lassen Sie sich auf jeden Fall nachher noch im Krankenhaus auf Rauchvergiftung hin untersuchen. Sicher ist sicher.
Ich denke, alles in allem entstand der größte Schaden durch das Loch in der Wand. Dadurch ist das Gebäude vorerst nicht mehr betretbar. Ein Statiker wird sich die Sache die kommenden Tage anschauen, vermutlich muss das Gebäude abgerissen werden.“

Hans legte Betty einen Arm um die Schulter.
„Vielleicht setzt du dich besser kurz hin, Boss.“
Ohne Widerstand ließ sich Betty zur gegenüberliegenden Bordsteinkante führen und sank neben ihren Gästen nieder. Das schreiende Loch in der Wand der Bar ignorierte sie. Ihr Blick fiel auf ein unscheinbares Schild, das auf dem Bürgersteig lag. Leicht verrußt, aber intakt: 
Das Schmuckstück

Rauch auf der Straße
Photo by David Lee on unsplash

Das Schmuckstück (Teil 1)

von Carmen, Lesezeit um 5 Minuten

„Sei so lieb und gib uns nochmal drei Doppelte, Betty.“
„Gibt es denn etwas zu feiern, Jakob?“, Betty wischte kurz mit dem Lappen über den Tresen, bevor sie drei Gläser mit einer goldenen Flüssigkeit vor Jakob abstellte.
„Ich bin Vater geworden! Ein Junge! Ein gesunder kleiner Junge.“ Die Freude, aber auch die Erleichterung, war dem jungen Mann anzusehen. „Nach dieser Runde muss ich dann auch wieder weg. Helene wartet schon. Es war keine einfache Geburt, ich will bei ihr sein, wenn sie wieder aufwacht. Hier. Der Rest ist für dich.“
Überrascht nahm Betty das großzügige Trinkgeld an.
Sie genoss den heutigen Abend in ihrer Bar, in ihrem Schmuckstück.

Nach langen Monaten der Renovierung war heute Neueröffnung und sie hatte den perfekten Abend geplant. Sogar ihre ehemalige Aushilfe, der 16-jährige Hans, hatte sich bereit erklärt, einzuspringen, damit alles reibungslos verlief. Betty hatte viel Herzblut in den Umbau gesteckt. Alles, was sie selbst erledigen konnte, hatte sie auch selbst getan. Nur das Nötigste wurde an Handwerker outgesourct. Sogar das kleine Fenster, das mit Buntglas eine Szene des römischen Gottes Bacchus darstellte, hatte sie eigenhändig eingebaut. Es war das einzige Fenster der Bar, was Betty eigentlich ganz gut fand – dadurch konnte kein Licht der Straße die schön schwummerige Atmosphäre im Raum zerstören. Die Holztische waren alle einzigartig – auf Flohmärkten zusammengetragen, genauso wie die Stühle. Keiner sah aus, wie der andere – einige robuster, an anderen blätterte bereits die Farbe ab, manche hatten drei Beine, es gab Hocker ohne Rückenlehne. Das verlieh ihrer Bar einen besonderen, heimeligen Charme.
Auch an der Getränkekarte hatte sie lange gefeilt, bis sie zufrieden war.

Ganz besonders hatte sie sich über die überwältigende Rückmeldung ihrer Gäste gefreut, alles lieb gewonnene Stammgäste:
Hier war Jakob, seit Jahren ein treuer Gast. Betty hatte um die schwierige Schwangerschaft seiner Frau Helene gewusst und war froh, dass alles gut ausgegangen war. Dort, in der hinteren Ecke, war die Mädelsrunde, die sich vor der Renovierung immer dienstagabends nach der Arbeit getroffen hatte, und probierte sich durch die neue Cocktailauswahl.

Pünktlich um halb neun ging die schwere Eisentür des Schmuckstücks auf und Susanne und Gerald traten ein, ein Paar mittlerweile um die 45. Wie immer betrat Susanne die Bar zuerst, elegant in einen Pelzmantel gekleidet mit passenden, braunen Pumps. Sie blickte sich kurz um und steuerte den einzig freien Tisch in der Nähe des Eingangs an. Gerald, der Gentleman, hatte ihr wie üblich die Tür aufgehalten und beeilte sich, ihr zum Tisch zu folgen, um ihr dort den Mantel abnehmen und den Stuhl zurecht zu schieben.

