von Carmen, Lesezeit < 5min
Agatha wurde in eine arme Familie geboren, die in einem ärmlichen Dorf lebte. Bis zur nächsten Stadt waren es mindestens sechs Stunden Autofahrt durch schmale Bergpässe, wenn es denn das Wetter überhaupt zuließ.
Agathas Familie schuftete rund um die Uhr auf ihrem kleinen Bauernhof und trotzdem reichte es oft nicht. Im Winter fror man, Kleidung wurde von der Mutter an die Tochter an die jüngere Schwester weitergereicht. Was Fremde als Schrott bezeichneten, wurde wiederverwertet, Dinge tausendmal repariert. Und weil man nichts hatte, gab man gerne und ohne Bedenken. Agatha wuchs in einer liebevollen Umgebung auf und spielte in jeder freien Minute mit den Nachbarskindern.
Die Mutter sagte oft: „Agatha, arbeite hart in deinem Leben. Sei fleißig. Dann wirst du es zu etwas bringen. Das ist dein Ticket raus aus diesem Dorf.“
Agatha nahm sich den Rat zu Herzen und klemmte sich hinter die Bücher. Die Grundschule beendete sie als Klassenbeste und durfte zu Verwandten in die Stadt ziehen und dort das Gymnasium besuchen. Auch hier war sie erfolgreich und gewann ein Stipendium der besten Universität des Landes, die sie summa cum laude abschloss. Doch seit ihrem Umzug zu den Verwandten in die Stadt sah Agatha die sie liebenden Eltern nur noch zu Weihnachten. Mit den Jahren fing Agatha an, das Dorf ihrer Kindheit zu hassen: Warum blieben die Eltern auf dem Hof, der doch nichts einbrachte außer Rückenschmerzen, rauen Händen und Geldsorgen? Warum musste sie es sich selbst so hart erarbeiten, hinaus in die Welt zu kommen? Wie konnten es sich ihre Eltern überhaupt erlauben, ihr so rein gar nichts bieten zu können? Die Eltern hatten es selbst so beschlossen und das, so Agathas Überzeugung, war ihr größter Fehler. Doch wie sture, stumpfsinnige Esel blieben die Eltern in diesem von Armut verseuchten Drecksloch.
Die Stimme ihrer Mutter klang jedoch weiterhin in Agathas Kopf, wie ein Motor, der sie antrieb: Sei fleißig, arbeite hart, sei fleißig, arbeite, arbeite, harte Arbeit, dein Ticket raus, dein Ticket, raus aus der Armut, raus aus dem Dorf, dein Ticket, arbeite.
Zurück – zurück wollte sie nie wieder.
Agatha nahm eine aussichtsreiche Stelle bei einer Bank an, arbeitete Tag und Nacht und häufte langsam aber stetig ein kleines Vermögen an. Aus den weihnachtlichen Besuchen wurden weihnachtliche Telefonate, doch auch die fielen irgendwann aus.
Die Freunde aus der Grundschulzeit ersetzt durch Studienfreunde, mit denen man feiern geht, ersetzt durch Kollegen und die dienstlichen Abendveranstaltungen.
Aus dem Studentenwohnheim wurde ein Appartement, wurde eine Maisonette-Wohnung, wurde ein kleines Anwesen am See mit eigenem Steg und leerem Gästehaus. Das Anwesen wurde von einem teuren Sicherheitsdienst überwacht, Kunstwerke hinter einbruchssicheren Vitrinen. Die Nachbarn unbekannt.
Die Spuren ihres alten Lebens verblassten zunehmend und wurden vom Schrott verschüttet.
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