von Jana, Lesezeit < 10 Minuten. 

Der Text ist ziemlich genau am 01. November 2020 entstanden und hängt lose mit der „Morgens vor/während Corona“-Reihe zusammen.

Und wieder ein Abschied, denkt sie, als die neuen Maßnahmen verkündet werden. Ein Abschied von wiedergewonnenen Freiheiten, wiedergewonnener Normalität. Aber was ist schon normal, normal ist längst überholt, normal ist das vorher und zum vorher geht es nicht zurück. Die Welt hat sich verändert, die Menschen haben sich verändert, sie selbst hat sich verändert. Erst schleichend, dann mit Wumms. Der Tag, an dem sie einfach nicht mehr aufstehen konnte, war nicht der Anfang des Problems, sondern das Ende. Ein Zwangsabschied vom Bisher und dann eine lange Pause. Not available at the moment, please call again later. Out of order. Rien ne va plus.
Und jetzt? Jetzt weiß sie langsam wieder, wie sich Sonne auf der Haut anfühlt, ein Lächeln an den Mundwinkeln. Wie sich die Muskeln bewegen beim Spazieren gehen. Wie es sich anfühlt, wenn Atem in den Körper strömt, wenn sich die Augen schließen und man einer inneren Ruhe lauscht und nicht vom lauten und hektischen Brüllen der eigenen Antreiber begrüßt wird. Sie hat ihr Leben wieder, ein kleines Stück davon. Und sie weiß, dass sie den Rest davon, der jetzt frei und offen ist, mit neuen Dingen füllen will. Dinge, die sich gut anfühlen. Dinge, die Sinn ergeben. Alles will, kein Muss. Das ist Luxus, das ist ihr klar, und die Zweifel, ob sie diesen Luxus verdient hat, laufen immer mit. Nur sie hat keine Wahl, sie kann nicht zurück, zurück hat nicht funktioniert.
„Ein „wie vorher“ wird es nicht geben.“ Der Satz hatte für Wochen die Medien bestimmt. Aktuell ist es ein „Lieber jetzt schlimm, als später schlimmer.“. Sie weiß nicht, was sie davon halten soll und im Moment fällt es ihr ohnehin schwer, dem Alltag zu folgen. Sie ist gerade kein Teil davon. Es ist ein Ausstieg auf Zeit, ein Ausstieg, den sie jeden Tag versucht zu genießen, soweit das eben möglich ist.
„Abschied heißt doch auch weitergehen“ sagt ein Lied, das sich irgendwann mal in ihre Festplatte geprägt hat. Abschied heißt Veränderung. Wenn etwas geht, kann etwas Neues kommen, also warum fühlt sie sich gerade so, als würde die Welt untergehen? Vielleicht sind es gerade zu viele Abschiede. Da ist der funktionierende Alltag, dem genau das Funktionieren zum Verhängnis wurde ist.
Da ist der Freund, der ihr die Freundschaft gekündigt hat. Sie würde still stehen, würde sich nicht genügend verändern. Sie wäre kein Mensch, den er um sich haben will. Nun, still stehen ist gerade alles, was sie kann. Die Veränderung würde kommen, sie will sie, kann sie schon vage riechen. Aber sie wird bestimmt nicht so, wie er es gerne hätte. Also ist es ein Abschied auf immer inklusive des Lochs in ihrem Herzen.
Dann noch der Abschied von der zurückgewonnenen Freiheit: die Freunde, die sie wieder umarmen konnte, der Cappuccino im Lieblingscafé, die Sonnenterrasse beim Italiener, das alles muss sie wieder hergeben, ein Abschied auf Zeit, aber ein Abschied.
Und zuletzt dieses Jahr, das so gute und so furchtbare Momente hatte und das sich in Kälte, Nebel und fallenden Blättern langsam auflöst. Keine Weihnachtsmärkte in diesem Jahr. Keine Lichterinseln, kein gemeinschaftliches Zelebrieren, um dieses Jahr zu einem guten Ende zu bringen. Ein Abschied, der neu inszeniert werden muss. Aber diese Inszenierung hat noch Zeit.
Erstmal ist November mit Allerheiligen und dem Gedenken an jene, die wir längst verabschiedet haben. Grabgestecke und ewige Lichter zwischen Halloween-Kostümen und Kürbissen. Eine seltsame Mischung, findet sie, während sie die Leute in der S-Bahn beobachtet. Ein kleines Mädchen ist da, vielleicht fünf Jahre alt, das laut zu ihrem Begleiter sagt: „Papa, ich bin immer noch traurig wegen der Mama.“ Der Satz könnte alles bedeuten. Doch das Grabgesteck auf ihrem Schoß, die plötzliche Stille im Zug, der Blick ihres Vaters sagen etwas anderes. Ihr Herz krampft sich kurz zusammen.
Abschied, überall, wo sie gerade steht und geht. Aber ihr eigener ist ein Abschied, um weiterzugehen. Welch unverschämtes Glück sie hat.