„Schön, dass ihr gekommen seid“, begrüßte Betty sie, als sie die Kerze am Tisch anzündete, „wie immer?“
„Ja, gerne. Vielen Dank für die Einladung“, entgegnete Susanne, während sie den Burberry-Schal auszog und ihn säuberlich neben sich hinlegte. „Wir freuen uns sehr auf den Abend.“
„Ein Aperol-Spritz, ein Weißbier!“, rief Betty Hans über die Schulter zu.
Doch gerade, als sich Betty umdrehte, stieß sie mit Hans zusammen, der das „wie immer“ bereits in dem Moment zubereitet hatte, in dem Susanne und Gerald in der Tür erschienen waren. Beide Gläser fielen mit lautem Klirren zu Boden. Betty verlor das Gleichgewicht und stützte sich am wackeligen Holztisch ab, wodurch die Kerze gefährlich ins Schwanken geriet und … kippte. Auf den ordentlich gefalteten Burberry-Schal. Der fing sofort an, wie Zunder zu brennen.

Brennender Tisch
Photo by Claus Grünstäudl on Unsplash

Erschrocken sprang Susanne nach hinten und stieß dadurch sowohl Tisch als auch Holzstuhl um.
„Du Tollpatsch, kannst du nicht aufpassen?!“, herrschte Betty den erstarrten Hans an, selbst komplett überfordert. Gerald ergriff die Initiative und versuchte, den brennenden Schal auszutreten. Doch das Feuer war schon zu groß und fand in dem alten, trockenen Tisch und dem dürren Stuhl ein gefundenes Fressen. In Sekunden loderte es so hoch, dass den Vieren der Weg zur Eingangstür abgeschnitten war.

Mittlerweile war das Feuer bei den anderen Gästen nicht unbemerkt geblieben – doch auch die hatten keine Möglichkeiten mehr, zur Tür zu gelangen. Die Leute fingen an, durcheinander zu rufen.
„Wo ist der Feuerlöscher?“, schrie jemand. Betty lief es eiskalt den Rücken hinunter: den hatte sie bei den ganzen Vorbereitungen komplett vergessen. Einen Feuerlöscher gab es nicht.
„Wir müssen hier raus!“
„Helene, der kleine Tobi, oh Gott, der kleine Tobi wird nie erfahren, wer ich bin. Ich will raus, Helene, ich will raus.“
„Zum Fenster!“

Susanne erreichte das Fenster zuerst und fing an, wie wild daran zu zerren.
„Es öffnet nach außen, du musst es nach außen hin öffnen!“, schrie Gerald, während er sie gleichzeitig wegstieß. Susanne stürzte zu Boden und schrie auf, doch Gerald ignorierte sie. Der Rauch wurde immer dichter. Bettys Augen tränten, der Hals kratzte unerträglich.
„Das Fenster klemmt. Ich. Kann. Es. Nicht. Öffnen.“, keuchte Gerald.
„Spinnst du?! Du darfst auf keinen Fall das Fenster öffnen, wenn es brennt. Das weiß jedes Kind.“ Eine der Frauen aus der Mädelsrunde versuchte, Gerald wegzuziehen. Doch Gerald schob wie mühelos von sich: „Siehst du einen anderen Ausweg? Nein??? Du kannst gerne hier drin bleiben, aber ich gehe. Wenn. Es. Nur. Endlich. Aufginge!“ Damit lehnte er sich mit aller Kraft gegen das Fenster, das sich keinen Millimeter bewegte.
„Dann zerschlag es, du Idiot! Jetzt mach schon!“ Ein großgewachsener Mann aus Jakobs Freundeskreis zerrte Gerald vom Fenster weg, während Jakob mittlerweile apathisch an der Wand zusammengesackt war.
„Mein Sohn, mein kleiner süßer Tobi.“ Betty ahnte die Tränen auf seinen Wangen mehr, als sie sie noch sehen konnte.
Hinter sich hörte Betty ein metallenes Scheppern und schweres Keuchen. Ein Klirren lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn. Bacchus war in tausend Stücke zersprungen.
Mit einem Ruck hievte sich der Hüne nach oben und versuchte, dem beißenden Qualm zu entkommen. Tief atmete er ein, während er versuchte, seinen massigen Körper durch die enge Öffnung zu ziehen.

„Oh Gott, helft mir. Ich stecke fest!“

Hier geht es zu Teil 2 der Geschichte. Lies los!

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